Fotografie als Aktion – die „HALTESTELLE“
Die fotografischen Arbeiten von Günter Starke haben mich bewegt, die Herangehensweise hat mich persönlich gepackt. Als Kind des Jahrgangs 1990 ist die Zeit der ehemaligen DDR für mich nur aus Erzählungen präsent. Vage nur kommen verschwommenen Ideen einer Zeit in mir auf. In den Bildwelten und im Gespräch mit Günther Starke konnte ich jedoch einiges besser fassen.
Mich faszinierte speziell die Arbeit „Haltestelle“, deren Umsetzung, Ermöglichung und Fortführung über einen längeren Zeitraum hinweg stattfand und verschiedene Formen annahm. Die Akzeptanz einer künstlerischen Arbeit im öffentlichen Raum musste erarbeitet werden, die Auseinandersetzung und Reibung waren groß.
Umso spannender finde ich in Bezug auf diese Arbeit, dass sie bis in die aktuelle Zeit Relevanz zeigt; die letzte aktuelle Ausstellungssituation der transformierten Originalarbeit von 1989 fand 2016 statt. Hier ein unter anderem fotografischer Rückblick auf eine Arbeit, die aus einer besonderen Zeit stammt und mit einer besonderen Herangehensweise durchgeführt worden ist.
Im März 1989 reichte Günter Starke die Konzeption für ein Fotoobjekt ein, das er ungewöhnlich umsetzen wollte. Die Konzeption sah vor, eine Arbeit im öffentlichen Raum an einer Haltestelle zu installieren. Der Widerstand der Verkehrsbetriebe damals war groß, „aus Gründen von Ordnung und Sauberkeit, wie auch der Sicherheit der Fahrgäste“ sollte damals keine Genehmigung erteilt werden. Unter Berücksichtigung der zeitlichen Aspekte war jedoch auch Folgendes mehr als denkbar: „Dass dahinter ganz gewöhnliche Angst vor künstlerisch Ungewohntem stand, braucht nicht näher betont zu werden.“, so Prof. Dr. Bernd Lindner.
Neben Günters strenger Arbeitsweise in seinen fotografischen Dokumentationen der Dresdener Lebenslandschaft (Bildband „Offene Türen. Wohnen und Leben in der Dresdner Neustadt 1982 bis 1996“), die er erstellte, fotografierte er als Notizbuchaufnahmen mit einer kleinen Kodak Retina mit hochempfindlichem Film Dinge seiner alltäglichen Umgebung. Fotos entstanden, die ihm damals als Türöffner dienten, indem er über diese Nebenbeischnappschüsse mit Leuten ins Gespräch kam.
Mitte der 80er Jahre war laut Günter Starke vielen klar, dass das Sozialismusmodell der DDR von Grund auf Mängel und Fehler aufwies, die nicht reparabel waren. In seinen Dokumentarfotos des eng begrenzten Gründerzeitviertels war der Verfall deutlich sichtbar. Die Bewohner*innen versuchten zwar, sich so gut es ging einzurichten, aber in den Alltagsportraits auch anderer Fotograf*innen überwog Resignation, Anpassung, Skeptizismus und gelegentlich Aufmüpfigkeit und Widerstand.
Seit einiger Zeit war er damals nur als Hilfsarbeiter, Nachtwächter sowie Haushandwerker unterwegs, wollte jedoch endlich mit der Fotografie freischaffend werden und bewarb sich mit den Dokumentaraufnahmen der Neustadt im DDR-Künstlerbund. Er wurde als Kandidat aufgenommen und bekam, wie das so üblich war, Mentor*innen. Diese sollten seine Arbeit bis zur regulären Mitgliedschaft drei Jahre lang begleiten.
Seine persönliche Mentorin wurde Prof. Evelyn Richter, die ihm half, seine eigene Handschrift zu finden. Die Aufnahme in den Verband wurde immer wieder herausgeschoben; im Verband und im Land grummelte es mächtig. In Dresden stand die turnusgemäße Bezirkskunstausstellung 1989 an – eine Gelegenheit, Arbeiten zu zeigen und auf Aufnahme zu drängen. Günter sah all seine Notizbuchfotos durch und fand darin eine große Anzahl Fotos defekter Parkbänke und desolater Haltestellen des ÖPNV. Er sah darin den Zustand der einfachsten Dinge für alle als Indiz für den Zustand des Landes.
Um die „Bekunstung“ der Fotos in der Ausstellung zu vermeiden, war seine Idee, eine Aktion im öffentlichen Raum durchzuführen. Im Mai 1989 stellte er den Antrag auf ein Kunstprojekt zur Eröffnung der Ausstellung am 6.Oktober 1989 vor den Fučíkhallen, etwas vom Zentrum Dresdens entfernt. Damit begann ein kurioser Hürdenlauf zwischen den staatlichen Stellen, dem Künstlerverband und Günter selbst, der schlussendlich bewilligt wurde.
Nur wenige Tage vorm geplanten Termin kam dann die Zustimmung, allerdings wurde als Ort die zentralste Stelle Dresdens direkt vor dem Rathaus zugewiesen. Am Vorabend wurden die Ausreisezüge aus der damaligen Tschechoslowakei durch Dresden geleitet. Tausende demonstrierten oder wollten auf die Züge aufsteigen. Polizei, Stasi und alle anderen militärischen Gruppen versuchten, mit Gewalt die Demonstrationen noch zu unterbinden. Mittendrin Günter mit seiner – wie er selbst schreibt – „kleinen Kunstaktion“.
Am Nachmittag des 5. Oktober 1989 begann Günter Starke gemeinsam mit Freund*innen, 130 Fotos auf den Boden der Haltestelle im Dr.-Külz-Ring aufzukleben. Ein Fluss von Bildern sollte aus der Haltestelle herausquellen, den Gehweg versperren.
Und der ist in diesen Tagen übervoll, selbst nach Feierabend: Am Abend zuvor hatten noch Ausreisewillige zu Tausenden den Dresdner Hauptbahnhof belagert, um auf die Botschaftszüge aufspringen zu können, die von Prag kommend in den Westen fuhren. Auch jetzt sammelten sich zwischen Rathaus und Hauptbahnhof erneut Demonstrant*innen. Sie verstrickten die Fotograf*innen sofort in Diskussionen.
Polizeikommandos rückten immer wieder an und wollten die Genehmigung für die Aktion sehen. Von Feiern zum 40. Jahrestag der DDR kamen Leute mit angesteckten Orden und beschimpften die Künstler*innen als „Staatsfeinde“ und „Hetzer“. Sie mussten aber auch erleben, wie wenige Meter von ihnen entfernt Volkspolizisten eine Gruppe Jugendliche verfolgen, die mit Steinen und (kleinen) Feuerzeugbenzinflaschen geworfen hatten. Sie wurden zu Boden gestoßen, mit Schlagstöcken und Fußtritten traktiert, auf LKWs gezerrt und hinter den Planen von aufsitzenden Polizisten zusammengeknüppelt.
Die Künstler*innen wollten aus Protest ihre Arbeiten abbrechen, aber die Demonstrant*innen forderten sie lebhaft auf, weiterzumachen. Sie brachten in der Nacht heiße Getränke und Essen und verwickelten die Künstler*innen in Diskussionen über den Zustand des Landes.
Trotz fortgesetzter Polizeiattacken konnte gegen 6 Uhr früh die letzte Versiegelung auf den Fotos aufgebracht werden. Günter Starke begann, mit Tonband und Kamera die Reaktionen der morgendlichen Passant*innen, die zur Arbeit strömten, festzuhalten. Die Reaktionen bewegten sich zwischen Beschimpfungen als „Feind des Sozialismus“ und „weltfremde Idealisten, die dem Imperialismus zuarbeiten“ und Dank für „dieses konstruktive Zeichen“. Immer war eine große Menschentraube um das Wartehäuschen versammelt.
(Prof. Dr. Bernd Lindner)
Prof. Dr. Bernd Lindner ist Kulturhistoriker und -soziologe. Er ist Autor zahlreicher Sach- und Fachbücher sowie wissenschaftlicher Aufsätze (u. a. zur Fotografie in der DDR), lebt und arbeitet in Leipzig. Der Fotograf und der Autor kennen sich seit über 30 Jahren.
Ein Aspekt von Arbeiten im öffentlichen Raum ist die einmalige Ausgangssituation, die sich dann verändert. Durch das Betreten der Bilder durch Passant*innen wurden sie beschädigt beziehungsweise verändert. Die fotografische Dokumentation der Arbeit ist somit Bestandteil der Arbeit selbst geworden.
Nach der Ausstellungsdauer wurden die zerstörten, zerfetzten Reste der Bilder am Boden von Günter geborgen und in einer kleineren Form dann in der Kunstausstellung gezeigt. Gemeinsam mit der Dokumentation „Dresden Äußere Neustadt“ wurde sie damals eines der umstrittensten Werke.
Aus den Resten und Originalfotos ist auf dem Untergrund eines abgetretenen Theaterbodens der Semperoper-Aufführung des Abends vom 6.Oktober ein Objekt entstanden, das bereits in mehreren Ausstellungen gezeigt wurde, zuletzt in Günter Starkes Retrospektive „SILBER“ im Kulturkraftwerk Dresden 2016.
Dazu Prof. Dr. Lindner im Katalog zu „SILBER“ (Kunstblatt-Verlag Dresden, 2016):
Der Künstler erlebte einen der seltenen Glücksmomente, in dem sich seine Kunstreflexionen mit dem Zeitgeschehen direkt zu einem neuen Ganzen verschränkte. Ein Glück, das sich jedoch nur bei Künstler*innen einstellen kann, die mit ihren Werken die Konfrontation mit der Wirklichkeit nicht scheuen.
Aus heutiger Perspektive einen solchen zeitlichen Sprung zurück auf eine fotografisch-installative Arbeit zu werfen, mag gewagt erscheinen. Doch erzählen die Bilder einerseits von der Situation damals vor Ort, sie zeigen auf, dokumentieren. Die umgesetzte Arbeit mit dem fotografischen „Teppich“ sowie die Erzählungen zu den Hürden der Umsetzung lassen daran denken, wie wichtig die Errungenschaft der künstlerischen Freiheit(en) sind, dass fotografische Arbeiten in mehreren Ebenen Zeitdokumente darstellen und die Verquickung von älteren Arbeiten mit aktuellen Zeitebenen relevant, lehrreich und wichtig für ein Verständnis von Veränderungen ist.
Heute sind Fotografien oft einzig in abgeschlossenen Ausstellungskontexten zu sehen. Der Weg dorthin muss aktiv begangen werden. Man muss eine Ausstellung besuchen wollen, man begegnet ihr weniger direkt im öffentlichen Raum. Persönlich finde ich wichtig und relevant, dass künstlerische Arbeiten im gesamten Stadtgebiet (oder Lebensraum) auftauchen können. Vielleicht übt daher diese Arbeit so eine Faszination auf mich aus. Erfrischend, wenn auch nicht jung, kam diese Arbeit mir in ihrer Umsetzung entgegen. Ich bin gespannt, was in den weiteren Jahren mit ihr geschieht.