Seit meiner Kindheit kann ich mich daran erinnern, dass mein Großvater von Russland sowie deutschen und osteuropäischen Städten erzählte, in denen er gewesen war. 2005 starb meine Großmutter; die Zeiten, die ich mit meinem Großvater verbrachte wurden mehr und die vagen Erzählungen gewannen an Konkretheit und Bedeutung.
Langsam verstand ich, was sich niemand getraut hatte, auszusprechen: Mein Großvater war nicht nur während des zweiten Weltkriegs in Russland gewesen, mein Großvater hatte sich freiwillig gemeldet und war als Teil der Waffen-SS durch Zentral- und Osteuropa „unterwegs gewesen“.
Ich habe versucht, das zu tun, was meine Mutter nie gemacht hat: Fragen zu stellen, das Tabu zu brechen. Mehr als ein Jahr habe ich gebraucht, bis mein Großvater auf einer Landkarte die Route aufzeichnete, die er gelaufen war. Erzählt hat er trotzdem wenig: Die Verteidigung Berlins im Mai 1945; wie er es schaffte, aus einem Zug – Richtung Sibirien – zu fliehen; wie nah er an Dresden war, als der Luftangriff im Februar 1945 stattfand und dass niemand da war, als er endlich wieder zu Hause ankam.
Was er wirklich gesehen und gemacht hat, werde ich nie erfahren. Mein Großvater ist am 20. Dezember 2015 gestorben. Nach seinem Tod habe ich weiterhin versucht, meiner Mutter und seinen Geschwistern Fragen zu stellen. Ich habe in Archiven recherchiert, Anfragen gestellt und versucht, die Lücken seiner Erzählungen zu füllen.
Es hat sich alles als erfolglos herausgestellt: Die Personalakten sind „vermutlich durch Kriegsereignisse verloren gegangen“ und weder meine Mutter noch die Geschwister meines Großvaters konnten oder wollten mir jegliche Fragen beantworten.
Als mein Großvater noch am Leben war, habe ich versucht, mich immer sachte an das Thema heranzutasten, habe ihn nie gezwungen Fragen zu beantworten, bei denen ich den Eindruck hatte, dass er es nicht wollte. Ich habe ihn einfach ein bisschen reden lassen, weil ich mir gedacht habe, ich werde so oder so etwas herausfinden. Jetzt bereue ich es und muss zugeben, dass er letztendlich den Kampf zwischen seinem Schweigen und meiner Neugier gewonnen hat.
Ich bin oft an meine Grenze gestoßen, wusste nicht, wie man etwas erzählen kann, was nur aus nicht beantwortete Fragen, Schweigen und brüchigen Erzählungen besteht. Ziemlich schnell habe ich den rein dokumentarischen Ansatz ausgeschlossen und dann eher versucht, meine Gefühle, die Frustration und Ohnmacht gegenüber diesem Gesetz des Schweigens darzustellen und die Grenzen zwischen einer tabuisierten Vergangenheit und der Gegenwart aufzulösen.
Das Zusammenspiel von Ausschnitten der Archivfotos, dunkel gehaltenen, atmosphärischen Bildern und Portraits sollen diesem Versuch, so etwas Ungreifbares bildlich darzustellen, dienen und die Betrachter*innen verwirren und zum Nachdenken bringen.
Bald wird es diejenigen, die das „Damals“ erlebt haben, nicht mehr geben. Generation um Generation hat man vergessen wollen und die Gelegenheiten verpasst, Fragen zu stellen. Man hat die Aufarbeitung der schrecklichen Erinnerungen der am Kriegsgeschehen beteiligten (Ur-)Großväter und die damit verbundene Scham verschoben oder verdrängt.
Das Projekt versucht auch, dazu aufzurufen, Fragen zu stellen oder es wenigstens zu versuchen, solange noch die Möglichkeit dazu besteht, denn danach ist es einfach zu spät dafür und es bleibt oft nicht anderes übrig, als das Schweigen zu entschlüsseln.