analoge Mehrfachbelichtung mit Akt und Haarbüschel auf Landschaft
02. Juli 2021 Lesezeit: ~15 Minuten

Im Gespräch mit Julie Hamel

Kleine Zufälle führen oft dazu, dass wir an dieser Stelle herausragende Menschen vorstellen können, die uns sonst wohl für immer unbekannt geblieben wären. So stolperte ich völlig unverhofft während der Recherche für einen anderen Artikel über die Künstlerin Julie Hamel.

Sie verbindet in ihrem Werk nicht nur alternative und experimentelle fotografische Prozesse mit Naturmaterialien, auch darüber hinaus fanden wir viele gemeinsame Anknüpfungspunkte. Im Interview sprachen wir über das Leben als kreative Pflanze, den Schwarzschild-Effekt und die Allgegenwärtigkeit von Beziehungen.

Stillleben mit Tierknochen, Libelle und Blüten auf einem BlattStillleben mit Tannenzapfen und Vögeln

Hallo Julie! Danke, dass Du Dir die Zeit für ein Interview nimmst. Zuerst, erzähl uns doch einmal etwas über Dich: Wer bist Du und was machst Du?

Mein Name ist Julie Hamel und obwohl ich schon überall in den USA gelebt habe, ist der Nordosten mein Zuhause. Als kleines Kind hatte mein Vater einen Teil unseres Kellers in eine Dunkelkammer umgebaut. Ich kann mich daran erinnern, wie Alufolie kleine Fenster bedeckte und Bilder aus dem Nichts auftauchten. Erst in einem Fotografie-Kurs am College verstand ich, was in diesen frühen, inzwischen vagen Erinnerungen tatsächlich vor sich gegangen war.

Ich nutze die Fotografie nun seit über einem Jahrzehnt als künstlerisches Medium und habe erst früher in diesem Jahr meinen Master of Fine Arts erhalten. In meiner Arbeit tendiere ich dazu, über das ganze Spektrum von digital bis analog hinwegzugleiten, um arbeitsintensive, handgefertigte Bilder mit alternativen Entwicklungsprozessen zu schaffen. Meine Arbeiten selbst reflektieren den größeren Kontext von Belichtung, Zeit und Sensibilität, während sie gleichzeitig das Ab- oder Anwesendes repräsentieren, das visuell oder emotional sein kann.

Mehrfach-Lochkamera-Aufnahme Innenraum

Mehrfach-Lochkamera-Aufnahme Innenraum

Mehrfach-Lochkamera-Aufnahme Innenraum

Welche Rolle spielen die Fotografie und Kunst im Allgemeinen in Deinem Leben? Nach dem, was ich bisher gesehen habe, hast Du da nicht einfach rational einen Beruf gewählt, den Du um 17 Uhr im Büro lässt, wenn Du gehst.

Da hast Du mich erwischt. Wäre ich eine Pflanze, stünde in meinen Pflegehinweisen so etwas wie: „nur wenig Licht, mit viel Kreativität gießen“. Mein Hauptberuf ist auch im künstlerischen Bereich angesiedelt, was aber daran liegt, dass ich den kreativen Teil meines Gehirns scheinbar nicht abschalten kann. Auch, als ich einen Bürojob hatte, suchte ich immer wieder Möglichkeiten, Kunst dort hinein zu schmuggeln.

Menschen, die etwas am besten beim Hören verarbeiten, also auditiv Lernende, haben oft Musik an und verbal Lernende nehmen das meiste beim Sprechen und Lesen auf. Ich bin von Natur aus eine visuelle Lernerin, deshalb sortiere ich sozusagen alles um mich herum ständig wie durch Linsen für Farbe, Komposition und Licht. Ein ständiges Aufnehmen.

Zuhause sind meine Wände voller handgefertigter Originalkunstwerke; darin sind viele Arbeitsstunden gerahmt und aufgehängt, um mich daran zu erinnern, was ich für wichtig erachte. Kunst und Ausdruck sind zutiefst menschlich, ich kann mir keine andere Lebensweise vorstellen.

Kind im Wasser mit Libelle auf der Stirn

Wonach suchst Du in Deiner Fotografie?

Ich arbeite sehr viel im Moment. Zwar kann ich passende Orte suchen, planen und alle Details zusammenstellen, doch am Ende kommt es immer darauf an, was für mich in dem Augenblick visuell oder emotional funktioniert, wenn ich dann kreiere. Ich suche nach Ausgewogenheit, das kann ein Tonumfang sein oder einfach die Möglichkeit, sich mit dem Blick durchs Werk zu bewegen, ohne steckenzubleiben.

Wenn ich etwas immer wieder ansehen muss, dann weiß ich, dass es funktioniert. Wenn ich mich anstrenge, in dem, was ich kreiere, etwas zu suchen. Die erfolgreichsten Bilder sind die, zu denen man immer wieder zurückkommt, was aus meiner Sicht auch ein Gleichgewicht in der Beziehung zwischen den Betrachter*innen und der Kunst ist. Mit Bildern, die sich einem langsamer öffnen, kann man länger zusammenleben – es gibt immer noch etwas, das sie kommunizieren können.

Mädchen zwischen Baumstümpfen, auf denen Vögel drapiert sind

Kinderarm um Baumstamm mit VogelnestMädchen mit flatterndem Huhn im Arm

Wenn ich mir Deine Arbeiten anschaue, sehe ich eine Vielzahl von Dualitätsaspekten: Nicht nur den von Betrachter*in und Kunst, auch analog und digital, Zeit und Raum, Abwesenheit und Präsenz, kurze Momente und lange Zeitspannen. Am offensichtlichsten wird es in Deiner Serie „Altered Negatives“, in der jedes Bildpaar zwei Teilen ähnelt, die einander brauchen, um ein Ganzes zu sein.

Ja, wenn es einen roten Faden in meinen Arbeiten, durch alle Medien hinweg, gibt, dann ist es das Thema Beziehungen: Zueinander, zur Natur, zu Momenten, zu Orten und so weiter. Ich denke, dass all die Dualitäten, die Du erwähnt hast, mit diesen intimen Interaktionen zu tun haben.

Am Ende läuft es darauf hinaus, zu erwägen, wie jede einzelne unserer Verbindungen dynamisch und fließend ist, sich im Laufe der Zeit verändert; die Geschwindigkeit, Nähe oder Körperlichkeit dieser Assoziationen. Alles ist in einem ständigen Zustand von Ebbe und Flut, eine immerwährende Erwägung, wie wir diese Beziehungen sehen und charakterisieren.

Schwarzweißfoto mit Kreisen auf einer Schaufensterpuppe vor einem Fenster

Schwarzweißfoto mit Kreisen

Was meine Serie „Altered Negatives“ betrifft, so steht mein Interesse an der Lochkamerafotografie im Zusammenhang mit der Frage, was der Schwarzschild-Effekt für das Medium bedeutet. Da man mit Belichtungszeiten von mehr als einer Sekunde arbeitet, muss das berücksichtigt und für eine sinnvolle Belichtung berechnet werden.

Wenn das Silberhalogenid, aus dem die Filmemulsion besteht, auf den Lichteinfall reagiert, wird es mit der Zeit weniger lichtempfindlich und braucht dadurch eine längere Belichtungszeit, um die gewünschte Belichtungsintensität zu erreichen. Während dieser ausgedehnten Belichtung befindet sich der Film in einem konstanten Zustand der Empfindlichkeit. Was für eine passende Metapher für Beziehungen oder auch deren Ende.

Mit einer Lochblende aufzunehmen, führt zu einem verzogenen Raum inner- und außerhalb der Kamera. Ich könnte innerhalb eines dreidimensionalen Raumes arbeiten, was mit traditionellen 4×5-Rückteilen unmöglich ist. Manipulationen innerhalb der Kamera und das Übereinanderschichten von Film und Objekten wurde für mich zu einer Möglichkeit, eine Verbindung zu schaffen, die unweigerlich wieder durchtrennt wird.

Während der Arbeit in der Dunkelkammer werden Gegenstände, die dem Film anhaften, zersetzt oder verschwinden, sodass sich Fragen darüber aufdrängen, was anwesend ist und was fehlt. Solche Momente sind es, die mich überraschen und mein Interesse an jeder einzigartigen Interaktion wecken.

Landschaft mit KreisausschnittenLandschaft mit Kreisausschnitten

Kannst Du mehr über Deinen Arbeitsprozess erzählen? Bisher scheint er sowohl starke Aspekte des intuitiven Arbeitens im Moment als auch konzeptionelle Ansätze zu haben.

Ich habe immer etwas Bestimmtes vor und ein fast klares Bild davon, was ich visuell erreichen möchte. Allerdings ist es wichtig, in jedem Augenblick flexibel zu sein. Das Licht mag anders sein, ein Zweig zu hoch oder eine Gliedmaße kann sich nicht so bewegen wie es geplant war. Dieses ständige Lösen von Problemen ist ein wichtiger Teil meines Arbeitsprozesses.

Für mich muss es ein „Verfahren“ geben, damit es erfolgreich sein kann. Auf diesem Weg kann es glückliche Zufälle geben, doch diese haben normalerweise die Form von Schritten hin zu etwas Größerem. Meine Hände müssen in das, was ich mache, involviert sein, sei es stundenlanges Bearbeiten in Photoshop oder das blinde Manipulieren eines Films im Dunkeln, noch bevor die Fotografie überhaupt belichtet ist.

Je mehr von mir ich in die Bilder hineinarbeiten kann, desto mehr hilft es der Diskussion darüber, wie etwas über einen entscheidenden Moment hinaus kreiert werden kann. Mit einem Werk zusammen zu sein, bevor und während es erschaffen wird, erzeugt eine natürliche Verbindung, sodass man nach der Fertigstellung weiter bei ihm sein möchte.

Das ist es auch, was mich interessiert, wenn ich die Kunst anderer Künstler*innen betrachte. Wenn Zeit und Sorgfalt in etwas investiert wurde, empfinde ich beim Betrachten der Werke auch einen entsprechenden Respekt. Es hat dann mehr von einer Zeitleiste oder sogar einem Leben als ein Schnappschuss – gemacht, nicht nur aufgenommen.

zwei durchsichtige Bilder in Holzrahmen

Das ist etwas, was ich in der zeitgenössischen Kunst und insbesondere an Künstler*innen beobachte, die sich in den sozialen Medien allein durchschlagen: Es geht nicht nur um das Kunstwerk an sich und das, was es zeigt. Es geht immer mehr um die Person hinter der Arbeit, ihre Ansichten und was wir über die Entstehung der Arbeit wissen. Oft sehen wir sogar Schritte der Entstehung, die in der Vergangenheit nicht zugänglich gewesen wären.

Ich habe definitiv auch bemerkt, dass in der Kunst das Handgemachte zunimmt. Da sich die Technologie in Kameras, dem 3D-Druck und anderen Bereichen so stark weiterentwickelt hat, denke ich, dass viele Künstler*innen sich wieder stärker auf ihre eigenen Hände zurückbesinnen, um in dieser Welt voll massenproduzierter Ware persönliche und beeindruckende Werke zu erschaffen.

In der Vergangenheit ging es bei einem Druck darum, die Fotografie in der Dunkelkammer zu perfektionieren. Man hat sich nicht so sehr damit beschäftigt, wie viel davon aufgehellt oder abgedunkelt, gefiltert oder retuschiert wurde, es ging eher um Ehrfurcht: Ein Zuschauersport, Menschen und Orte zu sehen, zu denen man nicht selbst reisen konnte.

Nun, mit einem viel größeren Zugang zur Welt, dank moderner Verkehrsmittel und dem Internet, denke ich, dass sich das Interesse der Menschen verschoben hat. Sie wollen jetzt viel stärker eine Verbindung zur Arbeit herstellen oder etwas über die Künstler*innen wissen. Es geht um ein erweitertes Verständnis über das Visuelle hinaus.

Pinsel neben dem Bild eines Hörnchens

Mausfünf handgefertigte Pinsel

Als leidenschaftliche Sammlerin neige ich dazu, Objekte mit Menschen zu assoziieren. Ich mag den Ansatz, dass es bei Kunst um die Person geht, die ein Werk geschaffen hat und um ihren Weg zum Austausch, den wir der über das Werk führen – der über das hinausgeht, was an der Wand hängt.

Die Blicke hinter die Kulissen, die Künstler*innen jetzt viel öfter mit uns teilen, erlaubt uns auch, ein tieferes Verständnis und eine größere Wertschätzung für ihre Werke zu empfinden. Ich denke, dass der Herstellungsprozess selbst einen großen Teil dessen ausmacht, was es bedeutet, schöpferisch tätig zu sein.

Zum Beispiel habe ich mich für eine Serie von Tierportraits, an denen ich gearbeitet habe, dazu entschlossen, die Cyanotypien zu tönen, um die Farben zu verändern. Ich hätte einfach mit Kaffee, Tee oder einer Reihe anderen üblichen Substanzen tönen können, habe mich aber für Tannine aus Eicheln entschieden, um die Verbindung von Futterquelle und Konsument einzubeziehen. Die entstandene Ästhetik mag ähnlich sein, doch die Verbindung zum Werk ist dadurch tiefer.

Ich finde es wirklich spannend zu beobachten, wie Künstler*innen in diesen sozialen Räumen kreieren und kommunizieren. Wie sie anderen ihre Arbeitsprozesse zeigen, die sich sonst nur hinter verschlossenen Ateliertüren abspielen und von nur wenigen anderen gesehen werden würden.

Hörnchen auf einem Ast

Vogel an einem Baum

Zum Zusammenhang zwischen Nahrungsquelle und Verbraucher*in: Welche Rolle spielt das Land in Deiner künstlerischen Praxis? Schon der erste Blick auf Deine Webseite, mit dem Vogeltriptychon am Eingang, offenbart eine tiefe Verbundenheit mit der Natur und ihren anderen Geschöpfen.

Ich hatte das Glück, aufzuwachsen, bevor sich viele der modernen Technologien durchgesetzt hatten. Kletterte ständig auf Bäume oder sprang in Seen – diese Verbindung zum Land und all ihren Bewohner*innen war von klein auf ein Teil von mir. Alle Objekte, die meine Aufmerksamkeit erregten, wanderten in meine schmutzigen Taschen.

Diese ganzen Dinge – Stöckchen, Frösche, Pilze, Federn, Muscheln oder Knochen – waren für mich einfach magisch. Wie kann es möglich sein, dass Vögel fliegen? Wie genau entfaltet sich ein Blatt oder verwandelt sich ein Schmetterling?

Die Natur ist in der Lage, genau so viel zu geben und zu nehmen, wie sie braucht, um selbstständig zu überleben und zu gedeihen. Es ist unglaublich und furchterregend, kontinuierlich zwischen neuem Wachstum und völliger Stille kreisend.

So vieles in unserer Umwelt ist ein ständiger Gegentakt zwischen dem Starken und Schwachen, Wachstum und Untergang. Das ist einer der Gründe, warum ich es liebe, im Nordwesten zu leben, hier erlebe ich diese Zyklen in jeder Jahreszeit sehr intensiv und kann sie fotografieren.

Akt in der NaturAkt in der Natur

Auf welchem Wege kann man Deine Kunst unterstützen? Mir ist aufgefallen, dass es auf Deine Webseite im Gegensatz zu denen vieler anderer Künstler*innen heute keinen Online-Shop gibt, um Drucke oder Publikationen zu kaufen.

Das ist wahr. Eine der einfachsten Möglichkeiten, Künstler*innen zu unterstützen ist, ihre Arbeiten mit anderen zu teilen und mit ihnen in Kontakt zu treten. Über das Kontaktformular auf meiner Webseite kann man mir gern eine Nachricht senden, wenn man ein Werk erwerben möchte oder eine sonstige Anfrage hat.

Viele meiner Arbeiten sind nicht digital, sondern handgefertigte Einzelstücke, daher ist es schwieriger, einfach nur auf „drucken“ zu klicken und wie andere zahlreise Abzüge zu verkaufen. Wie bei meinen Arbeiten auch denke ich, dass es eine größere Intimität gibt, wenn man zum Verkauf eine Konversation mit jemandem führt, anstatt einfach nur einen Knopf zu drücken. Das ist die Art von Beziehung, von der ich hoffe, dass sie sich auch in meinen fotografischen Arbeiten widerspiegelt.

Wandleuchte mit ZopfWandleuchte mit Vogelbeinen

Was sind Deine nächsten Projekte, kurzfristigen Ziele und große Träume für die Zukunft?

Das ist eine einschüchternde Frage. Ich habe gerade ein großes Lebensziel erreicht, nämlich meinen Abschluss Master of Fine Arts zu absolvieren. Kurzfristig möchte ich, wie wahrscheinlich alle, diese Pandemie überstehen. Gesund bleiben, Kunst machen und andere schützen.

Es gibt ein paar Projekte, an denen ich gerade arbeite: Die Serie „Altered Negatives“, die Tierpinsel und ein paar andere, die noch in früheren Phasen der Ideenfindung sind. Ein kurzfristiges Ziel wäre es, weiter zu kreieren, ein langfristiges, völlig in der Kunst aufzugehen.

Derzeit arbeite ich als Programmkoordinatorin in einer Gemeindegalerie und helfe beim Aufbau einer neuen Galerie mit. Es reicht für mich nicht aus, einfach nur selbst zu kreieren; ich muss auch von anderen Menschen des gleichen Schlags umgeben sein. Ich würde gern in einem größeren Umfang meine Werke zeigen und Gespräche darüber mit anderen Künstler*innen führen.

Ich habe intensiv darüber nachgedacht, wie jede Serie oder jedes einzelne Werk, das wir kreieren, tief in unserer Identität als Schöpfer*innen verwurzelt ist. Ein Mentor sagte einmal zu mir: „[Diese Arbeiten] sind alles Äste desselben Baums.“ Ich hoffe, im Laufe der Zeit noch besser zu verstehen, was dieser Baum zum Wachsen braucht und ihn entsprechend zu pflegen.

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