06. Juni 2014 Lesezeit: ~8 Minuten

Gedanken zur Unschärfe

Seit jeher existiert die Vorstellung, Unschärfe habe etwas mit Fehlerhaftigkeit zu tun. Einerseits geben doch zahlreiche Handbücher standardmäßig Tipps, wie man Unschärfe vermeiden kann, andererseits sind es gerade unscharfe Fotos, die den Betrachter besonders in ihren Bann ziehen. Gibt es also gute und schlechte Unschärfe?

Ich beschäftige mich gern historisch und kunstwissenschaftlich mit verschiedensten Dingen, die mir in der Fotografie begegnen und über die ich dann länger nachdenken muss. Unschärfe ist eines davon. Es ist spannend, wie sich eine vermeintliche Fehlerhaftigkeit, nämlich, dass einzelne Bildteile nicht zu erkennen sind, in der Kunst etabliert hat, und das in erstaunlich vielen Formen. Und hier darüber zu schreiben, ermöglicht es mir erneut, einige meiner liebsten Unschärfefotos anderer Fotografen vorzustellen.

Schon in der frühen Landschaftsmalerei war Unschärfe ein beliebtes Stilmittel, eine romantische Grundstimmung zu schaffen. Man denke nur an Caspar David Friedrichs abendliche Naturlandschaften, in denen Himmel und Erde scheinbar nahtlos ineinander übergehen.

Konturenschärfe zeugt von Kontrolle über das Gesehene, ein scharfer Blick impliziert Präzision und Unbestechlichkeit, Unschärfe hingegen ermöglicht es dem menschlichen Auge, Dinge miteinander sanft verschmolzen zu sehen, wo sonst vielleicht nur harte Kanten oder schroffe Gegensätze zu finden wären.

Ob bei Landschaft oder Architektur, so können Gegensätze besänftigt und malerisch weich gemacht werden. Unschärfe hat also eine Funktion und ist nicht nur ein zufällig gewählter Pinselstrich oder eben in der Fotografie ein falsch eingestellter Fokus. Im übrigen sind heutzutage Schärfe und Unschärfe feste Termini der Fotografie, während bei gemalten Bilden eher von Sfumato oder Verblauung gesprochen wird.

Fotograf: Ludwig West

Fotograf: Ludwig West

Fotografin: Snjezana Josipovic

Fotografin: Snjezana Josipovic

Seit der Erfindung der Daguerreotypie und somit der Möglichkeit, Fotografien dauerhaft zu fixieren, diente das Foto als Wiedergabe der Wirklichkeit in all ihren Details. Erst 1859, also 20 Jahre nach ihrer Erfindung, wurde die Gleichung Fotografie = Schärfe auf einer internationalen Konferenz in London erstmals in Frage gestellt.

Plötzlich wurde empfohlen, statt gleichmäßiger Schärfe mal den Hintergrund verschwimmen zu lassen, doch erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die „unscharfe Richtung“ auch Mode im deutschsprachigen Raum. Es wurden in Fachzeitschriften sogar regelmäßig Tipps gegeben, wie man durch Gelatinefolien, Tüllschichten oder sogar Damenstrümpfe zwischen Kamera und Objektiv gespannt, feine Unschärfen erzeugen konnte.

Es galt vor allem als schick, gerade Frauen nicht gnadenlos vollscharf abzubilden, sondern sie dezent weichzuzeichnen, um eventuelle kleine Makel so vertuschen zu können. Auch heute gibt es eine Tendenz, weibliche Modelle eher unscharf abzulichten, um ihnen eine Zartheit zu verleihen. Doch auch hier variiert der Grad der Unschärfe natürlich erheblich.

Portrait einer nackten Frau in kalten Farben

Fotograf: Hasse Linden

Portrait einer blonden Frau im BH, vor einem Heizkörper.

Fotografin: Orphin

Ob es nun darum geht, etwas zu vertuschen oder bestimmte Dinge in den Fokus zu rücken, um die unscharfen Aspekte zu überlagern und somit den Blick des Betrachters gezielt zu lenken, ist letztendlich eine Frage des Wahrheitsanspruches an das Foto und welche Geschichte es erzählen soll.

Scharfe Details haben eine besonders blickfangende Wirkung, wenn der Rest des Bildes in partieller Unschärfe verschwimmt. Dabei ist es spannend, wie manchmal Vordergrund und manchmal Hintergrund als Blickfänger dienen, allein durch die Entscheidung zu Schärfe und Unschärfe.

Fotografin: Marit Beer

Fotografin: Marit Beer

Fotografin: Nastya Kaletkina

Fotografin: Nastya Kaletkina

Der Fotograf Heinrich Kühn war 1897 der Meinung, es sei Aufgabe der Unschärfe, innere Bilder sichtbar zu machen. Vorstellungs- und Erinnerungsbilder waren für ihn so fotografisch umsetzbar, denn auch unser echtes Erinnerungsvermögen gibt uns keine detaillierte Aufschlüsselung, wie eine vergangene Szene genau ausgesehen hat.

Farbe und Muster einer Tapete, die Form eines Möbelstücks oder Details der Kleidung, an Einzelheiten können wir uns oft nur unscharf erinnern. Verblasste Erinnerung hat ähnlichkeiten mit unscharfen Fotografien, auch wenn Wissenschaftler bestreiten, dass es überhaupt so etwas wie ein „inneres Bild“ gebe und dieses Denken lediglich inspiriert sei durch Filme.1

Und wirklich: Unschärfe fungiert in Filmen gleichsam als Code, denn man hat gelernt, dass es sich entweder um eine Rückblende oder einen Traum handeln muss, wenn die Bilder verschwimmen oder weichgezeichnet sind. Denkt mal drüber nach, es ist faszinierend, wie stark wir filmisch geprägt sind!

Dennoch ist es spannend, wie ein unscharfes Foto uns Verschwinden suggeriert, einen übergang zwischen Realität und Nichts, ein indefinites verträumtes Dazwischen und der Betrachter zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit hin- und hergeschoben wird.

Fotografin: Snjezana Josipovic

Fotografin: Snjezana Josipovic

Fotografin: Celeste Ortiz

Fotografin: Celeste Ortiz

Im Bildjournalismus hingegen haben unscharfe Fotos eine genau entgegengesetzte Wirkung auf den Betrachter: Sie zeugen von Authentizität. Selbst ein verwackeltes Foto hat einen Sensationscharakter, man vermutet den ehrlichen Schnappschuss eines Fotografen, der frei von Kalkül oder Verwertungsinteresse zufällig Zeuge einer bestimmten Szene wurde.

Ob Geisterfotografie oder andere mystische Begebenheiten – je unglaubwürdiger eine Begebenheit, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass das Beweisfoto unscharf ist. Dass auch hier der Betrachter geschickt manipuliert wird, ist offensichtlich.

Fotograf: Moune Drah

Fotograf: Moune Drah

1907 heißt es in einer Rezension zu einer Fotoausstellung dann liebevoll ausgedrückt:

Der Apparat nimmt die Gegenstände nicht mehr wie früher mechanisch auf, sondern sieht sie durch ein Temperament. Er kann blinzeln und fixieren, kann über Kleinigkeiten hinwegsehen und bei Bedeutendem verweilen, kann auch verzeichnen und schrullenhaft sein, mit einem Wort: Er hat eine Seele bekommen.2

Und auch ich habe bei manchen Fotografien genau dieses Gefühl, dass die alte Kamera eine Seele hat und unscharfe Bilder erzeugen in mir oft die Illusion, mit meinem Blick alles und doch nichts greifen und begreifen zu können. Für mich ist es manchmal befreiend, den Blick nicht auf vorgegebene scharfe Punkte fixieren zu müssen, sondern den Gedanken freien Lauf zu lassen. Eine Nassplatte auf sich wirken lassen, mit all ihren Unschärfen dank — aus heutiger Sicht — längst überholter Technik.

Fotograf: Jan Eric Euler

Fotograf: Jan Eric Euler

Ein Bild, das seinem Betrachter Details vorenthält, gibt sich auch selbst nicht preis. Viel mehr zelebriert es eine gewisse Distanz und Rätselhaftigkeit, was wiederum unser Interesse weckt.

Oder: „Das Bild besitzt auf einmal die Autorität, auch schweigen zu dürfen und sich nicht verhören lassen zu müssen“, wie es Wolfgang Ullrich in seiner „Geschichte der Unschärfe“ sehr passend ausdrückt.3 Atmosphäre, Stimmung und die eigene Fantasie des Betrachters rücken in den Mittelpunkt und er muss selbst die Leerstellen füllen, die das Foto ihm vorgibt.

Ich bin ein großer Bewunderer von Unschärfe, ist sie auch manchmal Mittel zum Zweck, uns auf etwas aufmerksam zu machen oder etwas vor unserem Auge verschwimmen zu lassen. Trotzdem glaube ich, ist es oft genug Zufall, dass genau im Moment des Abdrückens der Fokus falsch justiert war. Und gerade diese Fotos sind es, die zeigen, dass es keine unpassende oder falsche Unschärfe geben kann, wenn das Foto eine eigene Poesie, ästhetik und Geschichte besitzt.

Fotografin: Anne Henning

Fotografin: Anne Henning

Oder, wie es die großartige britische Fotografin Julia Margaret Cameron, die im 19. Jahrhundert für ihre unscharfen Portraits berühmt war, aber auch vielerorts kritisiert wurde, schon 1864 ausgedrückt hat: What is focus – and who has a right to say what focus is the legitimate focus?

 

Quellen und Literatur

1 Wolfgang Ullrich, Die Geschichte der Unschärfe, S. 75
2 Fritz Matthies-Masuren, Künstlerische Photographie, S. 94
3 Wolfgang Ullrich, Die Geschichte der Unschärfe, S. 15

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