90 Tage Aotearoa
Unsere Reise begann im November 2015: Drei Länder, drei Kontinente und fünf Monate lang Zeit. Das größte Abenteuer war Neuseeland: Wir erkundeten das andere Ende der Welt 90 Tage lang mit unserem Campervan Cosmo.
Einen Monat, nachdem unsere Reise in Thailand begonnen hatte, kamen wir in Christchurch auf der Südinsel Neuseelands an. Hier verbrachten wir knapp eine Woche, bis wir alles organisiert hatten. Unser Wunsch war es, Neuseeland im eigenen Van zu erkunden – und wir hatten Glück: Nach drei Tagen trafen wir beim Backpackers Car Market ein australisches Pärchen, das einen Toyota Hiace, Baujahr 1994, verkaufte.
Sie hatten ihn Cosmo genannt, da er insgesamt vier Dachfenster hatte, und wir behielten den Namen bei. Sechs Tage nach unserer Ankunft in Neuseeland ging es endlich raus aus der Stadt, zusammen mit unserem neuen Zuhause auf Rädern. Erst einmal fuhren wir immer Richtung Süden. Unsere Route planten wir mit Hilfe der App Campermate, in der alle Arten von Campingplätzen, Lebensmittelläden, Büchereien etc. verzeichnet sind.
Hier beginnt die Geschichte, die ich erzählen möchte. Man sagt, als Gott die Welt erschuf, hatte er von jedem Land ein Stückchen übrig; und als er diese zusammensetzte, entstand Aotearoa („Land der weißen Wolke“), wie die Maori Neuseeland nennen. Nach nur zwei Tagen unterwegs wussten wir, was damit gemeint war: Innerhalb eines Tages hatten wir das Gefühl, durch mehrere Länder zu fahren. Wir kamen alle paar Kilometer durch andere Landschaften, innerhalb einer Stunde hatten wir Assoziationen von den unterschiedlichsten Orten. Es war unglaublich schön.
Nach einigen Wochen kam Routine in unseren Tagesablauf, alles hatte mittlerweile seinen Platz und Cosmo war zu einem richtigen Zuhause geworden. Wir standen jeden Morgen früh auf, um möglichst viel vom Tag zu haben, frühstückten, wuschen uns (im Fluss oder See, mit etwas Glück gab es fließendes Wasser), räumten den Van ein bisschen auf, schauten uns die Tagesroute an und fuhren los. Um wenigstens für ein kleines bisschen Weihnachtsstimmung zu sorgen, aßen wir abends Gingerbread, das wir aus dem General Store in Glenorchy mitgenommen hatten, und tranken dazu heißen Tee.
Wenige Tage vor Silvester setzten wir mit der Fähre auf die Nordinsel über. Die erste Woche verbrachten wir in Wellington, wo wir über Silvester blieben – aber obwohl uns Neuseelands entspannte Hauptstadt sehr gefiel: Es fühlte sich gut an, nach sechs Tagen wieder mit Cosmo weiter zu fahren und in der Natur zu sein.
Also ließen wir „the coolest little capital in the world“ nach fünf Tagen bei strömendem Regen hinter uns und machten uns kurz darauf über enge und kurvige Straßen mit high crash rate durch den Kaitoke National Park auf den Weg zum südlichsten Punkt der Nordinsel. Am frühen Nachmittag erreichten wir Cape Palliser.
Wir hatten gehört, dass man dort Seehunde in freier Wildbahn sehen kann – und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis die erste Kolonie aufrauchte. Der Kontrast zwischen der weißen Gischt, die meterhoch spritzte, wenn sie auf das dunkle Gestein der Felsen traf, und dem schwarzen Strand war wunderschön. Eine ganz besondere Ästhetik, nicht das typische Postkartenmotiv von weißem Sand, blauem Himmel und kristallklarem Wasser, sondern schroffer, ursprünglicher, unberührter. Und noch beeindruckender durch die vielen Seehunde.
Es war einer der schönsten Orte, an dem wir bisher waren. Wir übernachteten auf einem kleinen, kostenlosen Campingplatz etwa 7 km von den Seehunden entfernt. Vom Van aus erleben wir einen Bilderbuch-Sonnenuntergang mit Wellenrauschen im Hintergrund.
Es waren Momente wie dieser, die uns dankbar werden ließen und uns immer wieder aufs Neue daran erinnerten, dass es nicht selbstverständlich ist, am anderen Ende der Welt im eigenen Van zu liegen und vom Bett aus die Sonne im Ozean untergehen zu sehen. In der Nacht machten wir Bilder vom Sternenhimmel, wie so oft auf unserer Reise. Alles andere wurde völlig bedeutungslos, wenn man unter diesem beeindruckenden Sternenhimmel stand und sich winzig klein fühlte.
Wir erlebten in Neuseeland so viel und hatten jeden Tag unzählige neue Eindrücke, so dass es sich anfühlte, als wären wir schon viel länger mit Cosmo unterwegs. Gleichzeitig verging die Zeit unglaublich schnell. Plätze, von denen wir bisher nur im Reiseführer gelesen hatten und Orte, die wir nur aus Filmen kannten, bekamen nach und nach eine Bedeutung und wurden behaftet mit unvergesslichen Erinnerungen:
Durch unglaubliche Landschaften fahren, während im Hintergrund unsere Roadtrip-Playlist läuft. In eiskalten Seen und Flüssen baden. Jeden Morgen an einem anderen Ort aufwachen und nicht wissen, was der Tag bringen würde. Die endlose Freiheit, tun und lassen zu können, was man mochte, und nicht an einen bestimmten Ort gebunden zu sein.
Dem Regen auf dem Autodach zuzuhören. Den Roys Peak laufen und Lake Wanaka von oben sehen. Im Lake Wakatipu baden. Auf einem Campingplatz arbeiten, um zwei Nächte umsonst dort campen zu dürfen. An einer idyllischen Küstenstraße entlangfahren und in Glenorchy Eis essen, bevor es weiter geht zum Lake Sylvan Campsite. Ein provisorisches Fliegennetz bauen, um Ruhe vor den Sandflies an der Westküste der Südinsel zu haben. Beim Zähneputzen um den Van laufen, um nicht zerstochen zu werden. Sonnenuntergänge an den unterschiedlichsten Stränden erleben. Arme Ritter mit Blick aufs Meer essen.
Frühstücken mit Blick auf eine wilde Seehundkolonie. Am Lagerfeuer sitzen und den Funken zuschauen. Zwei Wochen in der Hawkes Bay verbringen und Menschen kennen lernen, die zu Freunden werden, und die man im Laufe der Reise wiedersieht. Den Forgotten World Highway entlangzufahren, der sich 150 km lang von Stratford bis nach Taumarunui zieht und teilweise – besonders im ursprünglichen Busch – genauso schön ist wie sein Name. Das Tongariro Crossing laufen – es ist schwer, die Schönheit und endlose Weite dieser Landschaft in Worte zu fassen oder in Bildern festzuhalten.
Im Pazifik schwimmen. Am Cape Reinga zwei Weltmeere aufeinandertreffen sehen – laut den Maori entsteht hier neues Leben und tatsächlich herrschte an diesem Ort eine ganz besondere Stimmung. Auf eine kilometerlange Sanddüne klettern. Am 90 Mile Beach vor Sonnenaufgang Muscheln suchen.
Bei einem Spaziergang durch einen Wald auf der Nordinsel von Tausenden Glühwürmchen umgeben sein: Nach und nach tauchen immer mehr Lichtchen der kleinen Larven auf. Sie spinnen hauchdünne, filigrane Fäden – Kunstwerke, die nur aus einer fragilen Kette aus winzigen Wasserperlen zu bestehen scheinen. Eine märchenhafte Stimmung und eines der beeindruckendsten Erlebnisse für uns beide. Und sich oft unendlich klein fühlen, während man zum Nachthimmel hinaufschaut, der über und über mit Sternen bedeckt ist.
Nach 90 Tagen erreichten wir Auckland, unsere letzte Station in Neuseeland. Der Abschied von Cosmo fiel nicht leicht, weil damit eine unvergessliche Zeit endete. Wir merkten, wie uns das Land am anderen Ende der Welt nach und nach immer mehr in seinen Bann zog und faszinierte: Meer, Urwald, karge Steinwüsten, schroffe Bergketten, strahlend blaue Seen, Gletscher, sanfte grüne Hügelchen, auf denen Schafe weideten…
Wir sammelten unzählige Momente, erlebten jeden Tag das Gefühl von Freiheit und füllten unsere Köpfe mit Begegnungen – so wurde aus zufälligen Namen mehr und kleine, unbekannte Orte auf der Weltkarte fühlen sich jetzt wie ein Zuhause an.
Die wichtigsten Dinge, die wir während der Zeit in Neuseeland lernten: Schätze das, was Du hast – egal ob es ein Wasserkocher, eine Spülmaschine oder eine heiße Dusche ist. Vertraue. Alles hat einen Sinn und für jedes Problem findet sich eine Lösung. Menschen sind das Wichtigste im Leben. Nutze die Zeit, die Du hast. Man braucht nicht viel, um glücklich zu sein.
Nach drei unvergesslichen, prägenden Monaten verließen wir Neuseeland und flogen über das größte Meer der Welt in den Frühling, an die Westküste der USA. In den Taschen tragen wir noch immer etwas Sand vom anderen Ende der Welt. Jedes Mal, wenn wir die Hände hineinstecken, rieselt es Erinnerungen.
Ein toller Reisebericht, der Lust darauf macht, einen ähnlichen Trip zu unternehmen! Toll geschrieben, wie ein Sog…
Vielen Dank für den wirklich schönen Reisebericht. Ich könnte sofort wieder los…
Zum Glück hat nicht jeder das Bedürfniss einen Bericht über eine gewohnliche Reise zuschreiben. Sonst würde man im Internet nichts anders mehr finden. Es ist spanned wenn man Reist um zu Endtecken und nicht um ausgetrampelte Pfade weiter auszutreten und dann als neue Erfindung darzustellen. Alles zum Zweck der Selbstdarstellung, traurig.
Zum Glück hat auch nicht jeder, der sich nicht für den Inhalt eines Artikels interessiert, das Bedürfnis, das kund zu tun. Sonst wäre auch davon das Internet voll.
Ich finde das Themenspektrum auf kwerfeldein sehr groß und freue mich darüber. Auch wenn das bedeutet, das immer wieder Artikel dabei sind, die mich nicht interessieren.
Ich find die Bilder und den Text super und hab mal wieder Reiselust. Ob das Ziel oder die Pfade ausgetrampelt sind oder nicht finde ich dabei übrigens wahnsinnig egal. Solange es den Reisenden interessiert, was er/sie sich anschaut ist doch alles gut.
Mann, die Welt ist verrückt! Menschen ertrinken for unseren Füßen zu Hunderten fast täglich, weltweit erleiden simplen Krankheiten oder verhungern, sprengen sich in die Luft oder laufen Amok… und andererseits 20-Jährige sind imstande, so viel Geld für „Fernweh und Losfahren“ auszugeben, wie einer durchschnitlichen Fluchtlingsfamilie für mehrere Jahre Überleben reicht… Fernweh, allein das Wort tut schon weh. „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ – sagte einst Adorno, doch ich bezweifle, dass dies nur Auschwitz betreffen sollte.
die Bilder sind ok… Urlaubserinnerungen halt – danke fürs Mitteilen (?)
So, das heißt also, nur weil es auf der Welt viel unschönes gibt, darf der Einzelne keinen Spaß mehr am Leben haben? Ja, vieles ist schlimm, aber wenn ich deswegen mein Leben mit Trauermine zuhause verbringen würde und all das beweine, dann kann ich mir doch direkt einen Strick nehmen.
Stattdessen empfinde ich Berichte wie diesen hier als Lichtblick unter all den miesen Nachrichten.
Aus Deinem Kommentar lese ich eher Neid als alles andere muss ich sagen. Das so eine Reise Geld kostet, scheint Dir ja sehr wichtig zu sein. Ja, das tut sie nun mal. Ja, die Reisenden scheinen das Geld zu haben, Ihr Leben so zu gestalten und es zu genießen. Ganz ehrlich? Würde ich auch, wenn ich es könnte. Das nennt sich Hobby. Zu leben heißt doch nicht nur, bis zu seinem Tod zu existieren, sondern was aus der Zeit zu machen. Ich liebe solche Reiseberichte, denn sie erzählen mir von dem Glück, das die Reisenden erlebt haben. Und das freut mich.
„Die wichtigsten Dinge, die wir während der Zeit in Neuseeland lernten: Schätze das, was Du hast – egal ob es ein Wasserkocher, eine Spülmaschine oder eine heiße Dusche ist. Vertraue. Alles hat einen Sinn und für jedes Problem findet sich eine Lösung. Menschen sind das Wichtigste im Leben. Nutze die Zeit, die Du hast. Man braucht nicht viel, um glücklich zu sein.“ – das muss man mal querlesen mit den Punkten, die ‚Versager“ angesprochen hat. Und dann weiß man Bescheid.
Vielen Dank für deine lieben Worte, Thomas!
Jeder sollte für sich selbst entscheiden, wie er sein Leben gestaltet – ich möchte meine Zeit sinnvoll zu nutzen und Erfahrungen sammeln, die mich weiter bringen und wachsen lassen, anstatt mich nur auf Negatives zu konzentrieren (wovon es sowieso genug gibt).
Schade, dass manche Menschen nicht zu verstehen scheinen, dass es bei so einer Reise nicht um Geld geht, sondern um Erlebnisse, die den eigenen Horizont erweitern. Das alles ist zwar irgendwo mit Geld verbunden, aber ich bereit, für Dinge, die mir wichtig sind, viele Monate arbeiten zu gehen, um anschließend einen Mehrwert dieser Form zu haben und eine Reise unternehmen zu können, die mich so sehr prägt wie diese.
„Reisen bildet“, sagt man ja. Inwiefern einsame Landschaften bilden, sei dahingestellt, ich hätte lieber Bilder von Menschen gesehen, gern auch Bilder von den anderen Kontinenten und nicht nur Neuseeland.
Trotz dieser Kritik: danke für’s Zeigen und Schreiben. Es hat eben nicht jeder denselben Geschmack und dieselben Erwartungen.
Wie schön, an Euren Eindrücken teilhaben zu dürfen! Die Baumfarne – wunderschön. Gab es Felspiktorgramme oder erhaltene Malereien der Maori?
Danke dafür, Arne
Danke für diesen Reisebericht. Er ist so schön geschrieben, dass man immer weiter lesen möchte und für einen Augenblick die Welt um sich vergisst, ganz eintaucht in das was ihr erlebt habt. Es ist großartig, wenn man die Gelegenheit nutzt und den Mut findet, eine solche Reise anzutreten. Und es ist schön, wenn man andere daran teilhaben lässt. Deshalb finde ich es sehr schade bis bedenklich, wenn Leute wie Paul – zum Zweck seiner Selbstdarstellung – einen solch unnötigen und überflüssigen Kommentar einstellen. Es gibt genügend Leser, die solche Berichte mit Genuss lesen und sich daran erfreuen. Natürlich gibt es viele Reiseberichte, aber man muss ja auch darauf achten, wie sind sie qualitativ gemacht und geschrieben – da gibt es Unterschiede.
An der Vielzahl der positiven Kommentare ist ja dann aber doch zu erkennen, dass der Bericht sehr gut ankommt. Und wenn Paul auf sich aufmerksam machen möchte, dann kann er sich evtl. eine andere Möglichkeit dafür suchen..:-)
Ach ja…noch eines: Versager wird ebenfalls wissen, warum er diesen Namen gewählt hat :-)
„Es gibt genügend Leser, die solche Berichte mit Genuss lesen und sich daran erfreuen.“ – Dazu oute ich mich! Toll geschrieben, und für mich mit der Hoffnung auf einen weiteren Bericht der Reise ;o)
…und gerade auch die Fotos zeigen, transportieren dieses Gefühl der Worte.
Insgeheim fange ich im Kopf schon an zu versuchen, unsere vergangene Islandreise auch in solche Worte zu fassen. Ich bin mal gespannt, ob es mit diesem „Vorbild“ klappt…
Sehr schöner Artikel und tolle Bilder. Jeder Reisebericht inspiriert Leute hinaus in die Welt zu ziehen und wir können dankbar sein, dieses Privileg zu haben. Und das schöne ist, dass die Welt auch in Zeiten des Internet nicht an Faszination verloren hat.