Pose im Portrait: Zeigt sie Kern oder Oberfläche?
„Zeigt die Pose im Portrait mehr den Kern oder die Oberfläche eines Menschen?“ war die Frage, die kwerfeldein erreichte und die ich unglaublich spannend finde, denn sie zeigt ja ganz richtig das Dilemma der Portraitfotografie — auch schon unabhängig von der Pose an sich.
Der Psychologe und Philosoph Ulrich Metzmacher stellt in einem Aufsatz sehr treffend fest, was Portraitfotografie eigentlich ist:
Bei der Portraitsitzung handelt sich um eine Beziehungssituation, die den Beteiligten vor und hinter der Kamera einiges abverlangt. Der oder die zu Portraitierende begibt sich mit einem bestimmten Selbstbild und, meist noch bedeutungsvoller, mit einem Idealbild der eigenen Persönlichkeit in die Sitzung. Der Fotograf oder die Fotografin verfügt hingegen über ein Fremdbild des Menschen vor der Kamera.
Die Kunst für Fotograf*innen besteht also nun darin, ihr Fremdbild mit dem Eigenbild oder gar dem Idealbild der Person vor der Kamera in Einklang zu bringen um sowohl eine möglichst zufriedene Kundschaft zu haben als auch um möglichst nah mit dem Portrait an der wahren Person dran zu sein.
Das ist komplizierter als es vielleicht klingen mag. Der Philosoph Georg Simmel formulierte es schon 1918 in seinem Aufsatz „Das Problem des Portraits“ so:
Was wir nämlich an einem Menschen wirklich sehen, das bloß Optische, sinnlich Aufgenommene seiner Erscheinung ist keineswegs dasselbe, was wir in der Gewohnheit des täglichen Lebens als das Sichtbare bezeichnen.
Denn dieses angeblich Sichtbare ist ein buntes Gemenge des wirklich Gesehenen mit Ergänzungen äußerer und innerer Art, mit Gefühlsreaktionen, Schätzungen, Verknüpftheiten mit Bewegungen und Umgebungen; dazu kommt der Wechsel in Standpunkt und Anteilnahme des Beobachters, kommen die praktischen Interessen, die sich zwischen Mensch und Mensch knüpfen, – kurz, der Mensch ist dem Menschen ein fluktuierender Komplex von Eindrücken aller Sinne und seelischen Assoziationen, von Sympathien und Antipathien, von Urteilen und Vorurteilen, Erinnerungen und Hoffnungen.
Hier sind wir natürlich mitten bei der Pose oder Positur, was nichts weiter eine Bildung aus den lateinischen Wörtern „positura“ (Stellung oder Lage) und „ponere“ (setzen, stellen, legen) ist. Es ist also eine für eine bestimmte Situation gewählte Haltung, Stellung oder Lage und gibt per se erstmal keinen Aufschluss darüber, ob wir an der Oberfläche bleiben oder den Kern beleuchten.
Keine Frage, auch Fotograf*innen, die mit ihren Bildern tiefer gehen möchten, zeigen natürlich die äußere Ansicht des Menschen. Auch Metzmacher stellt das Dilemma fest — auch wenn er sich dabei auf die Malerei bezieht:
Die Komplexität des Sozialen und dessen Niederschlag im Individuum führen zum grundsätzlichen Problem des Portraits. Denn wie kann ein Bild auf der Leinwand eine Vorstellung vom Innenleben und vom Charakter des Portraitierten hervorrufen? Der Endzweck der Malerei liege schließlich, so betont Simmel wiederholt, in der vollkommenen Gestaltung der optischen Erscheinung, der Oberfläche.
Er führt ein wenig später aber eben auch die Lösungsmöglichkeit auf:
Die künstlerische Hervorhebung bestimmter äußerer Merkmale stellt sich als Zugangsweg zum Individuellen dar. Versteht man das Wesen des Menschen als Ganzheit von Körper und Geist, spiegeln neben der Körperhaltung insbesondere die Gesichtszüge etwas von den vorangegangenen Lebenserfahrungen und deren Verarbeitung wider. Aufgabe des Künstlers ist es deshalb, so Simmel, das Gefühl für die Ganzheit durch das Portrait als einen eigentlich abstrakten Teileindruck zu ersetzen.
Um trotz der äußeren Ansicht inhaltlich tiefer zu gelangen, haben wir Fotograf*innen eine ganze Klaviatur visuell-narrativer Möglichkeiten: Setting, Requisite, Bildsprache, gestalterische Merkmale, Wahl des Aufnahmemediums — um nur mal ein paar zu nennen.
Natürlich gelangt dann jeder an den Punkt, den Menschen in dieser Szene eine Positur einnehmen zu lassen. Und hier entscheidet es sich meiner Meinung nach, ob diese Pose mehr den Kern oder mehr die Oberfläche zeigt — und das hängt insbesondere vom Menschen hinter der Kamera ab.
Drängen wir die zu portraitierende Person in eine Pose hinein? Geben wir alles vor, wie sie zu sitzen hat, wie die Hände positioniert sein sollen? Oder legen wir nur die Bühne grob fest und überlassen den zu Fotografierenden wie sie die Bühne bespielen? Letzteres bedeutet ja nicht, dass wir keinerlei Regieanweisungen geben dürfen.
Wenn eine Person — aus welchem Grund auch immer — sitzen sollte, dann können wir sie natürlich bitten, dass sie sich setzt. Aber wie sie sich genau setzt, wie ihr Sitzen aussieht, das überlassen wir ihr. Und wenn sie sich unsicher ist, dann bieten wir noch immer keine vorgefertigten Lösungen an sondern gehen mit ihr durch, wie sie sich hinsetzen würde, wenn sie diese oder jene Stimmung hätte oder gerade diese oder jene Situation vorliegt.
Wir lassen den Menschen vor der Kamera die eigene Rolle finden und unterstützen sie dabei, aber wir geben die Rollen nicht von außen vor. Und damit erreichen wir eine Pose, die auf jeden Fall näher am Kern der Person ist als wenn wir nach irgendwelchen Posenbüchern arbeiten oder uns sklavisch an irgendwelche Moodboards halten.
Dazu gehört aber auch, dass wir ein Gefühl für unser Gegenüber entwickeln und genau beobachten. Wenn sich jemand unwohl fühlt, wenn eine Pose vielleicht nur deswegen eingenommen wurde, weil die Person vor der Kamera uns vermeintlich einen Gefallen tun wollte, diese aber gar nicht zu ihr passt, dann spürt und sieht man das.
Es zeigt sich in den Augen, dem Mund, dem Gesichtsausdruck, der Körperspannung und -sprache. Und dann hilft es oft zu fragen „fühlst Du Dich wirklich wohl oder bist Du es gerade nicht selbst?“, gefolgt von „wie würdest Du denn xy selbst machen?“.
Damit erreicht man meistens eine ganz andere Ebene, weil der Mensch merkt, dass er als eigenständiges Individuum wahrgenommen wird und dass es um das wirkliche Selbst geht.
Natürlich gilt dies alles nur, wenn es um Bilder geht, die einen Kern zeigen sollen. Auch wenn ich dies persönlich in der Portraitfotografie sehr erstrebenswert finde, so ist das selbstverständlich immer abhängig vom Zweck des jeweiligen Bildes.
Im Business-Kontext sieht das schnell anders aus. Wenn ich auf die Seite einer Praxis gehe, möchte ich nicht tiefer in die Persönlichkeit des Personals eintauchen, sondern erwarte eine Ausstrahlung funktionaler Autorität und Kompetenz gepaart mit Sympathie, auf dass ich mich als Patient*in sicher aufgehoben fühle.
Nur: wenn ich da Menschen in irgendwelche Posen reinzwinge, kann es mit einer sympathischen Ausstrahlung auch schnell dahin sein, wenn sie nicht zum Kern des Menschen passen.
Wie seht Ihr das? Anregungen oder Aufregungen zum Text könnt Ihr gern in den Kommentaren hinterlassen. Und wenn Ihr selbst eine Frage beantwortet haben möchtet, dann zögert nicht und schickt sie uns an: kk@kwerfeldein.de