26. Juni 2020 Lesezeit: ~28 Minuten

Neue Positionen in der polnischen Fotografie

Bereits 2017 interviewte ich die Kuratorin Grażyna Siedlecka für mein Buch „Gespräche über polnische Fotografie“. Damals ging es unter anderem um die 2014 von Siedlecka mitbegründete Initiative Fresh From Poland, die sich der Förderung neuer Positionen in der polnischen Fotografie verschrieben hat – durch Blogaktivitäten sowie die Organisation von Veranstaltungen und Ausstellungen.

In diesem aktuellen Gespräch unterhalten wir uns über den Einfluss der nationalkonservativen Politik der derzeitigen polnischen Regierung auf die Kultur- und damit auch auf die Fotoszene Polens sowie über einige der spannendsten Fotograf*innen der jüngeren Generation. Gemeinsam arbeiten wir derzeit an einer Ausstellung über polnische Fotografie, die 2021 stattfinden soll.

Rote Punkte über einer Landschaft

© Dominika Gęsicka – aus dem fortlaufenden Projekt „This is not real life“. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.

Ich möchte in dieser Konversation den Fokus auf einige der jüngeren Kreativen aus der Fotoszene richten – doch zuerst, denke ich, sollten wir die allgemeine Situation in Polen untersuchen, um so ein klareres Bild der politischen, ökonomischen und sozialen Umstände zu erhalten, unter denen kreative Menschen dort derzeit arbeiten. Was hat sich seit 2017 geändert?

Unser letztes Gespräch für Dein Buch war für mich sehr inspirierend. Es brachte mich dazu, noch einmal aus einer anderen Perspektive auf das Thema zu schauen und über ausgewählte Aspekte der polnischen Szene im Vergleich zu anderen Kunstmärkten nachzudenken. Wir beide fanden den Umstand eigenartig, wie isoliert die polnische Fotografie von den internationalen Märkten ist und wie unterschiedlich die lokale Infrastruktur im Bereich der Fotokunst ist.

Wie Du weißt, habe ich zuletzt die meiste Zeit im Ausland verbracht. Obwohl mich viele Nachteile des politischen, sozialen und ökonomischen Lebens in Polen nicht betreffen, bin ich natürlich nach wie vor sehr gut informiert. Ich erhalte regelmäßig Einblicke durch persönliche Kontakte und aus Onlinequellen. Weil ich nun aber nicht vollständig in der polnischen Realität drinstecke, weil ich einen großen Teil meiner Zeit im europäischen Ausland verbringe, erlaubt mir das meiner Meinung nach, eine gewisse Distanz zu wahren und die Ereignisse aus einer erweiterten Perspektive zu beobachten.

Als ich und meine beiden engen Freundinnen Katarzyna Roniek und Gosia Fricze 2014 mit Fresh From Poland begannen, wurde Polen noch für ein paar Monate von der liberal-konservativen Bürgerplattform und der Polnischen Volkspartei regiert. Seit ich als junger Mensch ein wenig bewusster durchs Leben ging, lebte ich in einem Land, in dem keine Autorität ein nennenswertes Interesse daran hatte, woran die Bevölkerung glaubt, wer mit wem schlief oder welche Kunstwerke geschaffen oder betrachtet wurden.

Collage

Katarzyna und Marianne Wąsowska, aus der Serie „Waiting for the snow“. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen.

Soweit ich mich erinnere, assoziierte ich Politik mit Wirtschaft, Außenpolitik, Armee und es gab ein paar größere oder kleinere Finanz- oder moralische Skandale. Wie gesagt, es war weit davon entfernt, perfekt zu sein, aber wenigstens versuchte niemand, die natürliche Entwicklung der modernen europäischen Gesellschaft und Kultur zu unterwandern oder zu beeinflussen. Junge Menschen in Polen betrachteten sich mehr und mehr als gleichberechtigtes Mitglied in der europäischen Gemeinschaft.

Die Wahl im Oktober 2015 hat das alles geändert. Sogar jetzt, wenn ich Deine Frage per E-Mail beantworte, dabei auf der Veranda einen Kaffee trinke und auf den schmelzenden isländischen Schnee unter der strengen, niedrig stehenden Sonne blicke, habe ich diesen kleinen Gedanken im Hinterkopf: Könnte dieses Interview irgendwann einmal zukünftige Stipendienanträge oder Projekte von mir beeinflussen? Ist die Regierung ignorant genug, so dass sie niemals einen Blick auf diese Zeilen werfen wird? Oder ist unsere regierende Partei dabei, sich in ein noch autokratischeres Gebilde zu verwandeln, das alles notiert und gegen die Bürgerschaft verwendet, so wie in den Zeiten des Kommunismus?

Wie Du ja siehst, habe ich keine Angst; auch habe ich keinen Moment bezweifelt, dass ich diese Unterhaltung mit Dir führen möchte. Meine Überlegungen entstammen eher einer gewissen Neugierde. Polen ist ja nicht das einzige Land, in dem ich leben könnte. Ich lebe aber auch ein vollkommen anderes Leben als die meisten Leute. Nur wenige können einfach mal entscheiden: Morgen lasse ich alles stehen und liegen und beginne mein Leben anderswo erneut. Weil sie irgendwie festhängen, gebunden sind oder einfach Polen lieben und ihr Land nicht verlassen möchten.

Es gibt also sehr viele Menschen aus Polen, die sehr besorgt darüber sind, was passiert, wenn die politischen Veränderungen so weitergehen wie in den letzten fünf Jahren. Das ist unglaublich traurig. Noch vor ein paar Jahren gingen wir kontinuierlich in Richtung einer immer offeneren und progressiveren Gesellschaft. So sehe ich das zumindest.

Bemaltes Foto: Zwei Menschen machen Huckepack

© Jan Jurczak – Zwei Jungen bei der Beantragung der Anerkennung als Flüchtling in einer polnischen Ausländerbehörde, März 2020, aus der Serie „Polish Birds“, Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

Die Parteimitglieder von Recht und Gerechtigkeit haben das schlimmste gemacht, was Führende eigentlich machen können: Mit den Mitteln der Propaganda appellierten sie an den niedrigsten Instinkt, die Angst.

Als Regierungspartei hat sie ihre Bestrebungen, permanent neue feindliche Gruppen auszumachen, nicht unterbunden: Immigrierte Menschen, muslimische vor allem bringen angeglich Krankheiten, brennen Kirchen nieder und nehmen sich unsere Frauen. Die Europäische Union sei das neue Reich. Russland mit Putin habe 2010 in Katyn das Flugzeug mit der polnischen Regierung abgeschossen. Die jüdische Bevölkerung wolle sich Grundbesitz in Warschau unter den Nagel reißen und beschuldige die polnische Bevölkerung des Massenmordes während des Zweiten Weltkriegs. Protestierende Lehrkräfte, Ärzt*innen und Richter*innen seien alle dumm, verdorben und korrupt. Feministinnen wären Babykiller und Homosexuelle sowie Sexualkundelehrer pädophil. Und es geht gegen die, die auf Reformen drängen, um dem Klimawandel Einhalt zu gebieten.

Von Bedeutung seien nur Stolz, die Kirche und die heroische Geschichte der tragischen polnischen Aufstände. Polen sei das beste Land der Welt, nur wolle das kein anderer Staat zugeben. Aus diesen Gründen müssten sich Kunst und Kultur die Geschichte, Religion und Tradition zum Thema nehmen.

Wer ein wenig kritischer ist oder eine andere Perspektive einnehmen möchte, wird als Staatsfeind angesehen. Und wenn der unartige Künstler oder die Intellektuelle bekannt genug ist, dann folgt die Verleumdung durch die offiziellen [kontrollierten] Medien, wie wir es bei Olga Tokarczuk oder Paweł Pawlikiewicz erlebt haben, und möglicherweise Jobverlust, wenn eine Anstellung in staatlichen Institutionen besteht. Die Kunst müsse bilden und nicht verleumden. Alles, was liberal ist, nichtchristlich oder zeitgenössisch, sei schlecht.

Liegende Person

© Kinga Michalska, Kimura, aus der Serie „Diary“, Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.

Du siehst also, die polnische Kultur befindet sich derzeit in einem ziemlich miserablen Zustand. Dabei ist noch nicht einmal die Realität das Schlimmste. Beängstigender ist die Perspektive, die sich bietet, nämlich dass die Partei noch viel länger an der Macht bleibt – eben weil sie an die Komplexe, Ängste und Probleme der Massen appelliert. Aber um fair zu bleiben: Recht und Gerechtigkeit ist seit Langem die erste polnische Partei, die sich den Ärmeren, weniger Gebildeten und Unterprivilegierten zugewandt hat. Es ist einfach nur furchtbar traurig, dass sie dabei nationalistische Sprache und Propaganda verwendet.

Jetzt lass uns aber einen genaueren Blick auf den Bereich unseres Interesses werfen. Um erneut fair zu sein, muss ich sagen, dass die Situation vor allem auf dem höchsten Niveau sehr übel aussieht. Während große Museen, Theater und andere Institution ziemlich leiden, scheint es so zu sein, dass unabhängige, kleinere Institutionen wie Galerien, Festivals und Kreative weniger in Mitleidenschaft gezogen sind.

Im Fall der Fotografie hilft es meiner Meinung nach, dass dieser Bereich in Polen nicht wirklich flächendeckend als Teil der hohen Kunst anerkannt ist. Das öffentliche Interesse an oder das Wissen über zeitgenössische Fotografie liegt fast bei null. Die meisten Menschen in Polen würden nicht eine einzige erfolgreiche Person aus der polnischen Fotografie nennen können. Aus diesem Grund wird Fotografie auch nach wie vor nur sehr selten in großen nationalen Institutionen ausgestellt, im Fernsehen besprochen oder in der populären Presse beschrieben.

Vielleicht trägt dieser Mangel an Öffentlichkeit aber ironischerweise etwas zum Schutz der Leute aus der Fotoszene bei. Fakt ist, dass unter solchen Umständen eine beworbene, häufig ausgestellte und geförderte Kunst eine ungefährliche Kunst ist, also bildlich gesprochen; sie ist im engen Sinn patriotisch und sie ist konservativ.

Große Frau in einem kleinen Zimmer

© Zosia Promińska – DOMINIKA 13, aus der Serie „Waiting Room“. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.

Einerseits denkst Du, dass die Fotoszene klein genug und für die Massen – die Regierung eingeschlossen – nicht interessant genug ist, so dass kritische künstlerische und dokumentarische Annäherungen an die Realität Deines Landes von den Massenmedien und den führenden Personen im Land möglicherweise nicht wahrgenommen werden und deshalb für Kreative und Fotograf*innen keine schädigende Wirkung für ihre Zukunft haben können. Andererseits bist Du Dir nicht sicher, ob Deine offene Antwort – die ich sehr schätze, weil ich der Meinung bin, dass es gerade in unsicheren Zeiten wichtig ist, offen zu benennen, was passiert – Dir in der Zukunft schaden könnte.

Es ist bedauerlich, dass man überhaupt den Gedanken an mögliche negative Auswirkungen auf sein künftiges Leben haben muss, nur weil man offen Missstände anspricht. Hast Du von polnischen Kreativen gehört oder kennst Du solche, die sich selber zensiert haben, weil sie darauf angewiesen sind, in Polen mit ihrer Arbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder aus welchem Grund auch immer?

Nun, ich meinte nicht, dass die Szene nicht interessant wäre – ich wollte vielmehr sagen, dass die Massen nicht viele Möglichkeiten haben, etwas von ihr mitzubekommen. Sie fristet eine Art Nischendasein, sozusagen. Die Festivals und Galerien bemühen sich, Zugänge für die Leute außerhalb der Fachkreise aufzuzeigen und ich bin voller Hoffnung, dass sich die Situation langsam bessern wird.

Um Deine Frage nach der Selbstzensur zu beantworten – nein, ich kann Dir da kein Beispiel nennen; ich habe noch von niemanden gehört, der ein Projekt aus Angst nicht weiter verfolgt hat. Ich weiß, dass Organisationen und Kreative lieber auf die Beantragung staatlicher und regionaler Unterstützung und Stipendien verzichten würden, wenn das Thema eines Projekts in Opposition zur vorherrschenden Ideologie steht. Nicht aus Angst, sondern weil sie wissen, dass es reine Zeitverschwendung wäre.

Unsere Organisation – Fresh From Poland – hat noch nicht einmal nach einer möglichen finanziellen Unterstützung in Polen Ausschau gehalten, als sie die Ausstellung „Queer Gaze from Poland“ in London organisiert hat. Wir wussten, dass es keine Chance gibt, einen Zuschuss für eine solche Ausstellung zu erhalten.

Zwei Menschen in rotem Licht sind mit einem Band verbunden

© Łukasz Rusznica – „Rokurokubi“, aus der Serie „Subterranean River“, 2016. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

Durch Deine Arbeit mit Fresh From Poland bist Du ziemlich gut über die zeitgenössische Fotoszene in Deinem Heimatland informiert. In den vergangenen Jahren sind viele vielversprechende, neue Fotograf*innen aufgetaucht, unter ihnen Dominika und Weronika Gęsicka, Anna Orłowska und Zosia Promińska. Ist da in Deinen Augen bei dieser neuen Generation etwas Besonderes zu finden, etwas, das sie von vorhergegangenen unterscheidet?

Also, es freut mich sehr, dass Du hier Fotografinnen nennst. Ich denke, dass das eines der Merkmale dieses Wandels ist – wir lassen die Welt hinter uns, in der erfolgreiche Künstler*innen vor allem Männer sind. Wir haben immer mehr fantastische Mädchen und Frauen, die außergewöhnliche Arbeiten schaffen, die lebhafte und frische Elemente in unsere Szene bringen. Es scheint mir, dass sich viele der aufstrebenden Fotografinnen diesem Medium mutig und mit Experimentierlust zuwenden, jede auf ihre eigene Art und Weise. Das finde ich großartig.

Neben diesem geschlechtsspezifischen Fortschritt möchte ich noch ein paar andere Dinge nennen. Eines ist die stärkere Verwendung des Mediums in der Art, dass dokumentarische Ansätze und der Fokus auf das Erzählen von Geschichten mit nichtdokumentarischen Ausdrucksarten – im traditionellen Sinn – miteinander kombiniert werden. Ich möchte als Beispiel Rafał Milach nennen, der für seine Geschichten alle möglichen Arten von Kameras verwendet, Handy und Polaroid inbegriffen; oder Karolina Wojtas, die uns durch ihre spielerischen und verrückten Farbimaginationen in eine Welt der Folklore und des Kitsches führt, und die Erinnerungen an eine polnische Kindheit wachruft.

Noch ein Unterschied ist, dass sich unsere [jungen] Kreativen immer mehr als Teil des internationalen Marktes sehen und ihre Inspiration und ihr Publikum außerhalb unseres Landes suchen. Sie strecken ihre Fühler also weiter aus als nur zum heimischen Zielpublikum. Das bedeutet, einen größeren Horizont zu haben und aktiver an den Diskursen der internationalen Kunstszene teilzuhaben.

Und nicht zuletzt erleben wir einen starken Anstieg in der Fotobuchproduktion, zumeist selbst verlegt, selbst produziert, oft in kleinen Auflagen gedruckt. Es gab auch zuvor schon publizierte Kunstbücher, aber das war sehr wenig im Vergleich zu dem, was die Popularität, die das Medium heutzutage genießt, hervorbringt. Es gibt bei uns immer mehr Verlage, Designer*innen, Workshops und Veranstaltungen, die es Künstler*innen ermöglichen, ihre Geschichten in transportablen Druckerzeugnissen zu erzählen.

Zwei Polizisten sitzen auf einer Bank in einem Zimmer

© Rafał Milach / Magnum Photos – Batumi, Georgia, 2013, Polizisten, die den Eingang des Alphabetic Tower bewachen. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und Magnum Photos.

Kannst Du bitte ein wenig genauer beschreiben, worauf Du Dich beziehst, wenn Du Rafał Milachs Werk als Beispiel für diesen Stilmix von Dokumentarischem und Nichtdokumentarischem nennst? Der Gebrauch unterschiedlicher Kameras ist es sicherlich nicht, was Du meinst.

Ja, natürlich. Wenn Rafał ein neues Projekt beginnt, ist es sein Ziel, eine Geschichte zu erzählen und bestimmte Phänomene zeitgemäß zu dokumentieren. Er kombiniert verschiedene Elemente, um so ein umfassendes Bild zu vermitteln. Obwohl er durchaus ein klassischer Dokumentarfotograf ist und er auch inszenierte Fotografie, Portraits und Stillleben verwendet, benutzt er auch andere Medien: Comics, Skulpturen, Modelle, Multimedia. Dieser interdisziplinäre Ansatz war besonders in seiner Ausstellung „Refusal“ zu erleben, die für den Deutsche Börse Photography Foundation Prize 2018 nominiert war. Als ich Milach 2018 für Fresh From Poland interviewte, hat er mir das so beschrieben:

Ich denke, dass Dokumentarfotograf*innen mich als Künstler sehen und Künstler*innen mich als Dokumentarfotograf. Ich selbst denke aber gar nicht so sehr in solchen Kategorien. Für mich ist es wichtig, bestimmte Geschichten zu kommunizieren, Themen, über die ich sprechen möchte. Die Art, wie ich sie präsentiere, ist nicht das Wichtigste für mich. Die visuelle Sprache, die wir verwenden, ist nur ein Werkzeug, um Inhalte zu kommunizieren.

Wer von all diesen Kreativen wird die besten Chancen haben, auch international anerkannt zu werden? Milach, klar, nicht zuletzt, weil er seit Kurzem auch Mitglied der Fotoagentur Magnum ist. Ich kann mir Sonia Szostak vorstellen, weil sie in Paris lebt und im Modebereich tätig ist, obwohl sie nicht zu meinen Favoriten gehört.

Ich persönlich bevorzuge die Modefotos von Zuza Krajewska, aber Zuza bleibt in Warschau. Sie ist sich darüber bewusst, dass das ihr Streben nach dem ganz großen Erfolg beeinträchtigt. Wem prophezeist Du also eine Karriere mit großer internationaler Anerkennung? Und ich möchte diese Frage gleich anfüge: Ist das überhaupt erstrebenswert?

Eine internationale Anerkennung ist in den meisten Fällen sehr wünschenswert. Aber es gibt da viele Hindernisse, die wie ein Sieb wirken, egal wie gut Du bist. Eines davon ist die Sprache. Ein anderes ist mangelndes Selbstvertrauen und das falsche Ziel, nach einem nur lokalen Publikum zu streben, weil in vielen Teilen Polens Europa und die Welt so weit entfernt wie Galaxien erscheinen.

Viele fühlen sich auch wohler dabei, als Ziel nur ein großer Fisch im kleinen Teich werden zu wollen statt anders herum. Und dann gibt es da noch die Ausbildungslücken: Es sieht so aus – und ich erzähle das aus der Perspektive von jemandem mit Erfahrung mit zugesandten Vorschlägen und Projekten – dass junge Kreative keinerlei Ausbildung darin erhalten, wie man beispielsweise eine Kurzbiografie verfasst, wie man ein Projekt erläutert oder ein Statement schreibt, wie man eine E-Mail an die kuratorische Leitung oder eine Zeitschriftenredaktion vorbereitet.

Sie wissen oft nicht, dass es nicht ausreicht, eine E-Mail ohne einen Betreff zu versenden oder die E-Mail leer zu lassen, bis auf einen eingefügten Link zu einem unter Spitznamen geführten Blog. Und dann das fehlende Wissen über Editionen, Produktion und Preisgestaltung. Es geht gegen null. Außerdem, Du deutest ja schon mit Deiner Frage darauf hin, ist eine internationale Karriere leichter zu erreichen, wenn man nach London, Paris oder Berlin zieht. Das können nicht alle machen.

Reisen ginge natürlich auch, aber gerade die, die am Anfang ihrer Karriere stehen, können so etwas meist nicht finanzieren. Positiv zu bewerten ist es allerdings, wenn jemand Entschlossenheit zeigt und die Kraft aufbringt, vorwärts zu gehen, ohne sich durch anfängliche Ablehnung und Kritik aufhalten zu lassen.

Wenn ich nun all diese Punkte berücksichtige, fällt es mir schwer, vorherzusehen, wer ein neuer „Star“ werden könnte. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich unter den aufstrebenden Kreativen wählen sollte oder unter denen, die bereits im Ausland wahrgenommen wurden. Ich würde auf große Namen setzen wie Bart Pogoda, Łukasz Rusznica, Agata Grzybowska, das Sputnik-Foto-Kollektiv, Diana Lelonek und die von Dir erwähnten Anna Orłowska und Weronika Gęsicka.

Es gibt auch einige, die bereits im Ausland erfolgreich und auf einem aufsteigenden Ast sind, zum Beispiel die in den Niederlanden lebende Anna Kieblesz, dann Marta Zgierska, Michał Siarek, Karolina Wojtas, Łukasz Rusznica, Paulina Korobkiewicz (lebt in Großbritannien), Dominika Gęsicka und Karolina Jonderko.

Die sind alle handwerklich gut, sind zuversichtlich, wissen, was sie sagen wollen, wohin sie wollen und wie sie das erreichen wollen. Ich möchte noch eine weitere Kategorie von Kreativen hinzufügen, die meiner Meinung nach sehr vielversprechend ist, die sich schnell entwickelt, eine kraftvolle Stimme und eine selbständige Arbeitsweise hat. Hier würde ich Agnieszka Sejud, Kuba Mozolewski, Wiktor Malinowski, Bart Krężołek, Jan Jurczak, Katarzyna Wąsowska und Jakub Stanek nennen. Sie sind es wert, dass man sie im Auge behält!

Stift mit rotem Klebeband an eine Hand geklebt

© Karolina Wojtas – aus „Abzgram“. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.

Mit was für Themen setzt sich diese junge Generation polnischer Fotograf*innen auseinander? Siehst Du da eine Veränderung in der Themenwahl, wenn Du das mit den frühen 2000er Jahren bis etwa 2015 vergleichst? Versuchen beispielsweise heute mehr von ihnen einen Stil oder ein Thema zu finden, der oder das helfen könnte, international anerkannt zu werden? Oder haben politische Themen, polnische Themen heute eine größere Bedeutung? Gibt es diesbezüglich etwas auffällig Neues?

Im Moment kannst Du natürlich viele Projekte über Covid-19 und die Quarantänemaßnahmen sehen. Ich denke, dass das gerade eine interessante Zeit ist, die die Menschen dazu bringt, nach Themen zu suchen, die enger mit ihrem Alltag zu tun haben. Aber das ist zeitlich begrenzt und auch nicht nur in Polen so.

Trotz allem, in den vergangenen Jahren habe ich eine wachsende Anzahl dokumentarischer Reportagen über das heutige Polen und seine Gesellschaft gesehen. Die meisten davon sind nicht politisch. Politik ist nicht gerade ein populäres Thema in der Fotografie, was überrascht, wenn Du daran denkst, dass die polnische Fotoszene – also die Leute selbst – sehr aktiv in ihrer oppositionellen Haltung zur herrschenden Partei ist.

Wenn Du Dir die Aktivitäten der Kreativen auf Facebook und den anderen sozialen Medien anschaust, siehst Du, dass die meisten zu Demonstrationen gehen, Petitionen unterschreiben und kritische Meinungen teilen.

Gleichzeitig gibt es immer mehr wirklich gute Langzeitprojekte, die im Ausland entstehen, die meisten davon in der östlichen Hälfte Europas: in den ehemaligen Staaten der Soviet Union – als Beispiel nennen ich das Projekt „Lost Territory“ des Sputnik-Foto-Kollektivs – oder nur in der Ukraine, zum Beispiel die von Michał Sierakowski, Jan Jurczak und Justyna Mielnikiewicz.

Aber auch in Bosnien und Herzegowina, wo Paweł Starzec sein kraftvolles Projekt über das Umschreiben von Geschichte gemacht hat, und in Mazedonien, wo Michał Siarek Untersuchungen über die neuen Nationalidentitäten angestellt hat, die sich auf den legendären Alexander den Großen berufen. Auch in Asien entstehen Projekte, beispielsweise von Łukasz Rusznica in Japan und von Karolina Gembara in Indien.

Diese visuellen Geschichten sind gut durchdacht und aufschlussreich. Und sie vermeiden einen oberflächlichen Blick auf fremde Länder, ein Blick, der zuvor oftmals – bewusst oder unbewusst – auf eine exotisierende Darstellung dieser Länder abzielte. Heute sind die Projekte näher an den Geschichten echter Leute dran, sie sind seriöser. Wenn ich nun noch Dinge nennen sollte, die seltener werden, dann würde ich die Schnappschuss-Fotografie wählen, die noch vor ein paar Jahren ziemlich populär war. Und was es meiner Meinung nach noch immer zu wenig gibt, das sind Langzeitprojekte, persönliche oder von Aktivismus geprägte.

Was meinst Du mit „von Aktivismus geprägte Projekte“? Ich würde vermuten, dass die von Dir kuratierte thematische Gruppenausstellung „Queer Gaze from Poland“ so ein Projekt ist, weil Du dabei eine bestimmte Agenda verfolgt hast. Würdest Du denn die daran Beteiligten als Aktivist*innen bezeichnen?

Ich meine damit Projekte, die als politisches oder soziales Statement gegen oder für etwas entstanden sind. Ja, unsere Ausstellung „Queer Gaze from Poland“ war zum Teil aktivistisch, weil sie zeigen sollte, dass alle menschlichen Beziehungen natürlich und schön sind, nicht nur die heterosexuellen. Sie war also ein Statement zugunsten der LGBTQ+-Bewegung. Ich würde aber nicht die Menschen dahinter selbst als Aktivist*innen bezeichnen; die meisten fotografieren einfach nur ihre Partnerschaften und ihr alltägliches Leben. Das sind ganz persönliche Projekte, Tagebücher.

Ausnahmen sind Kinga Michalska und Pamela Bożek. Kinga beteiligt sich im Kampf für queere Rechte, sie nimmt aktiv an Festivals teil und organisiert entsprechende Veranstaltungen. Pamela Bożek verwendet unterschiedliche Methoden – nicht nur die Fotografie – um Polen zu einem besseren Ort zu machen. Die Gruppe, in der sie sehr aktiv ist, besteht aus Menschen mit Migrationshintergrund, vor allem aus dem Osten; sie arbeitet vor allem mit Frauen aus Tschetschenien.

Paar vor einem Kamin, während er ihr eine lächelnde Maske vor das Gesicht hält.

© Weronika Gęsicka – Untitled #5 aus der Serie „Traces“, 2015–2017. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und der JEDNOSTKA Gallery.

Ihr habt „Queer Gaze from Poland“ nur in London gezeigt. Habt ihr nicht versucht, auch in Polen einen Ausstellungsort dafür zu finden? Und würden Institutionen wie Zachęta und Instytut Fotografii Fort in Warschau es überhaupt wagen, ein Projekt wie dieses zu zeigen?

Wir hatten vorgehabt, die Ausstellung auch in Polen zu zeigen. Wir hatten eine Kooperationsvereinbarung mit dem Queer May Festival, inklusive Aufnahme ins Programm und einer finanziellen Unterstützung, doch bedauerlicherweise waren wir – nachdem wir unseren Vorschlag an diverse Institutionen in Krakau geschickt hatten – dann nicht in der Lage, einen Ort zu finden, der Interesse an der Ausstellung gehabt hätte. Das war sehr enttäuschend.

Glücklicherweise war die Ausstellung in London ein großer Erfolg; wir hatten eine gute Presse und viele Gäste während der Eröffnung und bei den Vorträgen. Ich denke, dass immer noch eine Chance besteht, dieses Projekt, vielleicht in einer aktualisierten Form, in Polen zu zeigen, wenn sich die Zeiten ein wenig ändern. Ich mag diese Sammlung von Fotografien wirklich gern; sie sind friedlich, intim, emotional und ganz sicher versuchen sie nicht, zu schockieren.

Wir wollten den Gästen der Ausstellung nicht in die Gesichter schreien. Wir wollten zeigen, dass diese Beziehungen sich nicht sonderlich von heterosexuellen unterscheiden. Da geht es um dieselbe Liebe. Dennoch, als die polnische Online-Zeitschrift onet.pl einen Artikel über diese Veranstaltung brachte, inklusive einiger der ausgestellten Fotografien, waren fast alle Kommentare der polnischen Leserschaft aggressiv, beleidigend und stark homophob.

Wenn sich polnische Kurator*innen, Künstler*innen, Fotograf*innen und all die anderen Kreativen mit liberalen Lebensansichten solch einer starken Opposition ausgesetzt sehen, dann ist es eine anstrengende Sache, in der eigenen Heimat zu bleiben und mit der Arbeit fortzufahren. Wie wichtig ist es für sie, mit Kunstszenen in anderen Ländern in Kontakt zu bleiben, Anerkennung für ihre Arbeit aus dem Ausland zu erhalten? Und was können Leute aus dem Ausland, wie ich, der ich in Deutschland über die polnische Fotoszene schreibe, für die Szene in Polen tun, zumindest für die aufgeschlossenen Menschen dort? Was erwarten Fotograf*innen, Künstler*innen, Kurator*innen oder Galerist*innen?

Ja, die thematischen Optionen werden immer weniger, wenn es darum geht, öffentliche Gelder zu erhalten oder mit großen Galerien zusammenzuarbeiten. Um keine Behinderung zu erleben, musst Du ungefährliche oder aber erwartete nationale Themen wählen.

Stadtansicht

© Michał Siarek – aus dem Buch „Alexander“, 2018, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

Mit „große Galerien“ meinst Du institutionelle Galerien, wie etwa Zachęta und Ujazdów, richtig?

Ja, die, die von einer finanziellen Unterstützung durch die Regierung abhängig sind und damit von deren Entscheidungen. Orte wie Fort, die unabhängiger sind, haben noch die Freiheit, das zu tun, was sie möchten, vorausgesetzt sie finden Geld aus einer nicht-politischen Quelle.

Für Kreative ist Beachtung im Ausland besonders wichtig, auch weil der polnische Kunstmarkt sehr limitiert ist. Es ist ziemlich schwierig, ins Ausland zu gehen und dort sofort mit Deiner Kunst Geld zu verdienen, aber es gibt junge Menschen, die zum Studium ins Ausland gegangen sind.

Und so die Karriere zu starten, ist eine potente Lösung, denn nach der Ausbildung kennst Du all die Tutor*innen, viele lokale Künstler*innen und die Szene; Dein Start ist denen der Studierenden aus diesem Land ebenbürtig.

Was Kurator*innen und Veranstalter*innen angeht, da kennen ich keine in Polen, die eine Emigration in Betracht ziehen. Es ist auch nicht einfach im Ausland, wenn Du dort niemanden kennst und die Leute dort Dich nicht kennen, und auch nicht die Kreativen, mit denen Du bisher zusammengearbeitet hast oder die Galerien und Institutionen, mit denen Du kooperiert hast. Es scheint mir auch hier der beste Weg zu sein, gleich mit dem Studium im Ausland zu beginnen – oder Du spezialisierst Dich so, dass Du im Ausland als Koryphäe wahrgenommen und von dortigen Institutionen eingeladen wirst.

Ein gutes Beispiel ist der frühere Direktor des Fotofestiwal Łódź, Krzysztof Candrowicz, der nun seit ein paar Jahren die Foto Triennale in Hamburg verantwortet. Ich denke, das Haupthindernis ist die seltene Zusammenarbeit zwischen polnischen und internationalen Institutionen, was das Entstehen persönlicher Verbindungen und Netzwerke erschwert. Die Situation wandelt sich allmählich; wichtige Schlüsselfiguren dieses Wandels sind die Fotofestivals in Kraków, Łódź and Wrocław. Sie machen eine unglaubliche Arbeit, um Verbindungen mit der europäischen Szene herzustellen.

Was Deine letzte Frage anbelangt – ich denke nicht, dass Kreative in Polen irgendetwas vom Ausland erwarten. Was man aber machen könnte, ist, dem Geschehen in diesem Land mehr Aufmerksamkeit zu schenken, die Kreativen beachten und einladen, die polnischen Fotofestivals besuchen, die sich auf sehr hohem Niveau bewegen, so wie Du Interviews machen, gut kuratierte Ausstellungen mit interessanter polnischer Kunst organisieren und – nochmals – Aufmerksamkeit schenken. Wir haben hier wirklich gute Leute, aber es ist schwerer für sie, wahrgenommen zu werden.

Ähnliche Artikel