Drei Wochen dunkle Kälte
Es ist nun schon fast ein Jahr her, dass ich mit frischem Reisepass und Visum frühmorgens am Hamburger Flughafen stand. Ich habe einen großen Koffer bei mir, darin Klamotten für drei Wochen. Auf dem Rücken einen 10 kg schweren Rucksack gefüllt mit Metall, Glas und analogem Fotomaterial. Nach Russland soll es gehen, genauer gesagt nach St. Petersburg.
Ich warte vor dem Check-in noch auf die anderen sieben Teilnehmer des Projekts „Auszubildende nach Russland“, initiiert durch die Agentur „Arbeit und Leben Hamburg“. Wir haben uns beim interkulturellen Vorbereitungsseminar schon flüchtig kennengelernt.
Die anderen scheinen noch aufgeregter zu sein als ich selbst. Was wird uns dort erwarten? Was für Praktikumsplätze bekommen wir? Auf was für Leute werden wir dort treffen? Immerhin ist es ja schon Winter und St. Petersburg soll unglaublich kalt sein. Sagt man zumindest so.
Nach einem etwa dreistündigen Flug nimmt uns Julia in Empfang. Sie kommt von der empfangenden Einrichtung und wird uns während unseres Praktikums betreuen. Der Flughafen liegt ziemlich weit außerhalb der Stadt, sodass wir mit einem Kleinbus gefahren werden. Wir fahren direkt ins wunderschöne und anmutige Zentrum der Fünf-Millionen-Stadt, wo wir für drei Wochen in einem Hostel wohnen werden.
Schon beim Eintreten in den Innenhof bemerke ich, dass vieles der Stadt nur Fassade ist. Wir ziehen unsere Koffer durch den Bauschlamm des völlig heruntergekommenen Innenhofs, bis wir im Treppenhaus dann über Kabel steigen, unter Leitern von Bauarbeitern hindurchklettern und letztendlich von dem ganzen Putzstaub völlig weiß gepudert oben an der Rezeption ankommen.
Die Rezeptionistin und gleichzeitig Besitzerin des Hostels spricht kein Wort Englisch, dafür keift sie uns umso lieber auf Russisch an. Zum Glück ist Julia noch kurz da. Sie klärt für uns den nötigen Papierkram, wir müssen fast nichts machen. Super, das kann ich.
Ich teile mir mein Zimmer mit zwei anderen Jungs, angehende Schifffahrtskaufleute. Drei Betten und ein Tisch auf 8 m². Man muss sich also schon ganz gut riechen können, um für drei Wochen auf so engem Raum leben zu können. Zum Glück verstehe ich mich ziemlich gut mit den beiden, sodass wir nach einem kleinen nächtlichen Stadtrundgang mit Julia noch auf eigene Faust etwas unternehmen. Wir treffen uns mit einer Couchsurferin, die uns gleich in eine Bar mitnimmt.
Es scheint ein Geheimtipp zu sein, denn wir sind die einzigen Ausländer dort. Wir sind deutlich geschafft, leicht eingeschüchtert von den ganzen Informationen und den vielen neuen Eindrücken. Ein Blick auf die Karte und die Preisliste macht klar: Wir müssen erst einmal möglichst viel durchprobieren! Keine gute Idee…
Nächster Morgen. Die ganze Woche steht ein „soziokulturelles Programm“ auf dem Plan. Dazu jeden Morgen ein Sprachkurs. Ich kann mich in meinem ganzen Leben nicht erinnern, jemals so verkatert gewesen zu sein. In Russland gibt es in den Bars auch die sogenannte Hausmarke und das merkt man. Vor allem am Morgen danach.
Es ist kalt, sehr kalt. Mein Zustand macht es mir nicht einfacher, meinen Weg geschickt durch die großen und hektischen Menschenmengen bis hin zur Petrikirche zu finden, wo unser Russischkurs stattfindet.
Ich merke, dass ich heute nicht besonders aufnahmefähig bin. Ich kann zum Glück schon ein bisschen Russisch, für heute also nicht so schlimm. Während die anderen sich mit dem kyrillischen Alphabet quälen, bin ich überwiegend damit beschäftigt, meinen Magen zu beruhigen und nicht einzuschlafen.
Das Programm für die Woche ist vollgepackt mit touristischen Veranstaltungen. So versuche ich möglichst, nur die notwendigen und wichtigen Dinge mitzunehmen, um auch ein bisschen Zeit für mich selbst zu haben.
Das Zusammenleben in dem kleinen Zimmer funktioniert ziemlich gut. Wir erwischen uns des Öfteren dabei, wie wir noch an dem einen oder anderen Abend einen nächtlichen Spaziergang unternehmen. Egal wie kaputt und fertig wir abends auch sind, es zieht uns immer wieder nach draußen. Auch, weil wir wissen, dass es uns dann besser geht.
Dieses enge Kämmerchen mit der Blümchentapete, der Bettwäsche mit Leopardenmuster und nicht zu vergessen dem Mief von drei Jungs ist dann auf Dauer doch ein wenig deprimierend. Meine ersten Eindrücke der Stadt? Hektisch, schnell, einschüchternd, auf eine Art und Weise prunkvoll und elegant. Man spürt, dass hier nicht alles echt ist.
Während am Tage die zahlreichen aufwändig restaurierten Paläste, Kathedralen und Kirchen prächtig den Reichtum längst vergangener Zeiten repräsentieren, finden sich nachts hingegen vor allem arme Frauen, die auf ihren Pferden in den Straßen betteln. Sowieso: Obdachlose gibt es hier nicht, zumindest nicht bei Tageslicht. Und Menschen mit Behinderung schon gar nicht. Alles, was nicht im Zentrum gesehen werden soll, wird nach draußen an den Stadtrand abgeschoben. Ich kann nur erahnen, wie hier mit Diskriminierung von Minderheiten umgegangen wird.
Kulinarisch bleibe ich als Vegetarier ein wenig auf der Strecke. Viele russische Spezialitäten sind mit Fleisch zubereitet, sogar der bekannteste russische Salat Olivier. Wenn ich im Restaurant explizit nach einem vegetarischen Gericht frage, werde ich nur verständnislos und fragend angeschaut.
Zum Fotografieren bin ich bisher noch nicht so wirklich gekommen. Ich wusste ja, dass es oft dunkel sein würde, aber dass es auch nie wirklich hell wird, habe ich nun irgendwie nicht erwartet. Die Sonne geht um 10 Uhr auf und verabschiedet sich um 16 Uhr nachmittags bereits wieder – frustrierend.
Vielleicht sei an dieser Stelle einmal erwähnt, was ich überhaupt im Gepäck habe: Mich begleitet eine Pentax 6×7 mit 105 mm f/2.4, eine Mamiya M645 mit 80 mm f/1.9 und eine Minolta X-700 mit 50er, 35er und 28er Festbrennweiten.
An Filmmaterial habe ich Kodak Tri-X und für Farbe Kodak Portra dabei. Dazu noch verschiedene Sorten anderen Schwarzweiß-Materials, die mir freundlicherweise vom Fotolabor Jan Kopp gespendet wurden, um einen neuen Infrarotentwickler zu testen.
Weil ich sichergehen möchte, das ganze Zeug nicht umsonst mitgeschleppt zu haben, kontaktiere ich noch in der ersten Woche ein paar Modellagenturen mit Sitz in St. Petersburg. Wer weiß, vielleicht sitze ich bei meinem Praktikum ja auch nur im dunklem Büro? Als einzige Agentur meldet sich Aurora Model-Management bei mir, mit der ich dann auch schnell und unkompliziert zwei Termine ausmachen kann.
Auch die Suche nach geeigneten Tageslichtstudios stellt sich als sehr einfach heraus. Ich finde auf Anhieb zwei, die für europäische Verhältnisse unglaublich günstig sind und dennoch auf den Bildern sehr vielversprechend aussehen. Zum ersten Mal geht es mit meiner Laune wieder ein wenig bergauf.
Am Ende der ersten Woche erfahren wir endlich, in welchen Betrieben wir unser Praktikum durchführen werden. Mir wurde Juce TV vermittelt, ein junger Musikfernsehkanal. Ein flüchtiger Blick auf deren Internetpräsenz offenbart mir bereits: Jung, bunt, schräg.
Montagmorgens mache ich mich dann also auf zum Fernsehsender, ein bisschen weiter außerhalb des Zentrums. Die Metrostation Admiralteyskaya ist nur einen Katzensprung vom Hostel entfernt, dort angekommen geht es erst einmal in die Tiefe. Bestimmt 5 Minuten stehe einfach nur auf der Rolltreppe, die mich in ungewohnt raschem Tempo unter das aufwändige Kanalsystem der Innenstadt zu den Gleisen befördert.
Einmal umsteigen, noch einmal die Rolltreppe nach unten. Wie tief mag ich mich nun wohl unter der Erdoberfläche befinden? Kurze Zeit später komme ich an. Nach der erneuten Rolltreppenfahrt gen Oberfläche, die gefühlt länger dauert als die gesamte Bahnfahrt, suche ich nun die angegebene Adresse. Diese Hürde der Orientierungslosigkeit ebenfalls gemeistert, kommen mir auch schon zwei junge Typen entgegen, vollgepackt mit Taschen und Stativen.
„Du bist David?“
„Ja.“
„Okay, dann lass uns los!“
Völlig perplex quetsche ich mich in den heruntergerockten Honda, der mit fünf Leuten voll besetzt ist. Eingepfercht zwischen Jacken und Equipment versuche ich, ein Gespräch aufzubauen und herauszufinden, was hier eigentlich passiert. Meine beiden Kollegen heißen Ilia und Dima, die neben der Arbeit für den Sender Juce TV die Produktionsfirma Juce Production gegründet und sich damit seit ein paar Monaten selbstständig gemacht haben.
Die beiden sprechen bis auf ein paar Worte kein Englisch, sodass ich nur erahnen kann, was wir heute machen. Ein Musikvideo soll es werden, mit im Auto sitzt der Musiker und Protagonist Vladimir. Wir fahren weit raus, in einen Außenbezirk am Finnischen Meerbusen.
Dort ist ein riesiger zugefrorener See mit angrenzendem Waldgebiet zu finden, wo wir unseren ersten Halt machen. Was für ein schöner Ort. Ich fühle mich frei. Unser zweiter Halt ist direkt am Meer. Der eiskalte Meerwind pfeift mir um die Ohren, aber das ist mir egal.
Während Ilia, Dima und Vladimir am Strand drehen, laufe ich auf den riesigen zersplitterten Eisplatten Richtung offene See. Ich bin überwältigt von der Schönheit der eisigen Weite und der gefühlten Freiheit. Dann geben die Batterien in meiner Kamera den Geist auf. Also zurück Richtung Festland.
Die drei haben mittlerweile ein altes Holzboot gefunden, das sofort als Requisit im Film eingesetzt wird. Noch verstehe ich die Story hinter dem Musikvideo nicht. Vorher läuft Vladimir mit einer alten Karte und einer Spitzhacke durch die Gegend, wühlt den Boden hier und da ein bisschen auf.
Jetzt ein kleines Licht, das er unter dem Boot am Strand findet, angeblich damit die Welt retten kann und daraufhin entgeistert versucht, das Boot auf’s Meer hinauszuschieben. Naja, okay. Erst als ich später das fertige Video sehe und damit den Song zum ersten Mal höre, verstehe ich, dass Vladimir gegen Krieg und Völkerhass singt. Ich für meinen Teil könnte nach meinem ersten Tag nicht glücklicher sein und schlafe auf der Rückfahrt mit einem Grinsen auf der Rückbank ein.
Der Rest der Woche sieht weniger spektakulär aus. Ich verbringe die meiste Zeit mit Ilia und Dima in ihrem kleinen Büro, eine Straße vom Fernsehsender weiter.
Dort lerne ich auch Arina kennen, eine Moderatorin des Senders. Kleine Dreharbeiten für Beiträge und deren Schnitt werden mich die nächsten Tage beschäftigen. Wenn wir unterwegs sind, betreiben die drei dermaßen viel Schabernack, dass es mir schon beinahe unangenehm wird. Der russische Humor ist eben doch noch eine ganze Ecke anders.
Aber da war ja noch die Geschichte mit den beiden Modellen von der Agentur: Für den ersten Termin hatte ich das Studio Mel gemietet. Ich treffe mich mit Lesia davor und auch hier bin ich wieder froh, dass jemand für mich dolmetschen kann. Ich merke allmählich, dass man hier mit Englisch allein nicht wirklich weit kommt.
Beim Betreten der Räumlichkeiten geht mir zunächst eins durch den Kopf: Dunkel. Wie bereits erwähnt, die Sonne geht erst um 10 Uhr auf, das heißt aber noch lange nicht, dass es zu dem Zeitpunkt auch schon hell ist.
Ich wusste zuerst nicht, was ich aufgrund der Lichtverhältnisse tun sollte und habe etwas zögernd und verlegen den ersten Film in meine Minolta eingelegt. Mit der wird das schon gehen, bei Blende 1.4 und, naja, 1/15 s Verschlusszeit. Und das direkt am Fenster. Obwohl ich mich unsicher fühle, fangen wir an, die ersten Bilder zu machen.
Auch beim nächsten Termin mit Valeria, dem zweiten Modell, sieht es ähnlich problematisch mit den Lichtverhältnissen aus. Dieses Mal sind wir im Studio-212, das für einen lächerlichen Preis überaus großzügige Räumlichkeiten anbietet. Doch trotz der riesigen Fenster bin ich mit meinen Verschlusszeiten am Limit.
Da die Verständigung aufgrund fehlender Englischkenntnisse nicht immer sehr einfach ist, laufen beide Sessions sehr ruhig und still ab. Gerade das hat mich im Nachhinein fasziniert, da die Kommunikation scheinbar auf einer noch anderen Ebene stattfindet. Ebenfalls spannend ist, dass beide Mädels mir am Ende sagen, was für eine schöne und angenehme Erfahrung das gewesen sei. Ich sei der erste Fotograf, der sie so natürlich, schlicht und „leise“ fotografiert hat.
Mit dem Feedback der Modelle und dem Abenteuer am Finnischen Meerbusen im Gedächtnis trete ich schon fast wehmütig meine Rückreise an. Natürlich bin ich froh, nach drei Wochen mit zwei anderen auf engstem Raum nach Hause zu kommen und wieder ein bisschen mehr Platz und Freiraum zu haben.
Aber gerade jetzt, wo es draußen wieder kälter wird, sehne ich mich tatsächlich nach der bedrückenden Kälte, den schmierig-dreckigen Straßen, dem ranzigen Bier, der lustigen Gesellschaft und natürlich nach der mit der Dunkelheit einhergehenden Melancholie des russischen Winters.
Ich sehne mich nach diesen unangenehmen und herausfordernden Situationen, die mir im Nachhinein das Gefühl geben, um eine Erfahrung reicher zu sein. Dazu habe ich mit meinen russischen Kollegen zwei neue Freunde gefunden, mit denen ich mich hoffentlich schon bald wieder treffen werde.
Die Stadt hat mich mit ihren Gegensätzlichkeiten in ihren Bann gezogen und die Idee der nächsten Reise lässt mich seitdem nicht mehr los.