Vom Menschen als Ausgrabungsstätte
Das Archäologinnenherz in meiner Brust, wenn ich (nackte) Menschen fotografiere.
Wir sind es gewohnt, über das Wichtigste beharrlich hinwegzuschauen. Über uns. Und über das Wichtigste beharrlich hinwegzuschweigen. Über das, was in uns vorgeht, über unsere Gefühle. Wir verstecken uns hinter Kleidung, Make-up und in Maskerade, weil darunter etwas steckt, das wir uns so nicht aussuchen konnten.
Ein nackter Körper: wir. Und weil in dem viele Ängste schlummern – vom Zu-viel- oder Zu-wenig-Sein, vom Nicht-gut-genug-Sein, vom Nicht-hübsch-genug-Sein. Generell, vom Sein. Vom Wir-selbst-Sein. Ich will wieder dahin. Was verbirgt sich in uns? In Dir? In mir?
Mein größter Kindheitswunsch war es, Archäologin zu werden (um genau zu sein: Ägyptologin – auch wenn ich das damals nicht einmal richtig schreiben konnte). Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dann finde ich, dass ich davon gar nicht so weit entfernt bin, wie es auf den ersten Blick erscheint, und dass sich dieser Wunsch – wenn auch ganz anders als gedacht – irgendwie doch erfüllt hat.
Okay, das kleine Mädchen, das ich einst war, hat sich Wüstensand und Sphinxen vorgestellt, was jetzt als junge Frau vor mir liegt, finde ich aber weitaus spannender: Die weiten Landschaften, schweigsamen Schönheiten – der Menschen, die mir im Hier und Jetzt begegnen und deren Rätsel ich – wenn sie es wollen – angehen darf, ganz ohne davon verschlungen zu werden.
Oder doch?
Archäolog*innen sind auf der Suche nach alten Geheimnissen, vielleicht sogar nach verlorenen Schätzen. Wenn ich durch meine Kamera blicke, begebe ich mich auf den gleichen Pfad. Bloß im Heute. Und ich glaube, ich finde sie – diese Schätze – unter und an der Oberfläche der Menschen. In ihren Augen, die so viele Geschichten erzählen. An ihren Händen, deren Berührungen so viel ausdrücken können, wie es ein ganzes Glossar nicht vermag. Der menschliche Körper ist für mich ein Expeditionsgebiet.
Das Erstaunliche und Traurige ist, dass der Mensch, der ihn bewohnt, diese Expedition oft in einen inneren Krieg verwandelt hat. Ich selbst schließe mich davon nicht aus. Leider. Wir bewohnen unsere Körper, aber leben wir auch in ihnen? Gibt es ein Leben vor dem Tod? Wenn ja, wieso führen wir in diesem Krieg? Gegen uns selbst?
Eine Frage würde ich meinen Archäologiekolleg*innen gern stellen: Waren unsere Vorfahren auch so im Zwist mit ihrem Körper, wie es heute der Fall ist? Ehrlich gesagt, glaube ich das nicht. Die Erfindung des Spiegels hat uns nicht näher zu uns selbst gebracht, sie hat uns allenfalls die Versessenheit eines Egos gebracht, das sich selbst begafft wie Ware und letztlich seinen eigenen Warenwert etikettiert.
Durch Werbeindustrie, Instagram und Co. wird dieser Effekt noch verschlimmert. Auf uns kleben unsichtbare Preisschilder, die wir an uns selbst anpinnen. Wir sind in einen Wahn des Vergleichens geraten, weg von uns selbst. Hin zu uns als belebte Schaufensterpuppen.
Wir sind im Kopf gefangen, im Denken, im Berechnen und im Zerlegen und Zerteilen, im Finden von Formeln und Zahlen. Die wir dann eben auch auf uns selbst anwenden, auf unsere Körper, selbst auf unseren Geist. Intelligenz-Quotient, Body-Maß-Index, Kalorientabelle, genug Proteingehalt. Klingt das nach Leben? Uns nach Zahlen richten? Richten? Über uns selbst?
Und hier beginnt meine Aufgabe, die ich mir selbst gesetzt habe: Ich möchte Menschen (zurück) ins Fühlen bringen, weg vom rationalen Teil, hin zum emotionalen, weil der eben oft zu kurz kommt, denke, ähm, fühle ich. Also: Erlauben wir uns, zu fühlen? Erlauben wir es uns, das anderen zu erzählen? Ich möchte das. Fühlen. Und darüber erzählen. Und mithilfe der Fotografie eben in Bildern.
Wie viele Menschen in meinem Bekannten- und Freundeskreis haben Probleme damit, offen über ihre Gefühle zu reden! Das hat ihnen niemand beigebracht. Was hat man uns stattdessen beigebracht? Scham. Und dass sich dies nicht gehört und jenes, dass dies schön sei und jenes hässlich.
Aber fühl doch mal, fühl doch mal rein in die Stellen, die Du angeblich hässlich findest, dort in Deinen Arsch zum Beispiel, dort in Deine angeblich hässliche Cellulite, schieb mal die kritische Brille des Blicks von außen fort, begaff Dich selbst mal nicht als Ware, fühl doch einfach mal, betaste Dich, greif doch zu, zu Deinem Körper, begreif Dich doch endlich mal!
Und Du wirst finden: Es fühlt sich verdammt schön an, dort, Dein Arsch, Deine Dellen – fühlen sich total gut an! Streich doch mal den „Hass“ aus „hässlich“ und zurück bleiben nur noch ein „-lich“ und eine Leerstelle. Setz in die Leerstelle Zartheit oder Liebe ein und Du erhältst etwas „zärtlich“, „lieblich“ Wunderbares: Dich selbst.
Meine Fotos zeugen von diesem Versuch, diese Leerstelle erst herzustellen und dann neu zu bepflanzen. Fotografie kann also, so habe ich beim archäologischen Buddeln mit meiner Linse herausgefunden, etwas zutiefst Therapeutisches sein. Ohne, dass ich je als Therapeutin ausgebildet wurde. Im Gegenteil. Meine Ausbildung ging tendenziell in die andere Richtung.
Früher habe ich Jugendlichen beigebracht, eher ihren rationalen Teil zu bedienen; ich war Lehrerin für Philosophie, Ethik und Deutsch am Gymnasium. Das war schön, mit den Schüler*innen, aber nicht mit diesem System. Die wirklich wichtigen Dinge, so wurde mir klar, sollen in der Schule gar nicht beigebracht werden: Selbstliebe. Emotionale Zugänge – zu Dir selbst, zu anderen.
Stattdessen hätte ich sie dort weiterhin gelehrt, was es heißt, verglichen zu werden und auch ich hätte sie vergleichen müssen. Etikettieren. Mit Preisschildern versehen. Warenwerte zuteilen. Zeugnisse. Aber sind wir nicht alle langsam müde davon? Ich bin es.
Heute gibt es für mich nur noch eine Art von Zeugnissen: Bilder, die eine Reise nach innen bezeugen. Und ich frage mich sowieso, ob man die wirklich wichtigen Lektionen wirklich lehren und also von jemand anderem lernen kann. Begreifen kommt doch von „greifen“, vom Fühlen, von Ergriffenheit.
Greifen können wir das Leben nur selbst und dann können wir auch Früchte pflücken. Ich fühle, dass wir sie selbst dem Leben abringen müssen und dass nur solche Erkenntnisse von Wert sind. Wir müssen selbst fühlen. Jeder für sich. Und dann merken wir, dass zum Beispiel hinter dem erlernten Gefühl von Scham in Wirklichkeit das Gefühl der Freude steckt – eine Freude, die wir uns verbieten, weil wir uns aus der Perspektive eines anderen, also von außen betrachten.
Damit Du das abschütteln kannst – jetzt kommt das vermeintlich Paradoxe! – kann es hilfreich sein, sich wirklich einmal selbst von außen zu sehen. Und wir alle wollen uns sehen. Wir alle wollen gesehen werden. Und fühlen es doch so oft nicht. Also greife ich zu dem Medium, das auf das Sehen reduziert ist und lasse es sprechen. Das ist mein Versuch.