03. Mai 2013 Lesezeit: ~8 Minuten

Wabi-Sabi

Das erste Mal habe ich von Wabi-Sabi gehört, als ich einen Artikel in einer Frauenzeitschrift las. An den Inhalt des Artikels, in dem es nicht um Fotografie ging, kann ich mich nicht mehr erinnern. Allerdings war es gar nicht der Artikel selbst, der mich damals fasziniert hat, sondern die Philosophie, die dort vorgestellt wurde.

Wabi-Sabi ist hier in Deutschland recht unbekannt und wird schnell in die Esoterik-Ecke abgeschoben, wie ich erfahren musste, als ich anderen davon erzählte. Doch das ist nicht so.

Ich habe angefangen, mehr darüber zu lesen und dabei erfahren, dass Wabi-Sabi aus dem Japanischen kommt und eine Kombination aus zwei unterschiedlichen Wörtern ist. Wabi bedeutet so etwas wie „Einsamkeit“ oder „Enthaltsamkeit“.

Sabi ist eine Bezeichnung für das „Alte“, die „Patina“, jedoch ist es, anders als hier, ein positiver Begriff. Zusammengesetzt ist Wabi-Sabi ein Lebensentwurf, der auf Bescheidenheit, Zurückhaltung und Meditation abzielt. Gleichzeitig ist es aber auch ein ästhetisches Konzept.

Hierzulande wird die Ästhetik des Wabi-Sabi oft als „Ästhetik der Unvollkommenheit“ begriffen, was nicht ganz richtig ist. Wie mir eine japanische Künstlerin erklärt hat, ist der Kern von Wabi-Sabi für Japaner die Bescheidenheit, während Perfektion für Japaner eine vollkommen andere Bedeutung hat als für uns: Perfektion entsteht nämlich erst durch Fehler, die den Rest des Werkes umso vollkommener erscheinen lassen.

© Susan Brooks-Dammann

Wabi-Sabi ist eine sehr zurückhaltende Ästhetik, die sich einem erst auf den zweiten Blick offenbart. Die Motive, die ganze Bildsprache sind geprägt von Reduktion. Es sind nicht die großen, auffälligen und sensationellen Motive, sondern die kleinen und unbeachteten Dinge, die Wabi-Sabi ausmachen. Nicht der grandiose Sonnenuntergang, sondern das Spinnennetz am Wegesrand, das im richtigen Licht seine eigene Schönheit entwickelt, ist Motiv im Wabi-Sabi.

Apropos Licht. Es ist nicht das Licht, das im Wabi-Sabi wichtig ist, sondern der Schatten. Hier in Europa wollen wir unsere Bilder ausleuchten. Wir versuchen, den Schatten auszumerzen, ihn so zu kontrollieren, dass er nur durch ein feine Modellierung das eigentliche Motiv unterstützt. Aber wir sehen kaum, dass Schatten auch eine eigene Qualität besitzt.

Um wieder auf das Spinnennetz zurückzukommen: Dieses kommt doch auch erst im Schatten zur vollen Geltung, indem einige wenige Lichtstrahlen sich darin brechen. Wird es ins Licht gesetzt, ist es gar nicht mehr zu sehen.

Ein weiteres Element des Wabi-Sabi ist das Nicht-Perfekte und Fehlerhafte. Fotografische Fehler werden nicht eliminiert, wie wir es in der Regel tun. Im Gegenteil, der Fehler wird als künstlerisches Element in das Bild mit einbezogen. Erst das Nicht-Perfekte ist es, das dem Bild seine Aussagekraft verleiht. Es ist gerade das Linsenflirren oder das Ertrinken im Schwarz, das die Bildwirkung noch verstärkt.

© Susan Brooks-Dammann

Das Knifflige dabei ist, dass der auftretende Fehler nicht einfach nur davon herrührt, dass man Knipserei als Kunst verkaufen will, sondern dass er bewusst ins Bild eingebaut wird. Wir gehen im Wabi-Sabi also den umgekehrten Weg, indem wir nicht fragen, wie wir den Fehler ausmerzen, um das Bild perfekt (im Sinne von schön) zu machen, sondern wie wir den Fehler einbauen, um das Bild zu perfektionieren, so dass es in der Lage ist, den Betrachter emotional zu berühren. Somit wird dieser in seiner Eigenschaft ins Gegenteil gesetzt und als Bereicherung angesehen.

Weiterhin geht es im Wabi-Sabi auch um Leere. Es ist nicht der Minimalismus, den wir kennen, in dem es darum geht, so wenig wie möglich bildwürdig in Szene zu setzen, sondern der Wunsch, nur noch die wesentlichen Elemente als Bildinhalte zu haben, damit diese durch die umgebende Leere in ihrer Aussagekraft verstärkt werden.

Die Aussage im Wabi-Sabi ist dabei eher als Wirkung und intuitives Fühlen zu verstehen anstatt als konkrete Bedeutung. Und damit wären wir auch schon beim wichtigsten Element der Fotografie im Sinne des Wabi-Sabi: Das Wichtigste ist, nicht zu zeigen, dass man als Fotograf die Technik vollkommen beherrscht und perfekte Fotos macht, sondern, dass man versucht, etwas im Bild einzufangen.

Was dieses „Etwas“ ausmacht, das ist allerdings individuell. Die Franzosen bezeichnen es als „je ne sais quoi“. Etwas, das nicht bezeichnet werden kann, das aber dem Bild erst seine Wirkung gibt. Bilder im Wabi-Sabi sollen berühren, etwas im Betrachter anklingen lassen.

© Susan Brooks-Dammann© Susan Brooks-Dammann

Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber ich vermisse dieses emotionale Element häufig, wenn ich mir Fotografien anschaue. Überall im Internet und in Zeitschriften sehe ich Fotos, in denen ich bemerke, dass sich der Fotograf bemüht hat, möglichst perfekt zu fotografieren. Fehler werden ausgemerzt, jeder Pixel wird überprüft, ob er an der richtigen Stelle sitzt und wenn das Foto nicht überwältigend genug aussieht, dann wird mit Photoshop nachgeholfen.

Wenn ich mir ein Buch über Fotografie zur Hand nehme, dann habe ich den Eindruck, dass Fotografie nicht über die heilige Dreieinigkeit von Blende, Belichtungszeit und ISO-Zahl hinausgeht.

Um ehrlich zu sein, empfinde ich das inzwischen als geradezu langweilig. Geht es in der Fotografie wirklich nur noch darum, die korrekten Messungen auszuführen? Oder darum, immer sensationellere Fotos zu machen, die lautstark nach Aufmerksamkeit verlangen? „Hier, schau mich an!“, schreit das eine HDR, „Nein, hierhin!“, brüllt das andere. Geht es nur um Objektive, die richtige Kamera, die richtigen Filter?

Als ich angefangen habe zu fotografieren, wollte ich natürlich auch möglichst perfekte Fotos machen, wer will das nicht? Doch das Vertrackte am Perfektionswahn ist, dass man sich selbst in ein Hamsterrad begibt. Man macht Fotos, ist unzufrieden, man lernt, man macht „bessere“ Fotos. Doch da man gelernt hat, genauer zu gucken, ist man immer noch unzufrieden, will noch bessere Fotos machen und so weiter…

© Susan Brooks-Dammann

Ich war also permanent unzufrieden mit meinen Fotos, die immer irgendwie nicht gut genug wirkten. Gleichzeitig fand ich, dass die Bilder, die ich machte, genau so aussahen wie hunderttausend andere Bilder auch. Irgendetwas fehlte.

Im Nachhinein kann ich sagen, wo mein Problem lag. Nämlich darin, dass ich gar nicht versucht habe, „mein eigenes Ding“ zu machen, wie man das so schön sagt. Ich wollte alles so machen wie andere auch, weil ich Angst vor Ablehnung hatte. Ganz banal.

Wenn man versucht, mit anderen mitzuhalten, versucht man doch automatisch, genau das zu machen, was andere machen, nicht wahr? Alles, was anders aussieht, wird doch nicht wirklich anerkannt … so meinte ich jedenfalls.

Inzwischen habe ich mich davon freigemacht, hauptsächlich, weil die Fotografie mir so keinen Spaß mehr gemacht hat. Der Spaß kam erst wieder, als ich angefangen habe, weniger auf das zu schauen, was andere machen und weniger auf das zu geben, was andere darüber sagen.

Über Wabi-Sabi zu lesen, hat mir klargemacht, dass es auch andere Wege der Fotografie gibt. Vielleicht waren es die Elemente des Wabi-Sabi, die Kombination aus Reduktion, Einfachheit, Intuition und Natürlichkeit, die mich angesprochen haben. Diese entsprechen viel mehr meiner Persönlichkeit als diese verbreitete verrückte Kombination aus Technikverliebtheit, Perfektionswahn und Aufmerksamkeitsstreben.

Ich liebe es, Leere und viel Raum um mich herum zu spüren. Dann kann ich atmen. Ich liebe es, durch die Natur zu gehen und die kleinen Wunder zu finden, die sich im Schatten verstecken. Ich finde es faszinierender, im Bild nur anzudeuten, statt konkret zu zeigen. Vor allem aber erlaube ich mir nun, dank Wabi-Sabi, Fehler zu machen.