Schrei nach Veränderung. Eine Wegbeschreibung.
Es ist Weihnachten 2005. Meine Freundin drückt mir ihre Digitalkamera in die Hand und bittet mich, ihre Familie zu fotografieren. Ab jetzt wird sich mein Leben von Grund auf verändern.
Die nächsten fünf Jahre lerne ich zu fotografieren. Ich möchte Landschaftsfotograf werden. Und die Bilder von David Nightingale und Kathleen Connally inspirieren mich dazu.
Meine Bilder werden stetig populärer. Auf Flickr und in meinem Fotoblog flattern die Kommentare nur noch so herein und 50 Favoriten pro Bild sind die unterste Grenze.
Ein Bekannter meint: „Dein Selbstbewusstsein muss ja von Tag zu Tag wachsen.“
Ich liebe das. Diese Dramatik. Der nicht abreißende Strom lobender Hymnen auf „meine“ Landschaften. Menschen schreiben mir, dass sie heute an mich gedacht haben, weil der Himmel so blau war wie auf meinen Fotos.
Doch ab 2009 werde ich dem überdrüssig. Ich hinterfrage das, was ich tue und merke, dass ich eigentlich gar keine Lust mehr auf Landschaftsfotografie habe. Und dass die Kommentare für mich nicht mehr das sind, was sie einst waren.
Die Situation schreit nach Veränderung.
2010 traue ich mich und beginne, mich ganz der Straßenfotografie zu widmen. Das fühlt sich richtig an. So angenehm alltäglich. Unaufgeregt. Doch ich hänge immer noch am Lob der anderen und reagiere verletzt, wenn mich jemand kritisiert.
Ich denke immer wieder über die Frage der Persönlichkeitsrechte nach, lese viele Artikel dazu und hole mir Rat von anderen Straßenfotografen. Obwohl es unpopulär ist, entscheide ich mich dafür, zu fotografieren. Menschen mit Gesichtern.
Ich möchte außerdem weg von all dem Aufgeregten. Ich habe mich satt gesehen an Bildern, bei denen alles stimmt und es sich gerade deshalb so anfühlt, als ob überhaupt gar nichts stimmt.
Und 2013 stelle ich fest, dass ich immer noch an den Sternen und Kommentaren der Leute hänge. Werden meine Bilder gemocht, geht es mir gut, wenn nicht, bekomme ich schlechte Laune.
Irgendetwas mache ich falsch. Es kann doch nicht sein, dass ich mich bis zum Ende meines Lebens von den Vorlieben anderer Menschen derart kontrollieren lasse.
Dazu fühlt sich alles an wie festgefahren. Mir fehlen die Ideen. Die Wertschätzung der Fotografie.
Stopp. Halt. Momentchen, Martin. Mach Dich nicht verrückt. Wer sagt denn, dass Du bis in alle Ewigkeiten so weitermachen musst?
Also nehme ich mir eine Auszeit und veröffentliche drei Monate lang kein einziges Foto. Dem Hunger nach Liebe durch Bestätigung wird jetzt erst einmal ein Ende gesetzt.
Dabei bin ich noch genauso oft draußen. Und suche in der Stadt nach Motiven. Bearbeite Bilder, speichere sie ab und… lasse sie auf der Festplatte schlummern.
Entschleunigt. Ent-emotionalisiert. Entspannt.
Durch diese Arbeitsweise bin nicht sofort der Kritik anderer Menschen ausgesetzt. „Das schärft den eigenen Blick ungemein“, meint eine weise Person und ich spüre, dass sich das für mich als Wahrheit herausstellt.
So fotografiere ich in aller Seelenruhe vor mich hin. Und merke von Tag zu Tag, dass sich in mir etwas öffnet, das ich bisher gar nicht kannte. Es ist unendlich und irgendwie tief.
Und auf einmal sehe ich Möglichkeiten, die ich zuvor noch nicht einmal im Ansatz bedacht hatte. Ich wechsle meine Kameras, probiere jetzt mehr aus und hänge nicht mehr so sehr daran, meinen Stil zu finden.
Meine Bilder verändern sich. Und: Ich verändere mich.
Und mir wird klar: Ob meine Bilder heute oder morgen gemocht werden, ist mir mittlerweile sehr, sehr unwichtig geworden.
Im Gegensatz dazu wird der Wunsch stärker, etwas Bleibendes zu schaffen.
Karlsruhe – meine Heimatstadt – zu dokumentieren und damit Menschen, die die Fotos in 30 Jahren sehen werden, das Gefühl zu geben: „Ah, früher sah Karlsruhe so aus. Siehst Du die Baustellen? Die Fußgängerzone? Die Pyramide? Schau mal hier, so haben sich die Menschen damals gekleidet.“
Ich möchte etwas tun, was über den jetzigen Moment hinaus geht. Darüber hinaus, ob Leute nun meine Fotos liken oder in der Luft zerreißen. Ob sie die Bilder loben oder sie grässlich langweilig finden.
Eine neue Vision
Es ist das Ende des unbewussten Tauschhandels: Ich poste ein geiles Bild und Ihr liket es dafür und schreibt mir, wie geil das Bild ist.
Nach den drei Monaten beginne ich erneut, Bilder zu posten.
Mein Kopf ist frei geworden. Frei vom Trubel des Internets. Frei von der Sehnsucht nach Dramatik und Anerkennung. Es ist etwas Neues entstanden. Eine neue Vision. Ein neuer Weg.
Jetzt ist Dezember und ein neues Jahr bricht an. Im Bauch kribbelt es, wenn ich daran denke, was ich noch alles entdecken kann.
Und wenn ich wieder bemerke, dass irgend etwas nicht stimmt, werde ich mich wieder zurückziehen. Vielleicht ist auch das meine Art, mit den Dingen umzugehen.
Das klingt nach einem Start in ein neues Fotojahr, der besser nicht sein könnte. Meine Hochachtung und meinen Glückwunsch!
Vielen Dank für diesen unspektakulären, spektakulären Beitrag.
Habe ihn richtiggehend genossen.
Das erschwerende meiner Meinung daran ist, das man, um zu dieser Erkenntnis zu kommen, deinen vorhergehenden Weg zwingend durchschreiten muss.
Und das schöne daran, dass das Ende noch lange nicht geschrieben wurde.
LG Bodo
„Und das schöne daran, dass das Ende noch lange nicht geschrieben wurde.“
Bei mir läuft der Prozeß immer noch weiter.
Reduzieren der Favarotien und verfolgte User auf dieser ehrlichen Basis hat mir selber weitergeholfen. Außerdem das Buch von A.Feininger „Das ist Fotografie“
LG
Mihayil
Ein fettes *danke* für diese schönen abschliessenden Worte zum Jahr 2013 :).
Ja, eh. Man sollte für sich selbst und nicht für die anderen fotografieren (und schreiben und leben …). Außer es gefällt einem andersrum.
Ja so ist es , mit dem veröffentlichen von Bildern… und dem „nicht-veröffentlichen“
Schöne Gedanken und passend als Neuanfang im neuen Jahr.
Viele Grüße Jürgen
ja an so etwas habe ich auch schon mal gedacht danke fürs niederschreiben und den denkanstoß
Das alles wirkt auf mich eher wie Selbstüberschätzung und sich-selbst-zu-wichtig-nehmen. Zurückhaltung sieht jedenfalls anders aus ;)
Respekt und viel Freude 2014.
Schöner Artikel!
Ich merke selber immer wieder, wie sehr mich das Feedback beeinflusst und wie es mich ärgert wenn es ausbleibt. Gleichzeitig ärgert es mich, dass es mir nicht egal ist. Vielleicht ist der einzige Weg daraus sich wirklich mal zu entziehen… Danke für die Anregung! :)
Hallo Martin
Schönes Résumé – danke dafür. Ich kann deine Gedanken sehr gut nachvollziehen und erkenne mich darin auch selber. Wünsche dir ein gutes 2014.
antonio
Hi Martin,
weil ich weiß, dass du feedbacks jetzt mit andern Augen liest: sehr schöner Artikel!
Karoline
Ist ein schöner Ansatz für 2014.
Interessante Selbstbeobachtung.
Ich bin glücklicherweise völlig immun was Kommentare
und Wertschätzungen meiner Fotos angeht.
Kenn ich gar nicht.
Überhaupt nicht.
Bedeutet mir nix.
Nada.
Und nun: Klickt auf meinen Flickr-Stream und faved und commented… :-)
Absolut ehrlich.
Toll – etwas besonderes zum Jahresausklang und für Dich zum Jahresbeginn…
Das sind wirklich sehr persönliche und wahre Worte, denn nur das was man liebt oder was einen wirklich interessiert, wird man auch richtig gut machen. Danke für diese Zeilen und alles Gute im neuen Jahr!
Tja Martin, dein Artilkel regt mich zum philosophieren an! Nachgedacht und schlüssig geworden, versuche ich es mal mit diesem Satz: Sei wer Du bist und fotografiere, was Du fühlst. Bedenke dabei, dass die, die das stört nicht zählen und diejenigen, die zählen, es nicht stört.
Danke, Martin für dein stetes Engagement! Beste Wünsche zum Jahreswechsel, ab und zu dasjenige Licht welches du dir vorgestellt hast.
Danke und alles Gute weiterhin. War ein tolles Jahr mit Euch.
Hallo Martin,
dein Artikel erinnert mich daran, warum ich eigentlich, lang ists her, begonnen bin kwerfeldein regelmäßig zu lesen. Leider macht er mir auch deutlich was ich die letzte Zeit ein wenig vermisst habe:
Deine philosopisch angehauchten (aber doch mit praktischem Touch geschriebenen) Beiträge.
Dazu ein lang hinfälliges DANKE!
Und natürlich Frohes Neues! Auf das es noch interessanter werde als die Vorhergehenden.
Jeder, der seine Bilder ins Internet stellt, möchte, dass sie gemocht werden, sei es nun aus Eitelkeit oder weil ein berufliches Motiv dahinter steckt. Darum wird man sich auch immer nach guten Kritiken sehnen. Immer!
Chronist seiner Stadt/Gegend/Heimat zu sein, ist für einen Fotografen ein gutes aber nicht immer ganz einfaches Projekt, weil man seine über die Jahre entstandene subjektive Sichtweise erst einmal vergessen muss, um vorurteilsfrei an die Sache herangehen zu können. Wenn man das aber schafft und dann auch noch das rein Dokumentarische überwindet, findet man mit seinen Bildern sicher auch bei den Flickrianern in Japan, Ohio oder in Pinneberg Anerkennung.
Frohes neues Jahr euch allen,
Henry
First World Problems…: Ich lese gern kwerweltein, aber die Melodramatik hier finde ich völlig unangebracht. Trotzdem viel Glück auf deinem „neuen“ Weg.
Sollte natürlich „feld“ heißen.
Schöner Artikel, auch wenn die Quintessenz für mich noch ein wenig unsicher scheint. Ich finde es ist unheimlich schwer sich fotografisch zu finden, das geht meiner Meinung noch am ehesten wenn man sich selbst erst einmal als Mensch findet.
Es gibt so viele Gründe warum man zur Kamera greift. Anerkennung ist natürlich ein schöner Nebeneffekt aber ich finde, wer aus purer Anerkennung zur Kamera greift der bleibt für immer auf der Stufe eines Amateurs. Da sollte für mich viel mehr dahinterstecken. Fotografie sollte mehr sein als Anerkennung.
Fotografie ist im 21 Jh. an einem Punkt der Beliebigkeit angekommen. Wir werden jeden Tag überschwemmt mit Bilderfluten, vor allem auch im Internet auf den gängigen Fotoportalen und Social Networks, jede Menge seelenlose Fotografie. Eine Beschleunigung der Bilderschaffung erschafft für mich diese Beliebigkeit, den Tot der Fotografie.
Deshalb finde ich es gut, dass du für dich selbst erkannt hast, dass ein Weg zu besseren Bildern (für dich und nicht für andere) eine Entschleunigung ist. Bei der Entschleunigung hast du dir zeitgleich gedanken gamacht was du überhaupt fotografieren möchtest.
Die Internetlobhudelei ist wie eine Droge. Ich würde sogar sagen das ist schon eine Form der Internetsucht. Der Fotograf hängt wie ein Junkie an der Internet-Nadel und wartet auf den nächsten positiven Kommentar-Schuss. Diese Sucht lässt einen vergessen was man selbst möchte.
Man sieht das eine Landschaftsfoto hat besonders viele gute Kommentare bekommen, also wird beim Fotografieren immer die Schwemme an Kommentaren mitschwingen, man lässt sich als Fotograf von den Kommentaren leiten. Das ist dann ein Teufelskreis, weil die meisten Kommentare von eben solchen Fotografen (oft auch Amateuren) kommen die auch in diesem Teufelskreis gefangen sind.
Irgendwann entwickelt sich dadurch dann eine Art Regelwerk, welche Fotos die meisten positiven Kommentare bekommen. Blauer Himmel… Ja alle wollen einen verdammten blauen Himmel haben wie du es schon angesprochen hast. Ja dann dreh ich doch ein wenig am Farbkanalregler und geb dem Blau einen Sättigungspush und alle sind zufrieden, aber ist man selbst zufrieden? Wollte man denn so einen unnatürlich blauen Himmel auf seinem Foto haben.
Ich finde es schön wenn jemand entscheidet wieder für sich zu fotografieren und nicht für andere. Ich fotografiere neben meinen Fotojournalismusstudium Hochzeiten. Aber das heißt doch, dass ich für den Kunden fotografiere und nicht für mich?! Jain. Ich fotografiere z.B. lieber wenig Hochzeiten, dafür gebe ich den Großteil vor. Will der Kunde mich buchen, muss er damit klarkommen, dass ich z.B. seine Haut nicht glattbügel, dass ich eine radikale Form der Fotoreportage benutze, dass ich erst ab 8 Stunden fotografiere. Will der Kunde mich als Fotograf verändern, dann sage ich ihm, dass er sich lieber einen anderen Fotografen suchen soll.
So verliere ich nicht die Leidenschaft und Liebe zur Fotografie.
Blogartikel dazu: Eine Stadt in Bewegung | apographon