04. Juni 2011 Lesezeit: ~5 Minuten

Analoge Fotografie – Wirklichkeit nur anders

Was ist es genau, was analoge Fotografie für mich so interessant macht? Ist es die Frage, ob der Film, den ich gewählt habe, nicht doch schon seit zu vielen Jahren abgelaufen ist? Ist es die alte Mittelformatkamera, bei der ich nie vorhersagen kann, wie sehr ich mich heute auf sie verlassen kann? Ist es die Zeit, die ich mir nehmen muss, um die richtigen Einstellungen für den kommenden Schuss zu finden? Oder der Moment, in dem ich die Entwicklungsdose öffne und den Filmstreifen das erste Mal im Licht sehen kann?

Unter anderem, ja. Jedoch liegt der eigentliche Anreiz für mich darin, was die analoge Fotografie mir dadurch sichtbar macht – (m)eine Wirklichkeit nur anders.

Der Betrachter einer Fotografie schaut auf ein Fenster, welches sich der Fotograf ausgewählt hatte. Mehr sieht er nicht. Mehr wurde ihm nicht gegeben. Er wird sich mehr dabei denken, aber nur der Fotograf selbst weiß, wie es um das Fenster herum tatsächlich aussah. Der Betrachter sieht kein Drumherum. Kein hinter der Kamera. Für ihn gibt es nur das davor. Da will ich hin – von hinter der Kamera vor sie. Das Fenster ohne ein Drumherum neu erleben.

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Wenn ich das Fenster, das Stück der Wirklichkeit, auswähle, um es zu fotografieren, bin ich mir der physischen und emotionalen Bedingungen bewusst. Das Wetter und der Ort, die Stimmungen und die Störungen, die Banalität und die Besonderheit. Ich sehe alles so wie es ist, fühle alles so, wie es sich mir gibt. Überall kann ich etwas entdecken – links, rechts, hinten, vorne, oben und unten. Etwas hat mein Interesse geweckt.

Ich wähle dieses Stück, habe es nun in dieser Konstellation der Begebenheiten kennengelernt und ein genaues, reales Bild von ihm. Jetzt werde ich den Moment ablichten, mit der Spannung, dass der Film mir später das Fenster auf neue Weise öffnen wird und ich selbst dabei überrascht werde. Es wäre andernfalls zu offensichtlich für mich, zu vergesslich vielleicht, zu vergleichbar mit anderen Stücken aus dieser (meiner) Wirklichkeit. Ich kenne es so schon oder es fühlt sich zumindest bekannt an.

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Die entwickelte Filmrolle ist gescannt. Das ausgewählte Stück der Wirklichkeit nun vor mir. Nur anders. Anders als ich es sah und erlebte. Danach habe ich gesucht. Manchmal sind es nur kleine Abweichungen und dann sind sie so stark, dass die Erinnerung an das vergangene Bild kaum mehr einzufangen ist. Es entsteht eine neue Geschichte zum gleichen Ort.

Der Schwarzweißfilm verwandelt den sonnigwarmen Morgen in einen nebliggrauen Abend. Er bündelt die bunte Wahrheit, um sie uns in Grautönen neu vorzuführen. Entsprechend des Fotofilmes, den ich wähle, kann ich die Stimmung schon ein wenig in eine gewisse Richtung lenken.

Interessanter wird der Schwarzweißfilm, wenn er vielleicht abgelaufen war, falsch gelagert oder mit älteren Chemikalien entwickelt wurde. Vor unseren Augen kann eine ganz neue Art der Fotografie entstehen, wenn wir uns auf das Unvorhersehbare einlassen wollen.

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Ganz anders verhält sich der abgelaufene Farbfilm. Er wird unsere Wirklichkeit ins Traumhafte ziehen. Uns fast magisch in fremde Welten führen.

Farbfoto

Die Mehrfachbelichtung in der analogen Fotografie hält sich kaum noch an Grenzen. Wände werden durchbrochen, Körper gespalten und Zeit überlagert. Die Härte der Wirklichkeit umgangen, um alles möglich zu machen. Die genauen Belichtungszeiten und die richtigen Motivpositionen werden genau überlegt, um 2, 3 oder mehr Ablichtungen auf einem Foto stimmig zu vereinen – nun unzertrennlich auf dem Fotofilm für alle Zeit.

Mehrfachbelichtung

Langzeitbelichtungen machen Zeit sichtbar, fast schon als könnten wir sie berühren. Mehrere Sekunden als Einheit verbannt auf ein Stück des Filmstreifens. Das Geisterhafte wird durch einige Trockenflecken vom Entwicklungsprozess oder der Beschaffenheit der Kamera noch besonderer.

Langzeitbelichtung

Über- und Unterbelichtung des Filmes. Die Wirklichkeit gerät außer Kontrolle. Was ist wahr und was ist Traum? Die Gewalt des Lichts verwirrt unsere Sinne. Das Scannen des Negativs wird zum Haschen nach Fetzen unserer Erinnerung. Was eins klar schien, wird uns jetzt zum Rätsel.

Über-und-Unterbelichtung

Im Bereich der digitalen Fotografie sind unzählig viele Dinge möglich, auch viele von denen ich sprach, jedoch fehlt mir in ihr die Unvorhersehbarkeit und der Anreiz der Analog- oder auch Silberfotografie, die mich so fasziniert.
Analoge Fotografie, alte Kameratechnik und abgelaufene Filme ermöglichen es mir, in die Rolle des Betrachters schlüpfen zu können. Das Gesehene kann ich auf andere Weise neu verstehen. Mich von dem Großen trennen, um in dem Kleinen das Ganze zu sehen. Aus der Fotografin wird eine Betrachterin. Aus der einen Wirklichkeit eine andere. Zwei Welten in einer Fotografie – die eine geschaffen durch die Verwandlung der anderen.

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