Der Ruf der Kraniche
Manchmal denke ich während des Fotografierens: Warum hast Du den Auslöser betätigt? All diese Szenen hast Du doch schon hunderte Male auf dem Rechner: Fliegende Kraniche, stehende Kraniche, Kraniche auf dem Feld, Kraniche im Wasser, Kranich allein, Kranich im Verband, Kraniche im Nebel – obwohl: Kraniche im Nebel kann man eigentlich nicht genug haben.
Es gibt Naturfotograf*innen, die haben es sich zum Ziel gesetzt, die unterschiedlichsten Spezies auf ihre Speicherkarten zu bannen. Dann gibt es jene, die scheinen ihre fotografische Seele einer ganz bestimmten Gattung verschrieben zu haben und ihre Gedanken kreisen mehr oder weniger nur um diese.
Bei mir ist es so, dass ich jahraus, jahrein Kraniche fotografiere. Da ich in Mecklenburg-Vorpommern lebe, muss ich dafür wenigstens nicht übermäßig weit fahren. Bei ca. 4.500 Brutpaaren in unserem Bundesland besteht eigentlich täglich die Chance, die Vögel zu hören oder zu sehen, was natürlich eine gute Voraussetzung für diesen Spleen ist.
Im Frühjahr ziehen die Tiere in großen Keilformationen übers Land. Paarweise treffen sie in den Brutrevieren ein und kündigen das Frühjahr mit ihren trompetenartigen Balzrufen an. Dann legen sie Eier, ziehen ihre Jungen auf und verbringen in Familien- bzw. Junggesellenverbänden den Sommer. Im Herbst versammeln sie sich dann an bestimmten Plätzen in riesigen Gruppen zusammen mit den skandinavischen und osteuropäischen Kranichen in der Boddenregion und an den unterschiedlichen Rastplätzen im Inland von Mecklenburg-Vorpommern.
Des nächtens schlafen sie in Flachgewässern und am Tage fressen sie sich auf den abgeernteten Maisschlägen Fettreserven für die Weiterreise an. Spätestens Mitte November ziehen sie dann Richtung Israel oder in die Extremadura, um im kommenden Jahr wieder auf der mecklenburgischen Bildfläche zu erscheinen. So weit, so gut.
Anzumerken wäre vielleicht noch, dass heute immer mehr Kraniche einfach in Mecklenburg-Vorpommern bleiben. Die Winter sind meist mild, genug Futter ist Dank des großflächigen Maisanbaus vorhanden und wer als erstes im Frühjahr da ist, besetzt die besten Brutreviere. Mathematisch gesehen eine Verlängerung der Kranichsaison von acht auf zwölf Monate.
Als ich anfing, meine Seele den Kranichen zu verpfänden, ging es mir einzig darum, die Vögel groß und nah zu fotografieren, doch irgendwann reichte mir das nicht mehr. Die Vögel sind viel zu elegant und schön, um sie nur schnöde abzulichten. Und außerdem ist das Netz voll von solchen Aufnahmen, sodass vieles einfach nur austauschbar und reproduzierbar erscheint.
Wenn man erst einmal stundenlang ein und dasselbe Motiv fotografiert, ist man ja förmlich dazu gezwungen, alle Knöpfe und Spielereien seiner Kamera auszuprobieren, vorausgesetzt man verfügt über eine Portion Neugier und kennt die Möglichkeiten dieser.
Und sind wir mal ehrlich, seit die analogen Filmzeiten vorbei sind, kostet der Spaß ja auch nichts. Wenn es nichts wird, Löschtaste, neuer Versuch! In der Tierfotografie ist ein nicht zu vernachlässigender Punkt natürlich die geringe Reproduzierbarkeit der Momente. Aber auch hierbei finden sich Möglichkeiten des Übens.
Bei Kranichen gelingt dies definitiv am schwedischen Hornborgasee im Frühjahr. Dort sammeln sich bis zu 25.000 skandinavische Kraniche vor dem Weiterflug in die Brutgebiete. Auf den extra angelegten Futterplätzen fressen, trompeten, stolzieren und zanken sie den ganzen Tag in unmittelbarer Nähe zu Menschen, die an diesen Tagen das Gelände in solcher Vielzahl aufsuchen, dass man schon von einem Volksfestcharakter der Veranstaltung sprechen kann.
Und wie gesagt: Trotz Jubel, Trubel, Heiterkeit fliegen die Kraniche hin und her und fressen sich 50 Meter vor den Fotograf*innen den Wanst voll. Eine herrliche Möglichkeit, die Vögel abzulichten und fotografisch alles Mögliche auszuprobieren.
Natürlich versuche auch ich, die Vögel in Interaktion zueinander abzulichten, was bei dem Gewimmel von mehreren tausenden Kranichen alles andere als leicht ist. Wirklich Spaß habe ich jedoch bei anderen Sachen: Warum nicht fliegende Kraniche als Wischer mit Doppelbelichtung fotografieren? Oder als Silhouette vor der aufgehenden Sonne?
Warum nicht abstrakt als Teil der Landschaft, vor dem Geäst der Bäume? Oder mit langer Belichtungszeit? Das Stellrad der Kamera auf Tv und 1/20 s eingestellt und probiert. Zuerst scheint alles vom Zufall abzuhängen, aber mit der Zeit wird es anders. Das Bild im Kopf beginnt, sich dem Foto anzunähern. Das Bild wird mit Zeit und Übung sozusagen planbar.
Eines möchte ich auch noch erwähnen, auch wenn es eigentlich logisch ist: Beim Kranichfotografieren sind große Teleobjektive deutlich von Vorteil. Auf Kraniche zuzugehen, um sie zu fotografieren, ist so unmöglich wie Kekse essen ohne zu krümeln. Die Tiere werden nicht stehenbleiben.
Der laute Ruf eines Kranichs im Revier ist keine Begrüßungsformel für den Fotografen, sondern eher eine Warnung, dass die Fluchtdistanz gerade unterstritten wird oder anders gesagt, dass der Kranich gleich weg ist. In diesem Zusammenhang sei mir der Hinweis gestattet, dass ein Auto ein nahezu perfektes „Tarnzelt“ ist.
Egal ob in Schweden am Hornborgasee oder im heimischen Mecklenburg-Vorpommern, eines ist für mich entscheidend: Es ist die Zeit des Fotografierens. Ich bevorzuge die ersten Stunden des Tages, wenn die Sonne langsam hervorkommt und die Welt mit ihrem Licht überflutet.
Andererseits ist ein schön grauer Tag auch nicht zu verachten – keine Schatten, keine Sorgen. Nein, im Ernst: Es ist wirklich nichts Schönes, im Frühling gegen 4 Uhr morgens aufzustehen, nur um den Sonnenaufgang bei den Kranichen zu erleben und dann sind diese Viecher noch nicht mal da.
Ich kann nicht genau sagen, warum ich Kraniche so gern fotografiere. Wer einmal einen Einflug der Grauen am Abend erlebt hat, kann vielleicht nachvollziehen, was mich antreibt. Aber eigentlich bin ich auch schon elektrisiert, wenn eine Keilformation über unser Haus fliegt oder ich die Rufe der Kraniche am frühen Morgen höre.
Der Ruf des Kranichs
geht über das Feld, ohne
Körper, ohne Zeit.(Anke Bastrop)
Dem ist nichts hinzuzufügen. Einen Gruß an Euren Spleen.
„Abenteuer Naturfotografie“ von Markus Botzek und Frank Brehe
Sprache: Deutsch
Einband: Gebunden
Seiten: 397
Maße: 21,9 x 24,6 cm
Verlag: Rheinwerk
Preis: 39,90 €