Time Travelers: Zurück in die Kindheit
In ihrem Projekt „Time Travelers“ unternimmt die Fotografin Petra Gerwers wortwörtlich eine Zeitreise: zurück in die Kindheit. Sie bat die Teilnehmenden um ein Kinderbild sowie einen Brief an das frühere Selbst zu schreiben. Die Verbindung zum Heute schafft sie durch Schwarzweißportraits der Teilnehmenden. Im Interview wollte ich mehr über die Idee wissen und erfahren, wie Petra Menschen für eine so persönliche und intime Arbeit gewinnt.
Hallo Petra, was war zuerst da: Das Portrait, das Kinderbild oder der Brief?
Zuerst hatte ich die Idee des Briefes und des dazu passenden Kinderbildes. Ich fragte mich, wie ich eine weitere erzählende Ebene in die Portraits bringen könnte und die Fotos an Kraft gewinnen würden – und so hatte ich irgendwann die Vision von Zeitreisenden, die aus dem Fenster schauen, während sich für sie bedeutende Dinge in der Scheibe spiegeln.
Hatten die Teilnehmenden eine Vorgabe?
Ja, ich habe die Themenbeschreibung und Aufgabenstellung jeweils zu Beginn vorgestellt. Die Aufgabe zum Brief war:
Erinnere Dich an Dich selbst in Deiner Kindheit und stelle Dir eine Situation vor. In diesen Moment kommst Du als Erwachsener zum Kind, das Du damals wart.
Was hätte das Kind gerne von Dir gewusst / erfahren.
Daraufhin begannen einige bereits zeitnah, ihren Brief an das innere Kind zu formulieren. Andere wiederum haben daran bis kurz vor Druckabgabeschluss gearbeitet. In der Zwischenzeit haben wir das jeweilige Portrait erstellt – hierzu sollten sich die Zeitreisenden überlegen, was ihnen persönlich wichtig ist: was in ihrem Leben war schicksalswendend, von starker Bedeutung oder kraftgebend?
Der entsprechende Ort, Gegenstand oder Mensch sollte sich in der Scheibe spiegeln, hinter dem der jeweilige Zeitreisende stand. Reflexion bekommt hierbei also eine doppelte Bedeutung. Während einige das Kinderbild sofort schickten, hatten andere Mühe, überhaupt an eines der Fotos ihrer Kindheit heranzukommen.
Hat Dich überrascht, wie persönlich und offen die Briefe sind?
Ja und nein. Bei einigen Teilnehmenden habe ich das durchaus erwartet, einfach weil ich sie bereits näher oder seit längerer Zeit kenne. Andere haben mich sehr überrascht – allen voran war es der Brief von Rolf Scheider, der mich emotional besonders berührt hat. Andrea Lüdke hat mich in ihren Prozess und ihre Fragestellungen, die dadurch aufgeworfen wurden, mit einbezogen – ich durfte sie dabei ein Stück begleiten. Spannend finde ich zu sehen, dass letztlich alle aus ihrer Kindheit gestärkt hervorgegangen sind.
In fast allen Briefen geht es um negative Gefühle und Erlebnisse der Kindheit. Es sind Warnungen und Mutmacher an das frühere Ich. Erinnern wir uns nur an das Schlechte im Leben?
Das denke ich nicht. Im Gegenteil, ich glaube, dass wir das Negative eher verdrängen. Wir erinnern zum Beispiel eher den wunderschönen Sonnenuntergang und die Lieder am Lagerfeuer – als die schmerzenden Blasen, die wir uns vielleicht nach einer langen Wanderung dorthin zugezogen haben.
Sich bewusst an das Lebensgefühl der Kindheit zu erinnern und den damaligen Schmerz zuzulassen – und mit ihm zu kommunizieren, das hilft, dieses Kind im Nachhinein zu umarmen. Hin zu spüren, wie stark wir bereits als Kind waren – und den ehemaligen Ängsten entgegenzutreten. Wir haben in der Regel erfahren: Alles ist bzw. wird gut! Insofern geht es in den Briefen letztlich nicht nur um negative Gefühle – es geht meist auch um deren Auflösung.
Du hast Dich auch selbst für Dein Projekt portraitiert. War das das erste Bild?
Nein, es war das vorletzte Bild. Ursprünglich war geplant, dass ich es mit einem Selbstauslöser umsetze, während mein Mann auf die Kamera aufpasst. Leider ließ sich das (aus vielerlei Gründen) nicht so einfach gestalten und so hat es letztlich mein Mann Thomas aufgenommen.
Es gab drei unterschiedliche Themen, die für mich gepasst hätten: das Meer, Arles oder Paris. An all diesen Orten haben wir versucht, es passend zu gestalten. Aber ja: Es ist nicht einfach, die Aufgabenstellung gut umzusetzen, besonders wenn ich als Fotografin eine gewisse Vorstellung habe. Am Ende passte es dann in Paris am besten – und ja: Sich selbst auf einem Foto zu sehen, löst sehr vieles aus. Insofern kann ich die Prozesse der anderen absolut nachempfinden.
Ich habe meinen Brief und die Suche nach Kinderbild und Foto zeitlich nach hinten geschoben, mich zunächst auf die anderen Zeitreisenden konzentriert.
Du hast vorrangig andere Fotograf*innen und Kreative für Dein Projekt gewonnen. Warum und wie hast Du die Menschen ausgewählt?
Der Grund ist naheliegend: Ich bewege mich hauptsächlich im kreativen Umfeld. Durch meine Arbeit als Onlineredakteurin begegne ich zudem regelmäßig anderen Kreativen. Ich agiere einfach entsprechend meines Bauchgefühls: Wenn ich mein Gegenüber als spannend und tiefgründig erlebe – und wenn ich von meinem Projekt erzähle, achte ich auf die entsprechende Reaktion. Ich frage nach, sobald ich spüre, dass es passen könnte.
Gab es auch Absagen, weil Menschen während des Prozesses gemerkt haben, dass ihnen das Projekt zu persönlich ist?
Ja, tatsächlich. Eine männliche Person benannte das auch genauso. Er ließ sich zunächst auf das Projekt ein. Nach zwei Wochen sagte er ab: Er merkte, dass das Thema zu viel auslöste – und er dafür zu diesem Zeitpunkt noch nicht bereit war.
Ein anderer Protagonist meinte, diese Fragestellungen bislang bewusst umgehen zu wollen – beteiligte sich zwar am Projekt, hielt den Brief jedoch entsprechend kurz. Zwei weitere Personen schafften es aus zeitlichen Gründen bislang nicht, teilzunehmen. Und wieder ein anderer reichte weder Brief noch Kinderbild nach. Auch das ist ein Statement, denke ich. Überwältigend war, dass ansonsten fast alle bereit waren, sich auf das Projekt einzulassen. Ich denke, die Fragestellung löst sofort Bilder im Kopf aus – und schon beginnt die Reise.
Du hast in diesem Jahr das Projekt erstmalig in Köln ausgestellt. Wie waren die Rückmeldungen?
Ich möchte in diesem Zusammenhang erwähnen, dass die Zeitreisenden ihr finales Portrait bis dahin nicht kannten. Schon vor sieben Jahren hatte ich die Vision von riesigen Portraits, die als Installation auch frei im Raum hängen sollten – und dem Moment, wenn die Zeitreisenden „sich selbst“ dort begegneten. Das war natürlich ein Wagnis.
Michael Horbach habe ich ebenfalls auf meiner eigenen Lebensreise kennengelernt. Wir haben ihn für unser Magazin ProfiFoto interviewt und kamen recht schnell in tiefere Ebenen – so fragte ich ihn, ob er Teil meines Projektes werden wolle. Er sagte zu. Später kam dann die Idee, in den Räumlichkeiten der Michael-Horbach-Stiftung auszustellen. 25 Banner (3 m lang, 1,32 m breit) benötigen Raum – und so konnte ich 300 m² für die Ausstellung nutzen.
Spannend war für mich, dass sich schon während der Vernissage das Publikum die Zeit nahm, wirklich jeden einzelnen Brief der Zeitreisenden zu lesen. Obwohl wir ein schönes Rahmenprogramm anboten, das natürlich etwas Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
Und deren Fazit: Begeisterung, Gänsehaut, ein paar verdrückte Tränken, Rührung, Mitgefühl – und letztlich bei vielen gar die Idee, sich zuhause selbst einen Brief schreiben zu wollen. Einige der Zeitreisenden erinnerten sich an ihren Brief an sich selbst nicht mehr, waren davon berührt – und würden diesen Brief Jahre später wohl wieder anders formulieren. Ich denke, ich habe erreicht, was mir wichtig war: Menschen mit diesem Projekt in Bewegung zu bringen und zu berühren.
Natürlich durchlebte ich auch einige Zweifel auf dem Weg bis zu diesem Punkt: Würden die Portraits das ausdrücken und vermitteln, was mir wichtig war? Würden sie standhalten und Menschen erreichen? Denn klar: Die Briefe und die Kinderbilder waren ja die Aufgabe meiner Zeitreisenden. Sie in starke Portraits zu manifestieren – das war letztlich meine fotografische Leistung, die ich zu erbringen hatte.
Die „Feuertaufe“ habe ich glücklicherweise bestanden. Eine Portfoliosichtung des DfA war ein weiterer Baustein zum Fundament – auf das ich das Projekt auch zukünftig setzen möchte: Es wird fortgesetzt und ausgebaut. Ich plane, es auch im Ausland auszustellen. Außerdem möchte ich ein Buch herausgeben, das derzeit nur als Dummy existiert. Immerhin kann man den Ausstellungskatalog in Magazinform (in dem alle 25 Zeitreisenden portraitiert sind, nebst Briefen und Kinderbildern) erwerben.
Was hast Du durch die Arbeit an der Serie für Dich selbst gelernt?
Dem roten Faden zu folgen, auch wenn Hindernisse sich in den Weg stellen! Mein Projekt dauerte bisher sieben Jahre. Es gab Zweifler und eigene Zweifel – aber allem zum Trotz eine Vision! Dieser folgte ich letztendlich, auch wenn das Projekt mir wirklich viel Zeit, Energie, Kommunikation und natürlich auch Kosten abverlangte.
Ich habe zudem gelernt: Ich darf Menschen um Unterstützung bitten! So kam es, dass Canon, Leica und WhiteWall das Projekt förderten, wofür ich unendlich dankbar bin. Nicht zuletzt, weil mir diese Partner damit vermittelten: Sie glauben an das Projekt.
Informationen zum Ausstellungskatalog
„Time Travelers. My inner child and me“ von Petra Gerwers
Sprache: Englisch
Einband: Softcover
Seiten: 148
Maße: 22 x 28 cm
Verlag: Eigenverlag
Preis: 39,99 €
Ein paar Exemplare kann man zum Sonderpreis von 30 € direkt bei der Fotografin bestellen.