16. November 2021 Lesezeit: ~10 Minuten

Distanz statt Nähe: Katharina Sieverding wird 80

Katharina Sieverding gehört zu den bedeutendsten deutschen Künstlerinnen der Gegenwart. Seit den sechziger Jahren entwickelt die Beuys-Schülerin ihr Werk – ihr Hauptausdrucksmittel ist die Fotografie. Als mythisch und magisch sind die Monumentalformate Sieverdings beschrieben worden, als dramatische Antithese zum nüchternen Realismus Bernd und Hilla Bechers.

Es ist die Abstraktion des eigenen Bildes, welche die 1944 in Prag geborene Künstlerin immer wieder vorantreibt. Dabei stellt sie bedeutende Fragen, nämlich etwa die nach dem Bild hinter dem Bild. Und natürlich die grundlegende Frage nach dem Selbst, das seinen Ort in der Gesellschaft findet und von gesellschaftlichen Konditionen geprägt ist.

1967 bis 1972 studiert Katharina Sieverding nach einem Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg an der Kunstakademie in Düsseldorf bei Joseph Beuys. Im Gegensatz zu Beuys und ihren Kommilitonen und Kommilitoninnen experimentiert Sieverding ausgiebig mit den technischen Medien Film und Fotografie, welche sie als „Ausweg aus der Vorherrschaft der Kunstgeschichte der Vergangenheit in neue Bereiche der Identifikation, Haltung und Methoden der künstlerischen Praxis als Künstlerin“ begreift.

zwei verfremdete Gesichter

Katharina Sieverding, Transformer Cyan Solarisation 5 A/B, 1973/74, Farbfotografie, Acryl, Stahlrahmen, 2-teilig, je 190 x 125 cm, © Katharina Sieverding, VG Bild-Kunst; Fotos © Klaus Mettig, VG Bild-Kunst

Interessanterweise war Sieverding vor ihrem Studium bei Beuys Regieassistentin bei Fritz Kortner und Assistentin des Bühnenbildners Teo Otto, bei dem sie an der Kunstakademie in Düsseldorf seit 1964 auch Bühnenbild studiert hat. „Ich hatte die Idee vom Gesamtkunstwerk, das heißt, die Verbindung von Sprache, Literatur, Bild, Raum und Performance“, so Sieverding. Über das Theater findet sie den Weg in die Bildende Kunst – und Spuren dieser Ausbildung bleiben gerade am Anfang ihrer Karriere deutlich sichtbar.

Immer wieder bringt Sieverding das eigene Antlitz in die Kunst ein. Ihre Konzentration auf das eigene Gesicht, vor allem auch auf die Augen, bedeutet ein Nachdenken über das eigene Ich, ein Reflektieren über die eigene Identität. Immer wieder wiederholt sie dieses Sujet auf experimentelle Art und Weise: Sie greift in chemische Prozesse ein, manipuliert bei der Bildentwicklung, benutzt Filter, arbeitet mit Solarisationen, Schichtungen und Montagen, lässt die eigene Physiognomie in immer neuen Farben schillern, arbeitet mit Negativen, mit Variationen der Mimik, mit Schminke, Goldstaub, mit Kostümen, mit Accessoires wie Masken.

Oft zeigt sich die Künstlerin streng und unnahbar – doch hat die Bearbeitung des Negativs auch bisweilen autodestruktiven Charakter. Aspekte der Schönheit mischen sich mit Gewalt und Zerstörung. Auffällig sind die oft langen, komplexen Wege zum fotografischen Ergebnis. So entstanden etwa 1973 die androgyn-maskenhaften Selbstporträts der Serie „Die Sonne um Mitternacht schauen“ am Passfotoautomat, um dann reproduziert und als Ektachrome-Dia weiterbearbeitet zu werden.

Zwei verfremdete Gesichter

Katharina Sieverding, MATON SOLARISATION F-XVII und F-XVIII, 1969 Farbfotografie, Acryl, Stahlrahmen Color photograph, acrylic, steel frame, je/each 190 × 125 cm © Katharina Sieverding, VG Bild-Kunst Bonn 2021 Foto: © Klaus Mettig, VG Bild-Kunst Bonn 2021

Mit dieser Fixierung auf den eigenen Körper, das eigene Gesicht, war Katharina Sieverding in der Kunst der siebziger Jahre nicht allein: Einen überaus bedeutsamen Beitrag zur Fotokunst der siebziger Jahre leisteten genau jene Künstler und Künstlerinnen, die sich aufmachten, den eigenen Körper ins Zentrum ihres fotografischen Blicks zu stellen.

Die schonungslosen, oft sehr provokanten Selbstinszenierungen von Jürgen Klauke, Valie Export, Anna und Bernhard Johannes Blume, Katharina Sieverding oder Dieter Appelt, allesamt sind sie Vorläufer vieler zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen. Genauso etwa wie die Amerikanerin Cindy Sherman, die schon Ende der siebziger Jahre mit ihren „Untitled Film Stills“ den Beginn der postmodernen Fotografie markierte.

Anfang der siebziger Jahre beginnt Katharina Sieverding, mit technisch komplexen Mehrfachprojektionen zu arbeiten, mit Überblendungen des eigenen Gesichts und das ihres Partners Klaus Mettig, mit der Verschmelzung des Männlichen und Weiblichen hin zu einem unscharfen Dritten. Der Transvestit oder „Transformer“ (so auch der Titel verschiedener Installationen Sieverdings) war eine damals fesselnde Gedankenkonstruktion.

Der Typus des Transvestiten wurde in dieser Zeit zu einem Negativhelden, zu einer Figur der künstlerischen Subkultur, zu einer antibürgerlichen Stilfigur, die in der populären Kultur wie in der Bildenden Kunst häufig anzutreffen war. „Mit der Arbeit ‚TRANSFORMER‘ habe ich etwas zeigen wollen, das für mich interessanter ist: Es geht um das humane Wesen, das sowohl das Weibliche wie das Männliche in sich inkorporiert hat“, so Sieverding.

Collage aus vielen Bildern

Katharina Sieverding, TESTCUTS I, 1966–1972 Digitaldruck/Digital print, 328 x 440 cm © Katharina Sieverding, VG Bild-Kunst Bonn 2021 Foto: © Klaus Mettig, VG Bild-Kunst Bonn 2021

Das Thema der eigenen Identität spielt Katharina Sieverding bereits sehr früh überlebensgroß durch. Sie war eine der ersten Künstlerinnen, welche seit dem Jahr 1977 das große Format in der Fotografie wählte. Sieverding: „Damals, als ich mit diesen ‚Großfotos‘ in den 70er Jahren anfing, war dies ein Affront für viele. Aber für mich war und ist es notwendig, dass bei diesen politischen Inhalten eine Auseinandersetzung und Anteilnahme von Kopf bis Fuß stattfinden kann.“

Stets wirken diese Reflektionen zur eigenen Identität auch aufgrund ihrer Größe bedrohlich oder überwältigend. Immer wieder hat Sieverding betont, dass es ihr in ihren Selbstportraits um Kritik an gesellschaftspolitischen Realitäten geht. Vor allem die Zeit in der Klasse von Joseph Beuys prägt ihr politisches Denken. Der Tod Benno Ohnesorgs ist der direkte Anlass, bei Beuys studieren zu wollen, erinnert sich Sieverding.

In ihren Selbstzeugnissen betont Sieverding stets die politische Dimension ihrer Selbstporträts. Immer wieder hinterfragt sie in diesen Bildern Normen, Klischees und Wunschvorstellungen. Das Politische, so Sieverding, ist dem Selbstporträt explizit eingeschrieben. Genauso, wie die Frage nach Moral und politischer Verantwortung. Eine in diesem Zusammenhang bedeutsame Arbeit ist der „Stauffenberg-Block“ aus dem Jahr 1969: rötlich-glänzende Selbstportraits, Aufnahmen aus einem Passbildautomaten, die Sieverding erneut abgelichtet hat. Anschließend verwandelt sie die Bilder in Negative, solarisiert sie und bearbeitet sie weiter durch Rotfilter.

Diese monumentalen Arbeiten zeigen die Künstlerin als eine Art Ikone ihrer Zeit in strenger Frontalität. Der Titel der Arbeit deutet die entscheidende Frage an: Wie können wir uns als Angehörige der Täter-Nation noch ins Gesicht schauen? Sieverdings ganz eigener Weg in der Fotokunst – geschult unter anderem an der amerikanischen Pop-Art – ist auch deshalb bemerkenswert, weil ihr Lehrer Beuys im fotografischen Medium nicht mehr sah als ein reines Mittel der Dokumentation.

Mehrfachbelichtung: Augen und ein Mensch mit dem Rücken zur Kamera

Katharina Sieverding, ENCODE XIV, 2006 Farbfotografie, Acryl, Stahlrahmen Color photograph, acrylic, steel frame 275 × 375 cm

Im Gegensatz zu Beuys erkennt Sieverding aber die Möglichkeiten des Mediums. Das Prozessuale, das Experimentieren, die Arbeit mit offenem Ergebnis – all das findet sie in New York und den USA, wo sie seit 1972 bis 1988 immer wieder längere Studienaufenthalte absolviert und Künstler wie Andy Warhol, Jack Smith oder Jons Mekas kennenlernt.

In den folgenden Jahren bleibt das Selbstporträt im Schaffen von Katharina Sieverding bedeutsam: 1982 etwa entsteht die Reihung „Nachtmensch“: Nur das geblitzte Gesicht der Künstlerin ist zu sehen, vor dunklem Hintergrund, in strengen Posen. Nicht Nähe stellt Sieverding in ihren Selbstporträts her, sondern, im Gegenteil: Sie schafft Distanz. Je näher wir ihrem Bild – oder besser: den filmisch anmutenden Reihungen von Bildern – kommen wollen, umso mehr entfernen wir uns von ihr.

Wir sehen mal silbern, dann rötlich oder gelb glänzende Bilder eines Geistes, einer Ikone, eines Götterbildes. Rätselhafte Fotografien, die um das eigne Ich kreisen, ohne etwas davon preiszugeben. Es ist von Katrin Bettina Müller darauf hingewiesen worden, dass es tatsächlich die Frage ist, ob Sieverding in ihren Selbstporträts an einer „Konstruktion von Stärke“ arbeitet, „die dem Subjekt wie ein Schutzschild vorgehalten wird“.

Ausstellungsraum

Ausstellungsansicht – Katharina Sieverding Die Sonne um Mitternacht schauen – Museum Frieder Burda (c) Katharina Sieverding/VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Konstruktion von Stärke, die Rhetorik des Monumentalen, durchzieht Sieverdings Werk als Ganzes. Unabhängig vom politischen Impetus, von der Anschlussfähigkeit an Themenfelder wie Gender, Identität oder die deutsche Geschichte, ist Sieverdings frühes fotografisches Werk, ist diese andauernde, serielle Selbstbefragung in ihrer Ästhetik überaus bedeutsam in der Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten der Fotografie als dezidiert subjektives, transformatorisches Bildmedium.

Ihre seriellen Arbeiten, die mit Hilfe von Mehrfachbelichtungen, Überblendungen, Schichtungen, Überlagerungen und diversen experimentellen fotografischen Techniken entstehen, ziehen Einflüsse genauso aus den experimentellen Mitteln der Fotoavantgarde der Vorkriegszeit wie aus der amerikanischen Pop-Art oder auch aus Stilmitteln von Werbung und Medien.

Katharina Sieverding GEFECHTSPAUSE II 2020 Digitaldruck 295 x 500 cm © Katharina Sieverding, VG Bild-Kunst Bonn 2021 Foto: © Klaus Mettig, VG Bild-Kunst Bonn 2021 GEFECHTSPAUSE II 2020 Digitaldruck 295 x 500 cm © Katharina Sieverding, VG Bild-Kunst Bonn 2021
Foto: © Klaus Mettig, VG Bild-Kunst Bonn 2021

Gänzlich neu – in einer Zeit, in der die Fotografie noch nicht lange als Medium der Kunst wahrgenommen wurde – war Sieverdings Idee, ihre Bilder ins dramatisch anmutende Monumentalformat zu vergrößern, was zu ihrer Popularität auch beim großen Publikum beiträgt. Bereits 1972 war sie auf der documenta 5 zu sehen – der Anfang einer bedeutenden internationalen Karriere.

Bis zum 9. Januar zeigt das Museum Frieder Burda noch die Schau „Die Sonne um Mitternacht schauen“. Die von Udo Kittelmann in enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin kuratierte Ausstellung spannt einen Bogen durch alle Werkphasen von Videoarbeiten vom Ende der 1960er-Jahre über die bildgewaltigen Selbstporträt-Serien der 1970er-Jahre bis hin zu gegenwärtigen Produktionen. Diese umfassen auch neue Arbeiten wie das aktuelle Werk „Gefechtspause“, das sich mit dem Lockdown während der Corona-Krise beschäftigt. Heute, am 16. November feiert Sieverding ihren 80sten Geburtstag.

Informationen zur Ausstellung

Katharina Sieverding: Die Sonne um Mitternacht schauen
Zeit: 28. August 2021 – 9. Januar 2022
Ort: Museum Frieder Burda, Lichtentaler Allee 8B, 76530 Baden-Baden