Duologues – Wenn Bilder sich ergänzen
Im neuen Buch „Duologues“ von Nina Welch-Kling treten immer zwei Fotos miteinander in Dialog. Auf Doppelseiten nebeneinander gestellt, erzählen die ursprünglich als Einzelbild aufgenommenen Fotos plötzlich neue Geschichten. Im Gespräch mit ihr wollte ich wissen, wie man passende Duos findet, welche Geschichten ihr dabei wichtig sind und wie sie als Straßenfotografin in New York arbeitet.
Der Titel des Buchs ist „Duologues“. Ich finde ihn sehr schön und vor allem sehr passend, denn wirklich jede Doppelseite erzählt eine kleine Geschichte! Wie kamst Du auf die Idee, immer zwei Deiner Straßenfotografien miteinander in Dialog treten zu lassen?
Es begann als Übung im Fotoseminar. Wir sollten Diptycha aus unseren Arbeiten machen und als ich das erste Mal zwei meiner Bilder bewusst nebeneinander gestellt habe, hat es Klick gemacht.
Gute Fotos müssen für mich allein stehen können. Auch die Bilder in meinem Buch müssen ganz eigenständig etwas erzählen können. Spannend finde ich aber diese neue Geschichte, die entsteht, wenn man zwei Bilder nebeneinander stellt, obwohl die Bilder zu verschiedenen Zeitpunkten und an verschiedenen Orten entstanden sind.
Diese neuen Geschichten sind sehr subjektiv und abhängig von der Person, die die beiden Bilder betrachtet. Die eigenen Ideen, Fantasien und Vorerfahrungen formen die Geschichte zwischen ihnen. Ich finde deshalb die Reaktionen der Menschen auf meine Arbeit sehr spannend.
Manche meiner Duologe sind sehr einfach in ihrer Verbindung. Man kann sie durch die Formen oder Farben miteinander verknüpfen. Andere wiederum sind eher emotional. Auf sie bekomme ich häufig die Rückmeldung: „Das verstehe ich nicht.“ Dabei gibt es ja kein „richtiges“ Verstehen. Jede Person kann darin sehen, was sie möchte. Es gibt kein Richtig oder Falsch.
Ich kann mir vorstellen, dass das Nebeneinanderstellen nicht immer einfach war. Wie bist Du dabei vorgegangen?
Es war wie ein Puzzle. Ich habe zuerst alle meine Fotos nach Ähnlichkeiten sortiert. Es gab zum Beispiel eine Sammlung mit Hüten, Zigaretten oder Dampf. Anschließend habe ich etwas Memory gespielt: Ich habe immer mehrere Bilder nebeneinander gestellt und überlegt, ob das eine Verbindung ist, die für mich funktioniert.
Manchmal habe ich 30 Verbindungen gelegt, die zwar in Form und Farbe passten, aber nicht vom Gefühl her. Dann gab es plötzlich zwei Bilder, bei denen es klickte. Ich weiß nicht, ob man mein System verstehen kann. Es ist auch ein wenig wahnsinnig gewesen, immerhin hatte ich fast 1.000 Einzelbilder in meiner Auswahl!
Bist Du manchmal auch losgezogen, um gezielt noch ein passendes Foto für ein bestimmtes Einzelbild zu suchen?
Nein, ich habe beim Fotografieren nie nach einem geeigneten Partnerbild für ein bestimmtes Foto gesucht. So fotografiere ich nicht. Wenn ich mit der Kamera unterwegs bin, bin ich einfach im Moment. Dann wird das Projekt zweitrangig.
Erst wenn ich wieder zu Hause bin und meine Fotos sichte, denke ich manchmal, dass das doch ein tolles Paar wäre oder dieses neue Bild gut zu einem anderen aus meinem Archiv passen würde. Aber meine Fotografie selbst beeinflusst das Projekt nicht.
Druckst Du Dir die Bilder aus oder stellst Du sie digital nebeneinander, um die Paare zu bilden?
Ich mache die Zusammenstellung digital und habe mir dafür ein Setup am PC angelegt, in das ich immer links und rechts meine Bilder nebeneinander stellen und leicht austauschen kann.
Für das Buch habe ich aber auch einmal alle Paare ausgedruckt und auf dem Boden über die ganze Wohnung ausgelegt. Es war schon verrückt, die Arbeiten der letzten fünf Jahre so zu sehen.
Ich habe das Gefühl, durch dieses Nebeneinander betrachtet man die Bilder auch viel intensiver, als man es bei einem Einzelbild tun würde. Man neigt dazu, die beiden Bilder zu vergleichen, wodurch die Details wichtiger werden.
Ja. Ich hoffe natürlich, dass man auch beim zweiten oder dritten Mal, wenn man das Buch in die Hand nimmt, wieder etwas Neues entdeckt. Wenn ich fotografiere und die Bilder nach Hause bringe, dann entdecke ich auch immer wieder etwas anderes.
Zum Beispiel auf dem Bild auf Seite 42. Da kam jemand aus der U-Bahn und ich fand das Licht einfach wunderschön. Der Mann hat sich die Hand vors Gesicht gehalten, um sich vor dem Licht zu schützen. Was ich zum Zeitpunkt der Aufnahme noch nicht gesehen hatte, war der Geldschein in seiner Hand. In der Sekunde des Fotografierens kann man diese Details noch nicht alle erfassen. Ich habe vielleicht eine Idee, wie das Foto aussehen könnte, aber erst zu Hause sehe ich Details, wie diesen Dollarschein.
Können wir über diese Doppelseite und ihre Geschichte sprechen? Dem Bild mit dem Mann aus der U-Bahn hast Du eine ganz andere Aufnahme gegenübergestellt.
Das Bild rechts entstand bei RuPaul’s DragCon in New York City. Ich habe eine Weile mit der Person gesprochen und sie hat sich dabei so an das Geländer gelehnt. Aber bevor ich meine Gedanken dazu erzähle, was siehst Du denn in der Verbindung?
Aus meiner weiblichen Perspektive heraus sehe ich da natürlich den Dollarschein und eine scheinbar schöne, blonde Frau im Abendkleid. Ich denke an Männer, die sich Frauen kaufen oder vielleicht an einen Abend in einem Stripclub.
Ja, diese Verbindung sehe ich auch. Hätte man jetzt nur das linke Bild, würde man denken: Naja, der Mann ist einfach unterwegs und will etwas kaufen. Erst die Verbindung macht die Geschichte.
Was ich in den Bildern aber auch sehe, ist, dass der Arm des Mannes denselben Winkel hat wie das Geländer im anderen Bild. Man hat auf der Doppelseite dadurch eine Diagonale, die sich von links oben nach rechts unten zieht. Diese formalen Punkte spiegeln sich auch oft in meinen Bildern und Duologen wider.
Stimmt. Jetzt, da ich die Bilder länger ansehe, merke ich auch, dass in beiden Bildern ein Geländer zu sehen ist. Man könnte sogar denken, die Dragqueen stand vielleicht bei dem Mann links oben im Bild.
Ganz genau. Lass uns noch die Seiten 40 und 41 ansehen. Die formale Verbindung sind hier die Streifen und die weißen Hauben, die diese Falten werfen. Aber auch das Militaristische verbindet die Bilder.
Ja, im Grunde handelt es sich in beiden Fällen um Uniformen.
Die beiden Bilder zeigen Frauen: Eine Frau im Militär und Frauen im Kloster. Sie dienen einem höheren Zweck: Dem Militär und Gott. Die Bilder passen also nicht nur von den Farben, Strukturen und vom Kontrast her zusammen, sondern auch in diesem Beispiel kann man leicht eine inhaltliche Verbindung ziehen. Diese verschiedenen Ebenen waren mir bei der Zusammenstellung sehr wichtig.
Die Größenordnung der Bilder war mir beim Zusammenstellen auch wichtig. Es stehen sich immer ein Bild, das etwas von weiter weg, und eines, das etwas näher dran zeigt, gegenüber. Es ist ganz selten, dass beide dieselbe Größenordnung zeigen. Das würde schnell langweilig wirken.
Zwischendurch darf gern auch Humor dabei sein, wie auf Seite 36 und 37. Es darf nicht immer zu ernst sein, sondern dazwischen muss auch Platz zum Lachen sein. Wenn ich auf der Straße unterwegs bin, sehe ich auch immer wieder Dinge, die mich zum Lachen bringen. Bei dieser Bildkombination muss ich sogar jetzt noch lachen.
Ja, bei der Bildkombination musste ich auch schmunzeln. Was der Mann da wohl mit seiner Zunge gemacht hat?
Vielleicht hat er gerade mit sich selbst geredet? Ich weiß es nicht. In dem Moment hatte das Licht den Ort wieder wie die Bühne in einem Schauspiel ausgeleuchtet. Auch dieser Hotdog rechts ist das einzige Detail, das vom Licht bestrahlt wird. Der Mann ist in dieses Licht hineingelaufen und der Hotdog wurde zum Hauptdarsteller.
Ist das so ein typisches Licht in New York?
Ja, beide Bilder entstanden auf der 5th Avenue am Spätnachmittag. Durch die Hochhäuser gibt immer wieder solche Ecken, an denen das Licht hindurchstrahlt. Die meisten Straßenfotograf*innen hier wissen genau, wo und wann das Licht so fällt. Auch ich suche immer genau diese Orte auf. Dadurch entsteht der Effekt, dass die Menschen wie in einem Rampenlicht stehen.
Wie genau fotografierst Du? In einem Video habe ich gesehen, dass Du die Kamera gar nicht vor dem Auge hältst.
Ich halte die Kamera immer mit etwas Abstand vor mich. Ich weiß also ungefähr, was ich fotografiere, aber ich sehe es nicht durch die Kamera und auch nicht auf dem Display. Ich halte die Kamera ein wenig blind.
Verrückt, wie gerade und genau Deine Bildausschnitte dennoch sind. Wie schaffst Du das?
Vielleicht hilft mir da mein Architekturstudium. (lacht)
Das heißt, Du schneidest Deine Bilder auch nicht im Nachhinein zu? Ich stelle es mir wirklich schwer vor, den perfekten Bildausschnitt zu finden, wenn man nicht durch den Sucher schaut.
In den letzten Jahren habe ich ungefähr 90 % meiner Bilder nicht zugeschnitten. Ich nehme die Menschen oft sehr nah auf. Das heißt, es gibt auch gar kein Material zum Wegschneiden. Manchmal, wenn Häuser nicht gerade sind, rücke ich sie gerade. Aber oft geht das nicht und dann ist das auch in Ordnung.
Welche Kamera nutzt Du für Deine Bilder?
Die Fujifilm X-T100 mit 23-mm-Objektiv. Das ist ziemlich weit, aber ich gehe wie gesagt gern sehr nah an die Menschen heran. Ich werde oft gefragt, wie ich den Menschen so nahe kommen kann. Ich denke, zum einen, weil ich die Kamera genau so vor mich halte. Aber auch, weil ich Augenkontakt mit ihnen halte und alles sehr schnell geht. Im Moment, in dem das Foto entsteht, verstehen viele noch nicht, was gerade passiert.
Wenn doch mal jemand etwas sagt oder fragt, ob ich gerade ein Foto gemacht habe, sage ich meist: „Du siehst schön in diesem Licht aus“. Oder: „Die Highlights in Deinem Haar haben so schön ausgesehen.“ Dann bekommen Menschen, die vorher vielleicht sogar sauer waren, ein inneres Strahlen. Wenn ich nett bin und etwas Nettes sage, habe ich bisher eigentlich keine problematischen Situationen erlebt.
Funktioniert das nur in Amerika oder auch in Deutschland?
Ich habe gerade in Paris fotografiert und davor auch schon in Berlin. Auch dort gab es relativ wenige Probleme.
Ich bin aber auch keine Person, die plötzlich von der Seite auf jemanden zielt und die Menschen überrascht. Die Leute sehen mich da stehen mit meiner Kamera.
Beim Fotoforum Award hat sich ein Fotograf auf der Bühne bei seiner Frau bedankt und entschuldigt, weil er immer überall stehenbleibt, um zu fotografieren. Natürlich auch dann, wenn sie zu zweit unterwegs sind. Hast Du diese Fotokrankheit auch?
Wenn ich mit meiner Familie in den Urlaub reise, dann weiß ich schon, dass ich nicht oder nur wenig zum Fotografieren kommen werde. Das trenne ich dann schon. Aber ja, sonst bleibe ich ständig stehen, weil ich Dinge sehe. Mein Mann läuft dann weiter, dreht sich irgendwann um und sucht mich.
Bei meiner Buchpräsentation jetzt in Paris hat er mich aber auch beim Fotografieren gefilmt, damit die Leute sehen können, wie ich arbeite und wie meine Bilder entstehen. Diesen Blick hinter die Kulissen kann man auch auf meinem Instagram-Account sehen.
Das werde ich mir gleich noch einmal ansehen. Danke für diesen spannenden Einblick in Deine Arbeit!
Informationen zum Buch
Duologues von Nina Welch-Kling
Sprache: Englisch
Einband: Hardcover
Seiten: 96
Maße: 24 x 32 cm
Verlag: Kehrer
Preis: 39,90 €