08. September 2020 Lesezeit: ~6 Minuten

Plexus – Eine Reise in die Familiengeschichte

Something unreal seeps into the reality of the recollections that are on the borderline between our own personal history and an indefinite pre-history, in the exact place, where, after us, the childhood home comes to life in us […] [I]magination, memory and perception exchange functions. The image is created through co-operation between real and unreal. (Gaston Bachelard, The Poetics of Space (New York, Penguin Books, 2014), p. 79)

In meinem Langzeitprojekt „Plexus“ beschäftige ich mich mit vererbtem Trauma, indirekt erlebten Erinnerungen1 und dem Einfluss der Familie auf psychologische, gesellschaftliche und kulturelle Prozesse. Unverarbeitetes Trauma kann nicht nur durch Verhaltensweisen, Kommunikation und Erziehung an die nächste Generation weitergegeben werden, sondern verändert nach neueren Erkenntnissen in der epigenetischen Vererbung sogar den Code unserer DNA.2

Ein altes Foto von einer Gruppe Menschen vor einem Fachwerkhaus

Vor allem durch den Tod meiner Großmutter und viele Gespräche mit meiner Mutter kristallisierte sich heraus, wie sehr wir noch immer von den Erlebnissen ihrer Eltern und Großeltern beeinflusst werden und wie lückenhaft unser Wissen ist.

Als zweite Nachkriegsgeneration fällt es leicht, sich von der bekannten Geschichte zu distanzieren und dabei zu vergessen, wie nah vieles ist und wie sehr uns die Erlebnisse vorheriger Generationen noch in den Knochen stecken. Während ich mich dann dabei ertappe, wie ich das Verhalten meiner Mutter und Großmutter wiederhole, sehe ich der Geschichte zu, wie sie sich parallel dazu in ähnlichen Mustern entspinnt.

Für „Plexus“ begebe ich mich in das Anwesen der mütterlichen Seite meiner Familie und arbeite mit meiner Kamera, den Fundstücken und Räumen des Hauses. Die Architektur wird zu einer Bühne, die Gegenstände zu zentralen Gestalten – eine fiktive Familienaufstellung, ein Theaterstück.

Eine Decke, von der es tropftabgetrennte Gänsefüße stehen  auf einem Holzboden

Seit ich 2018 begonnen habe, an der Serie zu arbeiten, verwandelt sich das Haus immer mehr in eine Projektion meines eigenen Verstandes3 und in eine Allegorie für meine Wahrnehmung des Weltgeschehens. Die Objekte in den Bildern agieren als Stellvertreter und werden zu einer Manifestation und Beschwörung, denn man kann nur konfrontieren, was sichtbar ist, was „Fleisch“ und Angriffsfläche besitzt.

Statt eine genaue Chronologie zu rekonstruieren, sehe ich die Arbeit als Destillat, das die eigene Erfahrung zu einem Symbol abstrahiert und das den Betrachtenden die Möglichkeit geben soll, eigene Assoziationen und Gedanken dazu in Beziehung zu setzen.

Das Anwesen meiner Großeltern befindet sich seit mehr als 200 Jahren im Besitz der Familie meines Großvaters. Und über die Jahre wuchs das Haus wie ein großer Organismus, der noch immer viele fragmentarische Geschichten in sich trägt. Insbesondere meine Großmutter schlummert noch in allen Ecken und Räumen.

Kaffeetasse mit Motte

In der Arbeit konzentriere ich mich vor allem auf meine matrilineare Blutlinie, also die „magische“ Verbindung zwischen Tochter, Mutter und Großmutter. Ich fülle die verbliebenen Lücken meiner fragmentarischen Familiengeschichte mit eigenen Bildern und Assoziationen, die zu neuen Zusammenhängen, Narrativen und Bildern zusammenwachsen, die das Heute mit dem Damals, das Persönliche mit dem Universalen verbinden.

Vergleichbar mit diesem Prozess werden auch Überlieferungen und indirekt weitergegebene Erinnerungen zu Bildern im Kopf, und zu eigenständigen Erinnerungen für sich – ein wortwörtliches „Kopfkino“ – sie erschließen einen neuen Gedankenraum und nisten sich darin ein, obwohl sie nie direkt erlebt wurden. Die Bilder der Vergangenheit werden zu Bildern der Gegenwart und fließen in stetiger Metamorphose weiter in die Zukunft, wo sie neue Bilder anstoßen.

Foto eines Soldaten auf schmutzigem HolzStricke an einem Pfahl

Die Fotografie ermöglicht mir, solche Gedankenräume zu öffnen und zugänglich zu machen. Sie atmet im Zwielicht, an der Schwelle zwischen einer inneren, emotionalen und einer externen, gemeinsam erlebten Realität. Das Bild entfaltet sich zwischen Traum, Imagination, Erinnerung und Erfahrung, zwischen Mythos und Wahrheit. Es wird zu einem Portal ins Innere und zu einer Einladung für die Betrachtenden, die diesen Raum neu einrichten, sobald sie sich entschließen, ihn zu betreten.

Die Kamera stellt für mich dabei das Zwischenstück dar, das es mir erlaubt, mein Innenleben ins Bild zu übertragen. Sinnbildlich sehe ich den Apparat als psychologischen Mutterleib – das Bild gleichzeitig als „Kind“ meines Denkens und als Raum.4 Dieser fast schon generative, mental-reproduktive Aspekt erhält in „Plexus“ für mich zusätzlich eine besondere Bedeutung, denn die Kollaboration und die Gespräche mit meiner Mutter sind ein wichtiger Bestandteil der Arbeit und beeinflussen die visuelle DNA des Bildes.

Dachboden

Seit Anfang Juli lebe ich im Haus meiner Großeltern, zurück in meiner Heimat, die, je weiter ich von ihr fort ging, mich immer stärker zurückrief. Wie mit so vielen Generationen vorher wird das Haus sicher auch mit mir wachsen und sich, wie alles Lebendige, verändern.

Anfangs hatte ich die Befürchtung, den Blick für das Besondere zu verlieren, wenn ich mich wieder an die Umgebung gewöhne, denn in den letzten Jahren reiste ich immer nur für ein paar Wochen von London nach Bayern, um weiter an den Bildern zu arbeiten und meine Familie zu sehen.

Lichter am Boden eines KellergemeäusersAbdruck einer Pflanze in Stein

Meine Angst war grundlos. Das Gefühl von Zuhause manifestiert sich langsam in den Bildern und die neue Spontanität macht mich sensibler für die Magie des Hauses; sie erlaubt mir, affektiv auf meine Umgebung und unvorhergesehene Ereignisse zu reagieren. Vielmehr noch habe ich bei jeder neuen Entdeckung das Gefühl, beschenkt zu werden.

Es gibt viele Geister hier, aber keiner von ihnen ist mir übel gesonnen. Wir sprechen durch die Kamera. Und auch wenn ich nicht jedes Wort verstehe, bin ich gespannt, welche Geschichten sie mir noch erzählen.

Quellen und Anmerkungen
1 „Postmemory“ nach Marianne Hirsch: https://www.postmemory.net/ (Stand: 15.08.2020)
2 Max Planck Gesellschaft, Epigenetik zwischen den Generationen, 13.07.2017: https://www.mpg.de/11396064/epigenetik-vererbung (Stand: 13.08.2020)
3 Eine große Inspiration, dies zu entschlüsseln, war Gaston Bachelards „The Poetics of Space“, wie auch Carl Gustav Jungs Turm in Bollingen, den er nach Vorbild seines eigenen Verstandes anfertigte.
4 Über diese Theorie habe ich im letzten Jahr meine Masterarbeit verfasst, die hier online zu finden ist: https://elenahelfrecht.com/The-Matrixial-Camera (Stand: 13.08.2020)

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