An einem Tisch
Ich fotografiere gern Menschen. Solche, die schon öfter vor einer Kamera standen und auch solche, die dies aufgrund meiner Anfrage zum ersten Mal tun. Vor allem für letztere habe ich nach einer Möglichkeit gesucht, ihnen den Einstieg zu erleichtern, denn die meisten Menschen sind ja zunächst unsicher, wenn sie fotografiert werden.
Erst recht, wenn sie dann in mein Heimstudio kommen, die große Softbox sehen und sie sich unweigerlich vorstellen, dass gleich gleißend helles Licht auf sie blitzt und ich auch noch meine Kamera direkt auf sie halte. Wie soll ich schauen? Soll ich lächeln? Wie soll ich stehen? Was mache ich mit meinen Armen? All das sind Fragen, die sich vor einer Kamera ungeübte Menschen immer stellen.
Platziere ich den Menschen sitzend an einen Tisch, ist dies eine Situation, die jedem Menschen vertraut ist. Außerdem steht der Tisch etwas schützend zwischen ihnen und mir. Der größere Teil des Körpers wird vom Tisch verdeckt, nur der Oberkörper ist sichtbar. Das Modell muss sich also um die untere Körperhälfte erst einmal nicht kümmern.
Am Tisch sitzend wissen alle, was sie mit ihren Armen so machen können. Lang auflegen, auf die Ellbogen aufstützten, nur ein Arm auf dem Tisch und so weiter. Für mein Set benutze ich einen alten Holztisch, den ich über das Internet günstig erstanden habe. Dahinter befindet sich ein Vinyl-Hintergrund, dessen Strukturierung in der geringen Tiefenschärfe verschwimmt.
Das Licht halte ich – wie bei all meinen Studio-Portraits – recht einfach: nur ein Blitzkopf, als Lichtformer eine große Softbox, mal von rechts, mal von links. Als Musik wähle ich etwas Ruhiges, Entspanntes.
Für mich als Fotograf bietet dieses Set die Möglichkeit, zu schauen, wie der Mensch, den ich da gerade fotografieren möchte, vor der Kamera „funktioniert“: Wie wirkt das Gesicht, hat sie oder er eine Schokoladenseite, agiert die Person sehr schüchtern oder ist sie mutiger und expressiver?
Ich gebe zunächst keine Anweisungen. Schaue, was die Person mir bietet. Für mich ist dieses Set ein guter Einstieg, der für beide den Anfang erleichtert. Zeige ich der fotografierten Person dann ein paar Ergebnisse auf dem Kamera-Display, das ich so eingestellt habe, dass die Bilder bereits in schwarzweiß angezeigt werden, ist das ein Moment mit Wow-Effekt.
Der bewusste Einsatz von Licht, sei es vorhandenes oder Kunstlicht, erzeugt auf dem Foto eine ganz andere Stimmung, als die fotografierte Person erwartet hat, sitzt sie doch in einem ganz normalen Zimmer mit Fenstern. Hiermit gewinne ich schnell das Vertrauen des Modells. Danach können wir weiterfotografieren – ich entspannter und das Modell selbstbewusster.
Für mich ist das Set am Tisch ein nicht zu langer Einstieg in das Shoot und ich habe nicht den Anspruch, dass auf jeden Fall verwertbare Fotos dabei entstehen. Und doch gab es eigentlich noch kein Shoot, bei dem nicht schon am Tisch ein paar tolle, vorzeigbare Bilder entstanden sind.
Da ich häufiger Bilder dieses Sets in meinem Blog veröffentliche, haben die Menschen, die ich fotografieren möchte, schon verschiedene Menschen bei mir am Tisch gesehen. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich Ines zum ersten Mal fotografiert. Schon im Gespräch war mir klar, dass sie dieses Aufwärm-Set nicht brauchen würde, so expressiv und bühnenerfahren war sie.
Und doch war Ines enttäuscht, als ich meinte, dieses Set mit ihr auslassen zu können. Sie bat mich explizit darum, dass ich auch von ihr Bilder am Tisch machen sollte. Spätestens da wurde mir bewusst, dass so langsam eine kleine Serie aus diesem Set wird.