Stil – Was ist das?
Diese Kolumne könnt Ihr Euch jetzt auch vom Autor selbst vorlesen lassen.
Alle sprechen davon, „ihren Stil“ finden zu wollen und fotografisch wiedererkennbar zu sein. Was bedeutet eigentlich Stil? Geht es dabei um die Art, wie die Bilder aussehen oder mehr darum, wie man Bilder macht? Im ersten Teil dieser Kolumne wurde hergeleitet, was eine Bildsprache ist. In dieser Ausgabe soll in Abgrenzung zum Begriff der Bildsprache der Begriff Stil unter die Lupe genommen werden.
In fast all meinen Seminaren oder Workshops wird es irgendwann Thema. Alle suchen ihn, den eigenen Stil. Auf die Frage „Wonach sucht Ihr eigentlich?“ erhalte ich in den meisten Fällen, sinngemäß, folgende Antwort:
Nach etwas Besonderem. Etwas, das meine Bilder von anderen unterscheidet. Danach, dass Menschen die Bilder eindeutig mir zuordnen können.
Bei den begrenzten Möglichkeiten formaler Mittel, schließlich gibt es nur eine endliche Anzahl gestalterischer Variablen, klingt dieser Wunsch nach der Lösung für die Weltformel. Etwas polemisch könnte man sagen: Nach Anerkennung.
Stil im Kunstkontext
Per Definition ist Stil im Kulturbetrieb die „Art und Weise, wie man etwas ausdrückt oder formuliert“. Global betrachtet geht es um die Formulierung und Wiedererkennung bestimmter Kriterien, sogenannter Stilmittel, über eine Menge von Bildern hinweg. Sind diese Kriterien erfüllt, lässt es den Schluss zu, ein Bild einem Stil zuzuordnen.
Am einfachsten ist die Einordnung nach Raum und Zeit, sprich nach Kultur (räumlich) und Epoche (zeitlich). Ist etwas im 16. Bis 18. Jahrhundert gemalt worden, so ist das einfachste Kriterium die Begrenzung auf den Barock. Im Detail geht es dann um den Duktus (die Art und Weise, wie gemalt wurde) und das, was abgebildet ist. Überprüft man einzelne Bilder nach objektiven, festgelegten Kriterien und stimmen diese in allen Punkten mit dem vorliegenden Bild überein, kann man von einem Gemälde „im Stil des Barocks“ sprechen. Warum man kein Foto im Stil, sondern nur in der Manier des Barocks machen kann (und was der Unterschied ist), bespreche ich in einem der nächsten Beiträge.
Dein Stil, unausweichlich Du!
Neben den globalen, in der Regel kunsthistorischen, Stildefinitionen gibt es auch den persönlichen Stil. Dieser ist jedoch deutlich schwieriger zu bestimmen, als es zunächst erscheint.
Beginnen wir einfach: Vier Bilder eines Fotografen mit dem gleichen Bildaufbau, der gleichen Unschärfe und derselben Linienführung liegen auf dem Tisch. Alle werden zustimmen, dass diese Bilder gleich aussehen. Was damit gemeint ist: Die Bilder ähneln sich in ihrer formalen Gestaltung. Ist das dann schon ein Stil?
Wenn ja, würde das bedeuten, dass selbst eine Versuchsreihe Bilder mit der gleichen Kameraeinstellung zu einem neuen Stil würde. Der Begriff Stil wäre in diesem Fall synonym verwendbar für jede relative Häufung von Bildern, die sich in irgendeiner Form ähnlich sieht. Der Begriff wäre nicht mehr zu retten.
Wie sieht es aus, wenn der gleiche Fotograf nicht nur fünf Bilder am gleichen Tag, sondern 100 identische Bilder über einen Zeitraum von zwei Jahren gemacht hat? Wird die formale Gestaltung dann zum Stil des Fotografen? Nein. Der Fotograf hat lediglich bewiesen, dass er es schafft, über einen bestimmten Zeitraum hinweg eine Summe gleicher Bilder identisch zu fotografieren. Eine solche Arbeit würde man als Studie oder als Projekt bezeichnen.
Nun macht dieser Fotograf allerdings 50 eben solcher Versuche von unterschiedlichen Orten, formal ähnlich, aber immer mit unterschiedlichen Zielsetzungen. Bei einem Ort versucht er, die Veränderung von Blumenerde über einen Zeitraum festzustellen. Bei einem anderen Ort die Dicke der Staubschicht unter dem Bett über den gleichen Zeitraum und so weiter.
Kann man, betrachtet man die Summe seiner Arbeiten, nun von seinem Stil sprechen? Ja. Der Unterschied ist, dass die ersten beiden Versionen lediglich die relative Häufung identischer Bilder innerhalb einer Versuchsanordnung betrachten. Es handelt sich um 100 gleiche Aufnahmen. Die dritte Version hingegen demonstriert eine Herangehensweise an unterschiedliche inhaltliche Probleme mit ähnlichen formalen Mitteln. Es eröffnet den Betrachtenden die Möglichkeit, einen Einblick in den Werkzeugkasten dieses Fotografen zu erhalten.
Ähnlich wie beim globalen Stil können nun die Betrachtenden „Mittel“ (formal und inhaltlich) finden, die sich über die Bilder hinweg wiederholen und damit stilgebend für die vorliegenden Bilder sind. Diese, den Stil definierenden Mittel (Stilmittel) sind in der Zukunft die Kriterien, die bei einer Suche dazu führen, dass die Betrachtenden Bilder des Fotografen erkennen. Im Gedächtnis der Betrachtenden speichern sich die Bilder als Referenzen ab.
Der persönliche Stil bezeichnet folglich die formale und inhaltliche Herangehensweise einer Person an ein Thema. Das Bild ist das Resultat und damit die Manifestation der Herangehensweise, sprich: des Stils.
Was Anerkennung für den Stil bedeutet
Nicht selten nicken Teilnehmer*innen unangenehm berührt auf die Frage, ob sie in Wirklichkeit nach Anerkennung suchen. Es ist ganz und gar nicht schlimm, dass Anerkennung die Triebfeder ist. Man muss es sich nur eingestehen, um darüber hinweg zu kommen.
„Möchtet Ihr wirklich einen unverkennbaren Stil oder ist der Ursprung dieses Wunsches die Sehnsucht, so zu fotografieren wie eines Eurer Vorbilder?“, schließe ich je nach Gruppe an diese Frage an. „Was hat die Motivation mit dem Stil meiner Bilder zu tun?“, erwidert mindestens eine*r in der Regel.
Der Unterschied liegt im Detail und lässt sich gut an folgendem Schaubild erklären:
Fotografiert man ergebnisorientiert, arbeitet man sich, wie unser Fotograf aus dem Anfangsbeispiel, an etwas ab, an dem man persönliches Interesse hat, so ist die Fotografie ein Mittel, um in irgendeiner Weise Erkenntnis zu gewinnen. Ihr findet das Thema Bürokratie spannend und untersucht über einen Zeitraum mögliche Erscheinungsformen von Bürokratie, überlegt, was man dagegen machen kann, wozu sie nützt und fotografiert dabei das, was Euch interessiert.
An einem Punkt überlegt Ihr Euch, wie Ihr die Eindrücke am besten fotografisch unter einen Hut bekommt oder Ihr legt einfach drauf los. Später blickt Ihr zurück und findet heraus, dass Ihr immer einen Menschen auf dem Bild haben möchtet, um etwas zu visualisieren. Kann am Thema liegen. Nächstes Thema: Individualismus. Ihr legt wieder los, recherchiert, visualisiert und zack, hier geht es ohne Menschen. Nächstes Thema: Und so weiter. An irgendeinem Punkt wird Euch klar, was Ihr seid und was Ihr benötigt, um Euch beim Fotografieren wohl zu fühlen.
Ziel war aber an und für sich die Erarbeitung mehrerer inhaltlicher Themen. Durch das Machen lernt Ihr, wie Ihr tickt, also was Euer Stil ist, um Euch fotografisch auszudrücken. Ihr habt, kollateral zum gesteckten Ziel, gelernt, was Euer Stil ist und hattet gleichzeitig fotografisch Spaß.
Reach is the new content!
Seid Ihr umgekehrt auf der Suche nach Anerkennung, die Ihr mit Hilfe Eures unverkennbaren Stils erreichen möchtet, habt Ihr Euer Ziel bereits definiert. Anerkennung. Um das zu erreichen, benötigt Ihr eine Strategie, die Euch diesen Erfolg „garantiert“.
Am einfachsten ist das, wenn man sich umsieht und schaut, was die anderen erfolgreichen Fotograf*innen so machen. Ein bisschen hiervon, ein Teilchen davon, dann noch etwas aus dieser Ecke. Fertig ist der persönliche Bildsprachemix, der dann im fotografischen Vokabeldschungel zum Stil wird und rasant zu vielen tausend Follower*innen führt. Hier definiert das Ziel den Inhalt und noch viel schlimmer – die Formensprache des Bildes. Strategie ist ungleich Herangehensweise. Strategie ist auf Erfolg aus, die Herangehensweise eher eine Anleitung, wie man sich an etwas abarbeitet.
Für Unternehmen ist ein strategisches Vorgehen unabdingbar. Schließlich geht es um Umsatz und Gewinne. Testen, probieren, Pirouetten drehen, all das kostet Geld. Daher ist es nachvollziehbar, dass man auf bewährte Methoden setzt und so erwartbaren Erfolg damit hat. Für die Amateur*innen, oder besser, den Privatmenschen, finde ich dieses Vorgehen, milde ausgedrückt, schade bis traurig.
Schaue ich mich bei Instagram oder Facebook um, scheint es mir fast so, dass inzwischen alle bei anderen klauen, mischen, sich „inspirieren“ oder um den Zeitgeist wiederzugeben: Sich des Samplings bedienen! Was in der Musik Gang und Gäbe ist, „Altes, erfolgreiches Lied + irgendein Beat = Erfolg“, lässt sich zunehmend auch im Bild beobachten.
Nicht interessante Inhalte, sondern die Reichweite stehen im Vordergrund. Die Nachfrage definiert den Markt. Wie viele laszive, halbnackte Mädchen muss ich noch in meinem Instafeed finden, wie viele unfassbar tolle Landschaftsfotos á la German Roamers noch liken, ehe ich einmal so wow sagen kann, dass es mir die Füße unter dem Boden wegzieht! Etwas unerwartetes zu sehen. Ein Thema zu finden, von dem ich noch nicht wusste, dass ich es spannend finden könnte.
Gibt es ein Beispiel für einen originären, unausweichlich einzigartigen Stil aus den vergangenen 15 Jahren? Ich behaupte nein. Selbst Bilder, die aussehen wie solche von Ikonen wie Annie Leibovitz, Platon oder Peter Lindbergh habe ich schon bei Instagram gesehen. In der Annahme, dass diese Persönlichkeiten nicht jeweils 14 Fakeaccounts zum Bilder streuen haben, kann man davon ausgehen, dass sich gewiefte Fotograf*innen deren Techniken angenommen haben. Die Strategie dieser Fotograf*innen ist Sampling und resultiert nicht aus einer Herangehensweise, sprich dem Stil, einer Leibovitz.
Welchen Mehrwert habe ich als Fotograf, wenn Menschen mir sagen können, welches mein Bild ist? Ist es nicht viel befriedigender, wenn jemand sagt, der Schroeder, der hat immer tolle Themen?
Denkt nicht so viel über Stil nach, sondern geht raus und seid neugierig. Fotografiert das, was Euch interessiert und Ihr werdet feststellen, dass Ihr von ganz allein herausfinden werdet, wie Ihr arbeitet und nennt es dann von mir aus Stil oder auch Dinglhopper.
Diesem Text liegt wochenlange Recherche zugrunde, um auszuloten, was Stil heute noch sein kann. Am Ende ist es nur eins: Egal.
Informationen zum Buch
„Eins reicht. Fotos gezielt auswählen und präsentieren.“ von Sebastian H. Schroeder
Sprache: Deutsch
Einband: Softcover
Seiten: 224
Maße: 18,6 x 24,4 cm
Verlag: dpunkt.Verlag
Preis: 26,90 €