Sündhafte Heilige
Ich bin der Sohn eines muslimischen Vaters und einer streng christlichen Mutter. Die christliche Seite sollte die prägende sein. Aufgewachsen bin ich mit einem beschränkten Weltbild, in einem Käfig aus Moral und Gehorsam. Ich nannte eine Welt mein Zuhause, die mir heute fremd ist und für die ich mich schäme.
Das mag dramatischer klingen als es tatsächlich war. Ich bin in keiner Sekte oder ähnlichem groß geworden. Wenn ich aber über die Ansichten und Werte nachdenke, die ich von meinem Umfeld übernommen und lange vertreten habe, dann erscheinen mir diese drastischen Formulierungen doch angemessen.
Ich bin noch immer ein gläubiger Mensch und sehe mich noch immer als Christ, allerdings interpretiere ich meinen Glauben und dessen biblische Grundlage anders als nahezu jeder Christ, den ich im Laufe meiner Jugend kennengelernt und zu dem ich aufgeschaut habe.
Ich habe lange an bestimmten Ansichten festgehalten, weil ich Angst vor der Verdammnis hatte. Begründet waren diese Ansichten in einem zwiegespaltenen Gottesbild: Der liebende Vater und zugleich der strenge Richter. Zweifeln galt als gefährlich. Ich habe mich lange nicht getraut, dieses inkongruente Bild zu hinterfragen und habe es irgendwann doch getan.
Die Herausforderung, diese Inkongruenz irgendwie zu einem stimmigen Glaubenskonzept zu vereinen, führt oft zu einer Abwärtsspirale, bestehend aus Zweifeln und der Angst davor, sich diesen zu stellen. Das Prinzip der Nächstenliebe ist eines der zentralen Themen des Evangeliums. Als solches ließ es sich für mich irgendwann nicht mehr mit der Ab- und Ausgrenzung anderer Menschen aufgrund von Andersartigkeit vereinbaren. Diese Distinktion ist in manchen religiösen Kreisen aber in ungesundem Maße Realität.
Die permanente gegenseitige Bestätigung des Eigenen als der Wahrheit, wie es in evangelikalen Kreisen üblich ist, geht oft einher mit der von Verdammnis gekennzeichneten Abwertung des Anderen. Innerhalb des in sich gekehrten christlichen Umfelds fällt dieser Umstand kaum auf. Entsprechend stark aber kommt er zum Tragen, sobald jemand von der dort geltenden sozialen Norm abweicht.
Die harsche, obsolet wirkende Ausdrucksweise entspricht dem Welt- und Menschenbild besser als das oberflächlich gesellschaftskonforme Vokabular, in die solche Ansichten heute verpackt werden.
„Liebe den Sünder, aber hasse die Sünde“ ist ein Prinzip, das in vielen Fällen in positiver Art das christliche Verständnis von Nächstenliebe widerspiegelt. Wenn der Stempel der Sünde aber auf menschliche Züge gedrückt wird, die eng mit der Persönlichkeit einer Person verknüpft sind, dient die Formel der Legitimation von Diskriminierung. Dem Gläubigen ist nicht mehr klar, was er nun zu lieben und was zu hassen hat. Ich muss an einen Ausdruck denken, den Charlotte Wiedemann* im Kontext der Debatte um Islamfeindlichkeit verwendet:
Die Unfähigkeit, den Plural zu denken1.
Es scheint bedeutend schwerer zu sein, anderen, die von der eigenen Lebenswelt abweichen, die in Artikel 7 und 18 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formulierten Rechte zuzugestehen, als sie für sich selbst anzunehmen. Dabei wurzeln die Menschenrechte und die zugrunde liegende Idee der unantastbaren Würde unter anderem in der christlichen Idee des Menschen als Gottes Ebenbild2.
Ich denke dabei an die jüngst viel diskutierte Predigt eines Pfarrers, der darin andere Religionen beleidigte und indirekt Gewalt gegen deren religiöse Stätten als gottgewollt zu rechtfertigen versuchte. Das positive Echo, das er teilweise bekam, schockierte mich.
Ein weiteres Beispiel: Mit ihrem Buch „Streitfall Liebe“* wendet sich Dr. Valeria Hinck gegen die Ausgrenzung homosexueller Menschen aus christlichen Gemeinden. Sie argumentiert auf biblischer Grundlage3. Die Notwendigkeit ihres Plädoyers zeigt sich von den Gemeindesälen bis hinaus auf die Straße. In Baden-Württemberg kämpfen christliche und andere Gruppen seit Monaten in regelmäßigen Demonstrationen gegen die Gleichstellung Homosexueller und die Anerkennung von LSBTTIQ-Lebensrealitäten.
Noch immer existieren Diskriminierung und geistiger Missbrauch aufgrund von Persönlichkeitsmerkmalen und Sexualität im Namen der Bibel. Ich vermute, es gibt keine Bibelübersetzung, in der Jesus „Selig sind die Verdammenden“ sagt. Ich lese immer nur von den Sanftmütigen, Barmherzigen und Friedfertigen (Matthäus 5). Publikationen wie die von Hinck oder die Vorträge von Worthaus aber geben Hoffnung, sofern sie an den richtigen Stellen Gehör finden. Sie brechen mit dem vermeintlichen Wahrheitsmonopol.
Ich glaube an keinen Gott, der straft und verdammt, weil Menschen in Status, Glauben, Geschlecht, Sexualität, Abstammung, Persönlichkeit, Einkommen und Lebensentscheidungen nicht dem entsprechen, was andere Menschen als Norm empfinden. Ich glaube an einen Gott, der nicht in das beschränkte Weltbild der Gläubigen passt.
Das Foto zeigt eine Zusammenfassung dieser Gedanken. Ein junger Mann liegt am Boden eines Treppenhauses, nach vielen Stufen unten angekommen. Er ist nur notdürftig bedeckt, nicht völlig seiner Scham Preis gegeben. Seine Haltung erinnert mich an Simon Petrus, den Jünger Jesu Christi, der als Apostel und Leiter der Urgemeinde bekannt ist, aber auch auch als der, der am Abend des Todesurteils Jesu leugnet, diesen zu kennen.
Einer Legende nach, die auf unterschiedliche Quellen zurück geht, endete sein Leben mit der Kreuzigung, die auf seinen eigenen Wunsch hin kopfüber vollstreckt worden sein soll. Er soll sich selbst nicht für würdig gehalten haben, den selben Tod wie Jesus Christus zu sterben.4
Mich erstaunt diese Legende, da der Tod am Kreuz ohnehin als eine der grausamsten Todesarten galt. Außerdem war Christus längst nicht der einzige, der auf diese Weise hingerichtet wurde. Ich komme nicht um die Interpretation herum, im selbsterwählten Leiden des Petrus nachhaltige Schuldgefühle zu sehen, die ihn auch nach Jahren des Glaubenslebens noch immer belasteten.
Die Ausrichtung nach einem heute Jahrtausende alten Moralkodex hat scheinbar damals schon nicht richtig funktioniert. Noch weniger Sinn macht es, diesen heute als oberste Instanz zu betrachten und dabei wesentlichere Glaubensaspekte wie Nächstenliebe und Gnade zu vernachlässigen. Es ist ein Leben mit chronischen Schuldgefühlen, dass sich im christlichen Bild vom Balanceakt auf dem Kreuz zeigt, als Brücke zum Himmel über die Hölle.
Schlimm genug, dass Gläubige ihr Leben unter diesem Damoklesschwert verbringen. Der Abgrenzungsprozess führt aber leider oft dazu, dass sich, auf der Seite der Wahrheit wähnend, zu Richtern über die Verdammungswürdigkeit der gesamten Menschheit erhoben wird. Es ist mir ein Rätsel, wie der Glaube an einen Gott, der den Grundsatz „liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ über alles andere stellt (Markus 12.31), heute noch Menschen dazu verleiten kann, andere anhand eines engen Moralkodex zu beurteilen und zu verstoßen, wenn sie diesem nicht entsprechen.
Der Blick des Mannes auf dem Foto ist nach oben gerichtet. Er findet sich nicht mit der Angst ab, verdammt zu sein, sollte er bestimmten Normen nicht entsprechen. Er symbolisiert die Hoffnung auf einen Gott, der zu seinen Zusagen steht und der fehlbare Menschen zu einem Leben in Freiheit und gegenseitiger Achtung inspirieren will.
Der Plan für die fotografische Umsetzung fügte sich nach und nach zusammen. Ich wolle meine Petrus-Interpretation visuell mit der Abwärtsspirale verbinden, die ich aus meinen religiösen Erfahrungen kenne. Also ließ ich mein Modell am Boden eines Treppenhauses auf den kalten Boden liegen. Es sollte keine gleichmäßige Wendeltreppe sein, denn der Weg hatte Ecken und Kanten.
Ich fotografierte durch mehrere Stockwerke hindurch. Die Beleuchtung, die das Sinnbild unterstützt, kam vom Oberlicht in der Decke des Hauses.
Abschließend haben wir die Szene kurz gefilmt. Eher spontan entstand die Idee, die Person aufstehen und aus dem Bild gehen zu lassen. Mir fiel erst im Nachhinein auf, wie sehr ich mich mit dieser Szene identifizieren kann: Es reicht mir, ich stehe auf, gehe hinaus und suche nach neuen, kritischen Zugängen.
Rückblickend war mein Vater einer der Gründe für das Aufkeimen einer neuen Auffassung von Glauben in meinem Leben. Als Muslim hatte er nie ein Problem mit meiner Entscheidung, dem Gott der Bibel zu folgen. Ich wünsche mir, dass mehr Christen dem Islam ähnlich wohlwollend gesonnen sind wie mein muslimischer Vater seinem christlichen Sohn.
Innerhalb der christlichen Blase, in der man sich gegenseitig als „Geschwister“ bezeichnet, hat mich die offene Diskriminierung von Menschen erschreckt. Inzwischen befreit von der Annahme, außerhalb evangelikaler Freikirchen gäbe es keine wahren Christen, beeindruckten mich aber auch immer mehr Menschen verschiedenster christlicher Ausprägung, die eine herausfordernde Liebe leben.
Viele dieser Erlebnisse fanden in der Gemeinschaft der Communauté de Taizé statt, einem Ort freundschaftlicher Begegnung zwischen Konfessionen und Religionen. Ich schluckte viele erlernte Vorurteile herunter, bis ich sie irgendwann durchschauen und ablegen konnte. Überführt hat mich dabei oft nur dieser Satz Frère Rogers, dem Gründer der Communauté:
Gott kann nur lieben.
Das Foto ist der Beginn einer Serie über eine persönliche Glaubensreflexion. Inspiriert ist sie von Menschen, deren im Glauben verwurzeltes Engagement ich bewundere. Zum wiederholten Mal lese ich ein Buch der Ordensschwester Ruth Pfau, die seit über 50 Jahren als Lepraärztin in Pakistan tätig ist und den Menschen dort mit Liebe begegnet, ungeachtet von Herkunft und Religion. Sie wirft ein anderes Licht auf die christliche Gemeinschaft und lässt mich wieder erkennen, wie viel gutes Potential in der Botschaft der Bibel liegt.
1 WIEDEMANN 2014: Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben. Oder: Wie Journalismus unser Weltbild prägt. Köln.
2 WETZ 2005: Die Würde des Menschen ist antastbar. Eine Provokation. Stuttgart.
3 HINCK 2012: Streitfall Liebe. Biblische Plädoyers wider die Ausgrenzung homosexueller Menschen. Dortmund.
4 DITTMEYER 2014: Gewalt und Heil: Bildliche Inszenierungen von Passion und Martyrium im späten Mittelalter. Köln.
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