Analoge Fotografie – Wirklichkeit nur anders
Was ist es genau, was analoge Fotografie für mich so interessant macht? Ist es die Frage, ob der Film, den ich gewählt habe, nicht doch schon seit zu vielen Jahren abgelaufen ist? Ist es die alte Mittelformatkamera, bei der ich nie vorhersagen kann, wie sehr ich mich heute auf sie verlassen kann? Ist es die Zeit, die ich mir nehmen muss, um die richtigen Einstellungen für den kommenden Schuss zu finden? Oder der Moment, in dem ich die Entwicklungsdose öffne und den Filmstreifen das erste Mal im Licht sehen kann?
Unter anderem, ja. Jedoch liegt der eigentliche Anreiz für mich darin, was die analoge Fotografie mir dadurch sichtbar macht – (m)eine Wirklichkeit nur anders.
Der Betrachter einer Fotografie schaut auf ein Fenster, welches sich der Fotograf ausgewählt hatte. Mehr sieht er nicht. Mehr wurde ihm nicht gegeben. Er wird sich mehr dabei denken, aber nur der Fotograf selbst weiß, wie es um das Fenster herum tatsächlich aussah. Der Betrachter sieht kein Drumherum. Kein hinter der Kamera. Für ihn gibt es nur das davor. Da will ich hin – von hinter der Kamera vor sie. Das Fenster ohne ein Drumherum neu erleben.
Wenn ich das Fenster, das Stück der Wirklichkeit, auswähle, um es zu fotografieren, bin ich mir der physischen und emotionalen Bedingungen bewusst. Das Wetter und der Ort, die Stimmungen und die Störungen, die Banalität und die Besonderheit. Ich sehe alles so wie es ist, fühle alles so, wie es sich mir gibt. Überall kann ich etwas entdecken – links, rechts, hinten, vorne, oben und unten. Etwas hat mein Interesse geweckt.
Ich wähle dieses Stück, habe es nun in dieser Konstellation der Begebenheiten kennengelernt und ein genaues, reales Bild von ihm. Jetzt werde ich den Moment ablichten, mit der Spannung, dass der Film mir später das Fenster auf neue Weise öffnen wird und ich selbst dabei überrascht werde. Es wäre andernfalls zu offensichtlich für mich, zu vergesslich vielleicht, zu vergleichbar mit anderen Stücken aus dieser (meiner) Wirklichkeit. Ich kenne es so schon oder es fühlt sich zumindest bekannt an.
Die entwickelte Filmrolle ist gescannt. Das ausgewählte Stück der Wirklichkeit nun vor mir. Nur anders. Anders als ich es sah und erlebte. Danach habe ich gesucht. Manchmal sind es nur kleine Abweichungen und dann sind sie so stark, dass die Erinnerung an das vergangene Bild kaum mehr einzufangen ist. Es entsteht eine neue Geschichte zum gleichen Ort.
Der Schwarzweißfilm verwandelt den sonnigwarmen Morgen in einen nebliggrauen Abend. Er bündelt die bunte Wahrheit, um sie uns in Grautönen neu vorzuführen. Entsprechend des Fotofilmes, den ich wähle, kann ich die Stimmung schon ein wenig in eine gewisse Richtung lenken.
Interessanter wird der Schwarzweißfilm, wenn er vielleicht abgelaufen war, falsch gelagert oder mit älteren Chemikalien entwickelt wurde. Vor unseren Augen kann eine ganz neue Art der Fotografie entstehen, wenn wir uns auf das Unvorhersehbare einlassen wollen.
Ganz anders verhält sich der abgelaufene Farbfilm. Er wird unsere Wirklichkeit ins Traumhafte ziehen. Uns fast magisch in fremde Welten führen.
Die Mehrfachbelichtung in der analogen Fotografie hält sich kaum noch an Grenzen. Wände werden durchbrochen, Körper gespalten und Zeit überlagert. Die Härte der Wirklichkeit umgangen, um alles möglich zu machen. Die genauen Belichtungszeiten und die richtigen Motivpositionen werden genau überlegt, um 2, 3 oder mehr Ablichtungen auf einem Foto stimmig zu vereinen – nun unzertrennlich auf dem Fotofilm für alle Zeit.
Langzeitbelichtungen machen Zeit sichtbar, fast schon als könnten wir sie berühren. Mehrere Sekunden als Einheit verbannt auf ein Stück des Filmstreifens. Das Geisterhafte wird durch einige Trockenflecken vom Entwicklungsprozess oder der Beschaffenheit der Kamera noch besonderer.
Über- und Unterbelichtung des Filmes. Die Wirklichkeit gerät außer Kontrolle. Was ist wahr und was ist Traum? Die Gewalt des Lichts verwirrt unsere Sinne. Das Scannen des Negativs wird zum Haschen nach Fetzen unserer Erinnerung. Was eins klar schien, wird uns jetzt zum Rätsel.
Im Bereich der digitalen Fotografie sind unzählig viele Dinge möglich, auch viele von denen ich sprach, jedoch fehlt mir in ihr die Unvorhersehbarkeit und der Anreiz der Analog- oder auch Silberfotografie, die mich so fasziniert.
Analoge Fotografie, alte Kameratechnik und abgelaufene Filme ermöglichen es mir, in die Rolle des Betrachters schlüpfen zu können. Das Gesehene kann ich auf andere Weise neu verstehen. Mich von dem Großen trennen, um in dem Kleinen das Ganze zu sehen. Aus der Fotografin wird eine Betrachterin. Aus der einen Wirklichkeit eine andere. Zwei Welten in einer Fotografie – die eine geschaffen durch die Verwandlung der anderen.
Wow…
Der Artikel und die Bilder haben etwas magisches, genau wie die analoge Fotografie.
So. Jetzt reicht’s. Ist zwar kein Mittelformat, aber: Hab ne alte Olympus OM ersteigert, geh jetzt nen Film kaufen und probier die analoge Nummer auch einmal aus. Muss ja was dran sein, wenn das alle Welt immer wieder propagiert.
…und melde mich dann wahrscheinlich kleinlaut zurück…
Ganz vergessen: Stimme meinem Vorredner zu, die Bilder haben echt was besonderes.
da hast dir meine einsteiger olympus zugelegt damit habe ich angefangen so 1984 oder so..die OM 10 viel spaß damit mir hat sie immer treue dienste geleistet…
wünderschön bin selbst auch ein anhänger der analogen fotographie und deine bilder haben mich echt umgehauen
danke für die neue inspiration die ich jetzt habe
werd gleich mal den 3 jahre abgelaufenen farbfilm anpacken :)
Ich muss leider gestehen, dass mir weder der Text (zu pathetisch) noch die Fotos (zu „willkürlich“) wirklich gefallen. Hatte dieses Mal leider nicht das Gefühl, was man sonst bei den meisten Beiträgen hier hat, dieses „Mitgerissen-werden“! Liegt aber natürlich auch zu einem Großteil daran, dass mich die Analogfotografie nicht reizt – kommt ja eventuell noch ;)
deine Entdeckungsreise in die Außenwelt, berührend für dich, wie für uns. ein cooler Trick: alte filme, klapprige Kameras, weiß der Teufel welche Chemie, Hauptsache es funktioniert – wir kommen an: bei uns.
eine schöne beschreibung der analogen fotografie. mit verstand und wichtig mit viel gefühl für den entstehungsprozess bis zum fertigen foto.
spannend wird die analoge fotografie auch wegen dem spiel mit angeblich vergänglichen wie hier beschrieben. die „abgelaufenen“ filme sorgen für was ganz neues auch beim fotografen…
wenn man dann die negative eine zeit liegen läßt und nicht betrachtet also nicht einmal aus neugier nach dem entwickeln wird es sogar noch spannender denn man kann sich manchmal schwer an den moment erinnern und an die stimmung und so hat man als fotograf nun die unweigerliche rolle des zuschauers eingenommen..das ist teilweise magie…
ein wunderbarer artikel..ich mag diese art der beschreibung..danke
Jedes dieser Beispiele lässt sich problemlos mit auch mit digitalen Mitteln erzielen. In Variationen, farbig oder in schwarzeiss. Man muss es nur wollen. Aber irgendwie scheint man Bilder nicht nur nach dem Ergebnis zu beurteilen. Wenn sie ihn kennen, beurteilen die Leute den Entstehungsprozess mit. Ich frage mich schon lange ob das wirklich relevant ist. In der Werbung auf alle Fälle nicht. Da würde man ein suboptimales Ergebnis nicht deshalb akzeptieren, weil betont wurde, dass es auf analogem Wege entstanden ist. Analoge Fotografie ist nicht mehr als ein Sport für Liebhaber, denen es Spaß macht mit den Limitierungen des Materials zu arbeiten. Wer wirklich glaubt er würde es wegen der zu erzielenden Ergebnisse betreiben, beherrscht den digitalen Prozess nicht. Ich habe 20 Jahre analog fotografiert und im Labor entwickelt, seit 20 Jahren betreibe ich digitale Bildbearbeitung und seit 5 Jahren fotografiere ich digital.
Matthias Töpfer
Da gehst du in deinem Post meiner Meinung nach aus der falschen Richtung ran, Matthias. Natürlich kann man die analogen Artefakte digital nachempfinden, sogar „analoger als analog“ werden wenn man will und das Können in der Nachbearbeitung mitbringt.
Für mich war aber der rote Faden des Textes eben eine andere, für einen Fotografen ungewohnte Rolle einzunehmen – die des Betrachters. Also die meisten der Fäden – die man so gerne in der Hand hat und kontrolliert – loszulassen und die „Limitierungen des Materials“ einfach machen lassen. Klar ist das blöd wenn man auf ein unbedingt verwertbares Produkt hinsteuern will/muss, da geb ich dir recht dass mit dieser Motivation beim Fotografieren Digital die besseren Karten hat.
Es gibt da viele Analogien zum Musikmachen, zielgerichtetes Komponieren vs. einfach loslassen und bei nem Jam o.ä. gleichzeitig Produzent und Rezipient sein. Und auch da formen die Vorraussetzungen wie Können, Talent, äussere Umstände, Gemütszustand, Equipment oder der Mangel daran uswusf. das Ergebnis/Erlebnis.
Hat beides seine Berechtigung und ist eben auch sehr vom Typ abhängig. Ich geniesse es sehr mal Dingen ihren Lauf zu lassen – wie die Authorin ja anscheinend auch ;)
Selten las ich soviel blind getippten Text. Wenn das einzige Mittel der Inspiration der Zufall ist (abgelaufener Film, falsche Chemikalien, ungenaue Aufnahmetechnik), dann ist der Zufall die einzige Quelle von Kunst. Ich brauche also keine Fantasie, keine Disziplin, keine innere Unruhe, keine Ohren für die innere Stimme, keine Unterhaltung, keine Inspiration. Alles was nötig wäre ist ein großer Topf in den ich alle Zutaten gebe und anschließend andere kosten lasse.
Ob nun Zufallsprodukt oder Alltagsgegenstand – beide Extrema wurden schon ausführlich durchgekaut. Interessant ist das Zwischendrin, die Absicht, das menschgemachte im scheinbaren Zufallsprozess. Das einzig menschliche in den o.a. Bildern sind Neugier und die kindliche Freude, vollkommen subjektive Empfindungen und mich als Betrachter finde ich darin überhaupt nicht bedacht. Nicht ein einziges Bild versucht den Tischtennisspieler im Gorillakostüm metaphorisch zu transportieren (eine eben erdachte Erwartungshaltung eines hypothetischen Betrachters, der gern Metaphern von Tischtennisspielern in Gorillakostümen erfährt, sammelt und teuer bezahlt).
Siehe hier.
stark!
Tolle Beschreibung der analogen Fotografie! Du triffst das Gefühl wirklich gut, der Text ist anregend geschrieben, man bekommt direkt Lust, sich jetzt sofort die Kamera zu schnappen, selbst loszugehen, zu fotografieren und dann selbst zu entwickeln, das Gefühl des Wartens auf das Resultat, diesen kleinen Schritt ins Ungewisse, abzuwarten.
Ich bin Schüler, somit recht jung, was bedeutet, dass ich praktisch in dieses digitale Zeitalter „hineingeboren“ wurde, ob gut oder schlecht, es ist auf jeden Fall ein wenig schade, die Anfänge der Fotografie, wenngleich diese auch bis in viel weiter zurückliegender Zeit verwurzelt liegen, verpasst zu haben. Alles was mir zur Verfügung steht an analogen Mitteln ist eine recht junge analoge Spiegelreflexkamera, wobei ich vermute, dass diese immer noch älter als ich ist. Trotzdessen, ist es nicht das, was ich möchte. Nun denke ich darüber nach, mir eine Diana+ Kamera zuzulegen, nur aus experimentellen Gründen, ein wenig mit dem Look der Fotografien zu spielen, das Gefühl zu erleben ins Ungewisse zu treten, auf den fertigen Film zu warten, auszuprobieren, zu erleben. Denn ich denke Fotografie ist mehr als „nur“ das Festhalten eines Momentes, einer einzelnen Situation oder eher der Ausschnitt einer solche, nein, vielmehr ist es das Wecken der Kreativität und des Lebens, der Erinnerungen und der Emotionen, Fotografie ist etwas unbeschreibliches und ich muss sagen, dass ich bei meinem Versuch gerade kläglich gescheitert bin, wohingegen du dieses Gefühl der Fotografie in deinem Text perfekt getroffen und festgehalten hast, Hut ab!
hey nanne,
schöne worte hast du gefunden. ich bin ja eh fan deiner bilder.
@matthias: sicherlich kann man alles digital am computer nachahmen, aber das ist für mich nicht so das gelbe vom ei. der zufall hat schon vielen künstlern zum erfolg verholfen, deshalb kann man nicht bestreiten, dass kunst oftmals ein entwicklungsprozess ist, der sich nicht immer vollkommen planen lässt.
übrigens erschließt es sich mir nicht, warum ich mit aller mühe ein digitales foto umbedingt analog aussehen lassen muss?! ich finde das falsch. denn wenn man somit ein supertolles foto erstellt und jeder denkt dann „wow, wie er hat man das nur mit analogen mitteln geschafft?“ wird einem falsche ehre zuteil. sicherlich hat alles seine darseinsberechtigung, aber was mich bei digitalen fotos immer nervt, dass sie alle bearbeitet sind. mir kommt es fast so vor als wenn man gar keine gute digitalen fotos ohne bearbeitung hinbekommt. belehr mich eines besseren, wenn du kannst.
lg
Also, da sag ich mal ja.
Bei digitalen Fotos gehört die Bildbearbeitung genauso dazu, wie du bei analogen Fotos, den Film auswählst, die Chemikalen, die Du zur Entwicklung benutzt, die Dauer, wie lange Du entwickelst…etc. Auch analoge Fotos durchlaufen einen Bildbearbeitungsprozeß. Deswege schlage ich vor, dass man diese ewige Diskussion, ob analog oder digital, einfach mal hinten runter fallen lässt. Was zählt, ist das fertige Bild. Wie das entstanden ist, ist mir vollkommen egal.
das finde ich überhaupt nicht egal! ist klar, dass es deinen kunden (wenn du es so richtig professionell machst) nicht interessiert, und dass es ihm nur auf das fertige produkt ankommt. aber im endeffekt mache ich die bilder erst einmal für mich. und das ist es auch, was mich an der werbebranche stört. es ist alles so falsch und plakativ und unecht und überhaupt kommt es nur darauf an, eine möglichst große masse zu erreichen. gerade deshalb mag ich analog. es kommt eben nicht nur auf ein perfektes produkt an. in einem analogen foto steckt so viel mehr. die ganze herangehensweise ist eine andere. allein das sehen, das sicherlich auch durch verknappte materialien gefördert wird, ist ein ganz anderes. nein, es kommt nicht nur auf das fertige bild an! und dafür bin ich dankbar.
Bin durch Zufall hier gelandet. Bin in den Besitz einer Olympus mjuh-1 gelangt und dazu gab’s Filmmaterial, daß 6 Jahre überlagert ist.
Deine Bilder sind schaurig-schön, teilweise grotesk und trostlos und erinnern mich an den Film „Eraserhead“ von David Lynch. Bin momentan eher digital orientiert, werde aber der analogen Photographie niemals vollends den Rücken zukehren.
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JOE