kwerfeldein diskutiert: Die Grenzen der Kunst
Die Serie „Preservation“ des Fotografen Blake Little sorgte in den vergangenen Tagen für Diskussionen rund um das Thema Ethik vs. Kunst. Wo darf oder muss Kunst gesellschaftliche Grenzen überschreiten? Wo sind der Kunst Grenzen gesetzt? Welches Maß an ethischer Reflexion ist angebracht?
Chris: Die Bilder sind zwar vom ästhetischen Standpunkt aus betrachtet stark, in der Gesamtheit spielt aber mehr in die Betrachtung hinein: Kunst darf sich viel heraus nehmen, weil von ihr viel erwartet wird. Kunst sind also unter Umständen Grenzübertretungen erlaubt, die sonst gesellschaftlich oder rechtlich tabu sind.
Wenn ich das auf dieses Projekt beziehe, kommt Folgendes dabei heaus:
Konkret Stein des Anstoßes sind die Verwendung des Honigs als Ressource und das Übergießen von Baby und Hund. Man könnte nun meinen, zwischen der Verschwendung des Honigs und dem Titel „Preservation“ gäbe es eine Korrelation. Das aber scheint dem Künstler gar nicht aufgefallen zu sein. Es wird also von dem Privileg, sich unter dem Anspruch, Kunst zu machen, über Tabus hinweg setzen zu dürfen, Gebrauch gemacht, ohne dass jenes Tabu überhaupt thematisiert wird. Auch die Verwendung von Baby und Hund lässt sich nur unter dem Mantel der Kunst rechtfertigen.
In meinen Augen geht der Künstler einfach rücksichtslos mit Ressourcen und Lebewesen um. Er nimmt deren Schaden in Kauf, um sein Konzept zu verwirklichen und rechtfertigt es hinterher mit dem pauschalen Verweis auf die Freiheit der Kunst. Er nutzt also Freiräume der Kunst, wird dem Anspruch, diese Freiräume kritisch zu nutzen, aber nicht gerecht.
Gegenbeispiel: Die Entwendung der Mauerkreuze durch das Zentrum für politische Schönheit im Rahmen des Kunstprojekts zur EU-Asylpolitik. Hier gibt es eine klare Korrelation zwischen Tabu- bzw. Rechtsbruch und dem Sinn der Kunstaktion. Besonders fällt es natürlich auf, weil die „Opfer“ (ich überspitze bewusst) wehrlos sind. Das unterscheidet diese Aktion von all den Performance-Aktionen, in denen Menschen sich freiwillig Schaden zufügen lassen.
Sebastian: Ich würde das immer in Relation zum potentiellen oder tatsächlichen „Schaden“ sehen, der angerichtet wird – und der ist bei der Honigaktion aus meiner Sicht in keiner Weise gegeben. Der Gedanke „Bei der Aktion könnte doch auch etwas schiefgehen!“ ist mir nicht genug Rechtfertigung, um den Künstler einzuschränken, zumal es natürlich immer auch von Ergebnis abhängt, wie Du schon sagst. Interessant ist die Korrelation zwischen dem Ergebnis und der Legitimation. Ein besseres Ergebnis oder Kunst rechtfertigt wohl mehr Grenzüberschreitung. Und das Ergebnis ist hier sehr beeindruckend.
Und Honigverschwendung als Argument gegen diese Bilder halte ich dann eher für lächerlich. Damit muss man dringend vergleichen, welche Massen von Lebensmitteln von jedem beliebigen Supermarkt täglich weggeworfen werden, dann hat das keinerlei Relevanz mehr.
Chris: Für mich ist das ein bereits eingetretener Schaden. Das Baby mag vielleicht von der Mutter begleitet und bei Laune gehalten worden sein, aber ich bezweifle, dass eine solche Aktion bei einem Kind in dem Alter keine Angst hervorruft. Der Hund dagegen leidet, das meine ich schon im Bild erkennen zu können.
Auch die effektive Verschwendung der genauen Menge des verwendeten Honigs ist nicht der Punkt. Durch die Zweckentfremdung wird eine gewisse Verschwendung jedoch visualisiert. Honig und Bienen sind ein Thema, dass man nicht außer Acht lassen kann, wenn man Honig als Material verwendet. Ich stimme Dir zu: Ein gewisser Schaden kann durch den Sinn eines Ergebnisses gerechtfertigt werden. Aber nur mit erkennbarem thematischen Zusammenhang und der ist hier nicht gegeben.
Sebastian: Der Hund leidet aus meiner Sicht nicht, zumindest können wir das nicht erkennen. Er schüttelt den Honig halt ab, wie er es bei Wasser auch tun würde. Das ist eine natürlich Reaktion, die für mich eher nach Irritation aussieht. Zumal wir die „Gefühlswelt“ von Hunden überhaupt nicht beurteilen können. Aus der Ferne ist Leid aus meiner Sicht hier auf keinen Fall so einfach zu diagnostizieren.
Das zweite Argument mit der Zweckentfremung des Honigs wirkt mir sehr an den Haaren herbeigezogen, damit man die Bilder noch irgendwie anders angreifen kann, zumal Honig kein mit großen Ressourcen produziertes Lebensmittel ist, sondern quasi ein natürlich nachwachsender Rohstoff. Honig hat ja gar nicht den Zweck, Nahrungsmittel für den Menschen zu sein. Die Leute, die hier eine Zweckentfremung sehen, vergessen, dass Honig zu essen an sich schon eine Zweckentfremdung ist.
Martin: Honig ist aber für Bienen lebenswichtig. Dieser wird ihnen genommen und so sind die Ressourcen am Ende die Bienen selbst. An dieser Stelle begreife ich Honig als ein mit großen Ressourcen produziertes Lebensmittel und damit geht auch der Vorwurf der „Verschwendung“ einher. Was mir beim Projekt „Preservation“ fehlt, ist ein Bewusstsein für Metaphorik und Symbolik, denn die Aufnahmen kommunizieren auf mehreren Eben. Eine davon ist das, was Betrachter auf den ersten Blick sehen können: Herabfließender Honig, der in der Tat beeindruckend wirkt. Das allein ist aber bei Weitem nicht alles.
Chris: Das Aussterben von Bienenvölkern ist ein Problem. Klar, Honig ist kein Grundnahrungsmittel, aber dennoch keine überflüssige Ressource.
Ein Kind in dem Alter begreift nicht, was da passiert und ist sicherlich nicht erfreut. Da geht es ja auch gar nicht um körperliche Schäden, aber ich kann mir vorstellen, dass es eine enorme Angsterfahrung ist. Ähnlich wird es dem Hund ergangen sein. Honig lässt sich nun einmal nicht einfach abschütteln, als wäre es Wasser. Vor allem das Übergießen von Augen und Nase empfinde ich als Quälerei.
Die Serie spielt mit Provokation und strittigen Themen, geht diese aber inhaltlich nicht an. Die Provokationen sind damit nutzlos und haben meiner Meinung nach mit Kunst nichts zu tun.
Anne: Ich sehe das ähnlich. Ich denke sogar, der Honig wurde aus rein oberflächlich ästhetischen Gründen und ohne tiefere Überlegungen für dieses Shooting von Blake Little gewählt. Weil er klebt, weil er hell ist, weil er glänzt. Die Bedeutungsebenen, die bei diesem Rohstoff mitschwingen, werden nicht tiefer aufgegriffen.
Honig wurde hier ja nicht zum ersten Mal als Material in der Kunst verwendet. Aber Künstler wie beispielsweise Joseph Beuys verwenden Honig gerade wegen seiner Stellvertreterfunktion für die Bienen, die als enorm soziale und fleißige Wesen die Basis des Bienenstaates bilden. Also der Bienenstaat als Vorbild, wie ein funktionierender Organismus aussehen kann. Er reflektiert die Symbolik des Honigs und verweist in seinen Honig-Arbeiten auf Zusammenhalt und Gemeinschaft. Der Honig ist in seiner Kunst keine „Dekoration“ wie in dieser Serie, sondern eine bewusst gewählte Ausdrucksform, die dem Betrachter die Zusammenhänge einer Demokratie bewusst machen soll.
Little hingegen reflektiert in meinen Augen nicht und verschwendet diesen wertvollen Rohstoff achtlos. Da hätte er lieber ein künstliches Produkt benutzt, das hätte auf den Fotos genauso schön geglänzt.
Sebastian: Die Bedeutungsebene des Honigs wurde vielleicht vom Künstler nicht in irgendeiner „konsumkritischen“ Art reflektiert, aber doch hat er den Honig in ästhetischer Form in die Bilder eingebaut und der funktioniert als Material für die Serie aus meiner Sicht sehr gut. Mit keinem anderen Material außer Honig hätte man diese sehr originellen Bilder in dieser Form machen können, das ist für mich eine ziemlich klare Reflexion bezüglich der Materialität des verwendeten Rohstoffs.
Außerdem: Wenn man den Blick mal auf den Titel der Serie lenkt, dann scheint der Künstler ja schon zu wissen, welches Material er verwendet, er referenziert ja explizit auf Fossilien, die in organischen Materialien eingeschlossen und konserviert wurden und die Zeit überdauert haben. Das ist geradezu die Kernaussage der Serie.
Ich glaube nicht, dass man diese Bilder mit irgendeinem künstlichen Produkt in der gleichen Form nachstellen hätte können und selbst wenn es möglich gewesen wäre, dann hätte die Reihe nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die uns jetzt dazu führt, das hier zu diskutieren. Ich meine: Ein großer Teil der Faszination der Bilder geht gerade von der Verwendung dieses natürlichen, organischen Materials aus, findet Ihr nicht?
Martin: Klar. Ich glaube aber nicht, dass Faszination allein alle Mittel heiligt. Das hat Grenzen und diese sind meiner Meinung nach deutlich überschritten. Was sich in dieser Diskussion deutlich herauskristallisiert, ist, dass verschiedene Menschen an unterschiedlichen Stellen diese Grenze ziehen. Ich provoziere mal Dich, Sebastian: Wäre es für Dich in Ordnung, tote Bienen zu benutzen, wenn hinterher das Kunstwerk faszinierend wäre und man durch nichts anderes als Bienen diesen Effekt herstellen könnte?
Sebastian: Hm. Meine kurze Antwort: Ja. Meine lange Antwort: Natürlich nur, wenn dafür nicht extra Tiere getötet wurden oder leiden mussten. Da würde ich für mich selbst eine Grenze ziehen, wobei das natürlich wiederum auch sozialkritisch sein kann (Stichworte: Kostüme aus Fleisch, Installationen mit Schmetterlingen, konservierte Haifische oder ähnliches), wovon es ja in der Kunstgeschichte an Beispielen nur so wimmelt.
Für mich wirkt dieser spezielle „Skandal“ schon ein bisschen so, als würde die allgegenwärtige Facebook-Empörung jetzt langsam auch die Kunst erreichen. Ich finde, da waren wir als Gesellschaft schon deutlich weiter und progressiver, als uns von solchen Sachen provozieren zu lassen. Wobei Ernährung und Nahrung vielleicht gerade auch die Themen der Gegenwart sind und es damit wieder auch gut in die Zeit passt.
Anne: Stichwort Ernährung – ja, absolut, ich glaube, das ist eine allgegenwärtige Frage. Lebensmittelüberfluss, Verschwendung, Wohlstandgesellschaft auf der einen Seite und Armut und Lebensmittelmangel auf der anderen Seite der Gesellschaft. Auch die ständig wechselnden Trends wie man sich am besten und gesündesten ernähren solle, solche Lifestyle-Ernährungsfragen spiegeln ja absolut den Zeitgeist wider.
Allergien, Unverträglichkeiten, Low-Carb oder vegan? Aber ich glaube, diese Dimensionen hat der Fotograf hier nicht im Fokus gehabt, das scheint mir etwas weit hergeholt. Dafür geht er zu „unkritisch“ mit dem Rohstoff um, dafür sind seine Bilder zu ästhetisch. Wollte er mit der Serie eine Botschaft senden, kommt sie zumindest bei mir nicht an.
Insgesamt sind die Grenzen der Kunst ja im 20. Jahrhundert Stück für Stück verschoben worden, quasi alles wurde schon zur Kunst erklärt und ebenso als Nicht-Kunst kritisiert. Ich finde es auch wichtig, dass Kunst die Möglichkeit hat, Grenzen zu sprengen – aber dann zielgerichtet. „Geschockt“ hat mich Little mit seiner Honigdusche daher nicht mehr, aber ich glaube, das wollte er auch gar nicht.
Es ist von meiner Seite aus auch mehr eine Empörung, solche wertvollen Lebensmittel ohne klare Botschaft zu verschwenden, die schönen Bilder rechtfertigen das für mich einfach nicht, zumal sie medial weit gestreut werden und bestimmt für manch einen auch als Vorbild oder Inspiration dienen. Würde er damit auf irgendwelche Missstände hinweisen wollen, würde mich die Serie vielleicht auch mehr ansprechen.
Und Sebastian, ich verstehe nicht, inwieweit Du den Honig mit dem Titel als gelungene Symbiose verstehst. Ich finde den Titel an sich gut und die Anspielung auf Fossilien nachvollziehbar – aber Honig ist nun einmal kein Bernstein. Oder meinst Du, nur weil er organisch und ein traditionelles Produkt ist, ist da schon eine Verbindung geschaffen? Ich denke weiterhin, ein künstliches Produkt hätte es genausogut getan. Und vielleicht auch noch einmal expliziter auf die Wertigkeit des Rohstoffes oder von Nahrungsmitteln allgemein hingewiesen, indem er nun einmal nicht verschwendet wird. Mit Essen spielt man eben nicht.
Chris: Was Kunst und Sozialkritik angeht, stimme ich Sebastian ganz zu. Zwar kenne ich die angeführten Beispiele nicht, aber ich denke doch, Kunst hat in gesellschaftlichen Bezügen eine Sonderstellung und eine Aufgabe. In einer Zeit, in der neoliberale Ideen weitgehend entlarvt und Gefahren von Konsum und Kapital bekannt sind, ist es eher eine Herausforderung, Menschen aus ihrer Gleichgültigkeit zu reißen. Kunst kann dazu der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten, satirisch überspitzen, karikieren oder gar aufklärend wirken.
Ich vermute mal, dass die von Sebastian aufgezählten Beispiele auch diese Intention hatten, zumindest stelle ich mir Kostüme aus Fleisch nicht sehr ästhetisch vor. Eben hier liegt die Krux der Serie von Little: Der Mangel an gesellschaftskritischer Ausrichtung und damit die fehlende Rechtfertigung für das Nutzen kritischer Themen aus rein ästhetischen Gründen.
Sebastian: Ich glaube, wir können uns darauf einigen, dass die Serie ästhetisch gelungen ist, aber die tiefere Gesellschaftskritik fehlt, wenn ich die verschiedenen Positionen so zusammenzufassen versuche. Das stimmt wohl – ich würde dazu nur noch in den Raum werfen, dass Kunst nicht immer den Zweck Gesellschaftskritik haben muss. Es ist nur eine Möglichkeit.
„Preservation“ ist als Hardcover-Buch erhältlich. Als limitierte Auflage von 750 Exemplaren umfasst die Ausgabe 68 Fotos auf 144 Seiten.