Fotografisches Wachstum in Vielfalt
Die Fotografie fordert mich zur künstlerischen Auseinandersetzung mit der Umwelt heraus und damit zu neuen visuellen Erfahrungen. Der Ausdruck „Wachstum in Vielfalt“, stammt von dem Physiker Anders Levermann und beschreibt sehr treffend, was mich fotografisch antreibt. Ehe ich dies näher erläutere, stelle ich einige meiner fotografischen Positionen vor.
Flut-Skulpturen
Die Folgen des menschengemachten Klimawandels in der Antarktis, dem Regenwald, in den Korallenriffen und in anderen entfernt gelegenen Gegenden, begegnen uns tagtäglich in den Nachrichten. Dass der Klimawandel auch mein eigenes, persönliches Umfeld erreicht hat, zeigte mir die katastrophale Flut im Ahrtal im Juli 2021.
Unzählige Male bin ich von Wiesbaden aus durch das Ahrtal in die Eifel, meine zweite Heimat, gefahren. Zwei Wochen nach dem verheerenden Ereignis widersetzte ich mich allen Vorwürfen des Katastrophentourismus und fuhr ins Ahrtal. Der Drang, die Folgen des Klimawandels auch hier mit eigenen Sinnen zu erfahren, war einfach zu groß.
Ich parkte mein Auto auf einem Forstweg weit oberhalb des Ahrtals. Von einer Katastrophe war nichts zu sehen, lediglich Rinnen von niedergedrücktem Gras in den Wiesen deuteten an, dass dort in ungewohnter Weise Wasser aus dem Wald geflossen war und sich in kurzer Zeit zu reißenden Bächen entwickelt hatte. Umso größer war der Kontrast zu den Regionen in Reichweite der Flut.
Die ersten Meter waren über und über mit schwimmfähigem Müll bedeckt, danach war alles mit braunem Schlamm überzogen oder getränkt. Abwechselnd roch es trocken, staubig, dann faulig und feucht. Dichter am Fluss drang der Geruch von Heizöl unangenehm in die Nase. Alle vertrauten Ansichten waren entweder komplett verschwunden oder absurd verändert.
Die Ortschaften, zu denen ich kam, wimmelten von Polizei, Feuerwehr, THW und Bundeswehr. Schlammverschmierte Anwohner und Helfer schleppten mit Eimern Schlamm aus ihren Kellern und Wohnungen. In der Luft knatterten mehrere Hubschrauber.
Um meine völlig überreizten Sinne zu beruhigen, suchte ich die Einsamkeit außerhalb der Ortschaften. Dort konnte ich allmählich anfangen, fotografisch zu sehen und den Gesamteindruck der dystopischen Landschaft reflektieren.
Die Natur hatte ihre immense Kraft gezeigt. Eine Kraft, menschliche Tragödien auszulösen und Bauten und Strukturen zu zermalmen. Die Flut hatte Bahnschienen aus ihren Schwellen gerissen, verbogen und auseinanderbrechen lassen. Autos waren zu schlammverschmierten Blechknäueln verformt. Aus jeder Struktur, ob Baum, Strauch, Verkehrsschild, Zaunpfahl oder was auch immer der Flut mehr oder weniger standgehalten hatte, waren durch die bizarre Umwickelung mit Stofffetzen, Plastikteilen und anderem kaum identifizierbarem Müll groteske Skulpturen geworden.
Während der Aufräumarbeiten entstanden Müllberge von eigener Dramatik und fast schon abstrakter Schönheit. Über mehrere Besuche des Ahrtals hinweg wurden diese Müllberge und Flut-Skulpturen für mich zu einem Sinnbild der Urgewalt der Natur. Aber nicht nur im zerstörerischen Sinne, sondern auch als Zeichen der Regenerationsfähigkeit der Natur und der Widerstandskraft des Menschen.
Dies erzeugte bei mir das ambivalente Gefühl, dass aus jeder schrecklichen Zerstörung auch wieder Neues entstehen kann. Neben den eigentlichen Bildern der Flut-Skulpturen zeigt die Serie daher auch atmosphärische Landschaftseindrücke, die meine Ambivalenz nachvollziehbar machen sollen.
WesterWorld
Der häufige Wechsel meines Arbeitstitels während der Entstehungszeit dieser Serie von „WesterWorld“ zu „Heimat, aber wie?“ zu „Sondierungen“ und mittlerweile zurück zu „WesterWorld“ zeigt, wie ich im Nebel stochere, „sondiere“, um mich den Themenbereichen Heimat, Identität und Bestimmung zu nähern.
Geboren 1957, bin ich, mit einer diffusen Haltung gegenüber dem Wort „Heimat“ aufgewachsen. Diese Ambivalenz hat der Autor und Philosoph Christian Schüle 2017 in seinem Buch „Heimat: Ein Phantomschmerz“ sehr treffend ausgedrückt: „Heimat ist das Recht, Erinnerungen auszuprägen, Sehnsüchte zu generieren und Vergangenheiten zu verklären.“
Um mich der deutschen Heimat auszusetzen, bin ich immer wieder durch den Westerwald, den Hunsrück und die Eifel, also übers Land, gefahren. Meine Aufnahmen sind Sonden, wie sich im ländlichen Deutschland, quasi zwischen den Zeilen, Kultur und Geschichte widerspiegeln. Kann man nach den vielen kulturellen und wirtschaftlichen Umbrüchen noch von einer spezifischen deutschen Kultur sprechen?
Zeigen sich in den Bildern Wurzeln meiner Herkunft und vielleicht sogar meiner Identität? Und kann ich daraus erahnen, wie sich die Zukunft gestalten wird? Vielleicht ermöglicht die Fotografie einen Blick über Zeitgrenzen hinweg, gemäß des Satzes der amerikanischen Fotografin Sally Mann: „… photographs open doors into the past but they also allow a look into the future.“
Entzauberung
Für WesterWorld fotografierte ich eine ehemalige Metzgerei (Dorndorf, Dezember 2016). Vor dieser stand ein Kaugummiautomat. Erst durch die Aufnahme wurde mir bewusst, dass ich eigentlich seit meiner Kindheit diese Alltagsgegenstände nicht mehr bewusst wahrgenommen hatte. Ich hielt diesen Automaten für eine übriggebliebene Kuriosität, bis ich immer mehr dieser Automaten sah. Sie sind auch heute noch in fast jedem ländlichen Ort zu finden.
Zum einen fand ich es erstaunlich, wie selektiv man schaut und nur die Dinge wahrnimmt, die dem eigenen Interessensraum entsprechen. Zum anderen fand ich bemerkenswert, dass diese Automaten an Orten stehen, die man bestenfalls als Durchgangsstationen bezeichnen kann. Tatsächlich wählen die Automatenaufsteller die Nähe zu Bushaltestellen, da diese von Schulkindern, den hauptsächlichen Nutzern dieser Automaten, frequentiert werden.
Der französische Anthropologe Marc Augé prägte den Begriff „Nicht-Orte“ für monofunktionale Bereiche, denen eine eigene Geschichte, Beziehung und Identität fehlen. Fast hat es den Anschein, dass Kaugummiautomaten Indikatoren solcher Nicht-Orte sind.
Die ersten Aufnahmen bei Tageslicht enttäuschten mich. Das Auge musste auf den Bildern nach den Automaten regelrecht suchen und der Umgebung fehlte eine der Thematik entsprechende Stimmung. Daher entwickelte ich das Konzept, in der Dämmerung zu fotografieren und die Automaten durch eine zusätzliche Beleuchtung hervortreten zu lassen. Zusätzlichen wählte ich als seriellen Ansatz, alle Automaten im Zentrum eines Quadrats zu positionieren.
Ich ergänzte die Serie durch Aufnahmen der Objekte aus den Automaten, also durch Bilder von Kaugummibällen, Spielsachen, Schmuck und anderem Nippes. Damit lebt die Serie „Entzauberte Kindheitsträume“ von dem Kontrast zwischen den Objekten aus den Kaugummiautomaten und den „Nicht-Orten“, an denen diese zu finden sind. Konzeptuell entfaltet sich eine Topografie der verlorenen Kindheit.
Die kindlichen Schätze – vor schwarzem Hintergrund aufgenommen – werden in starker Stilisierung und popartiger Überhöhung gezeigt. Die Verkaufsautomaten – durch Spotbeleuchtung hervorgehoben – verbleiben in ihrer zwielichtigen „Nicht-Ort“-Umgebung. So umkreist die Serie die Kluft zwischen der Magie der Kindheit und der Entzauberung erster Kindheitsträume.
Angesichts der allgegenwärtigen Bilderflut frage ich mich natürlich auch, was mich zur Fotografie antreibt. Ich arbeite als Wissenschaftler, als Biologe. Als solcher stelle ich Fragen, auf die ich in Experimenten eine objektive, quantifizierbare Antwort erhoffe. Die Antworten der Biologie, deren Fokus heutzutage auf der Aufklärung hochverzweigter Netzwerke liegt, sind nur noch als Visualisierungen komplexer statistischer Auswertungen zugänglich.
Als Künstler stelle ich auch Fragen, aber die Antworten sind anders: Es sind emotionale Reaktionen auf das, was ich anschaue, was ich künstlerisch untersuche. Zudem gewinnen Themen wie die fortschreitende Entfremdung zwischen Menschen und Natur und die Frage nach der eigenen Kultur und Identität eine immer stärkere persönliche Bedeutung.
Die Fotografie gibt mir aber auch einen direkten Zugang zur Natur, wie ich am Beispiel der nächsten Arbeit zeigen möchte.
Grenzflächen
Immer wieder kehre ich zu den Sandsteinfelsen im Pfälzer Wald zurück. Schon oft habe ich dort im Zelt oder im Biwaksack unter den überhängenden Felsen übernachtet, um die verschiedenen Lichtstimmungen wahrzunehmen. Das intensivste Erleben der mit Algen, Moosen und Flechten bewachsenen, bizarr durch Wind und Wasser erodierten Oberflächen der Felsen ist dann möglich, wenn frischer Schnee das Morgenlicht unter die Felsüberhänge reflektiert. Die Suche nach abstrahierenden Bildkompositionen versetzt mich oft in einen regelrechten Flow-Zustand.
Es entstehen Bilder ohne Maßstab. Es können Darstellungen des Mikrokosmos als auch des Makrokosmos sein. Das Fotografieren wird zu einer Meditation, zu einem Erleben des eingangs erwähnten Wachstums in Vielfalt. Der Ausdruck stammt von dem Physiker und Klimaforscher Anders Levermann. Er sagt, dass der Mensch, angesichts der Endlichkeit des Planeten, seinen Hang zu Dynamik und Wachstum nur im Wachstum an Diversität ausleben könne. Ein System, das „wisse“, dass der Raum endlich sei, falte sich in den Raum zurück, bevor es mit seinen Grenzen kollidiere.
Das fotografische Erleben der biologischen und visuellen Vielfalt innerhalb der räumlich eingegrenzten Erosionslöcher der Felsoberflächen lässt mich hoffen, dass wir die Endlichkeit der Erde akzeptieren und trotzdem unserem Grundbedürfnis nach dynamischer Entwicklung in Respekt vor diesen Grenzen durch Förderung und Wertschätzung von Vielfalt genügen können.