08. Juli 2022 Lesezeit: ~7 Minuten

Vor 44 Jahren abgelaufen.

Ich liebe Flohmärkte und halte an jedem Stand, an dem ich alte Kameras sehe. Man weiß ja nie, ob nicht doch irgendwo ein unentdeckter Schatz versteckt ist. Vielleicht ein roter Punkt auf einer der antiken Kameras oder ein Kästchen mit Negativen eines noch unbekannten Kindermädchens? So bin ich im vergangenen Sommer auch auf diesen Film der Firma Agfa gestoßen. Abgelaufen im März 1977.

Jetzt werden einige von Euch vielleicht mit Blick auf das eigene Geburtsjahr sagen, dass 1977 doch nicht alt sei und Nassplattenfans werden vielleicht nur müde lächeln, aber für mich war der Fund etwas Besonderes. Ich fragte mich, ob ein Film, der vor 44 Jahren abgelaufen ist, überhaupt noch belichtet werden kann. Würde man etwas auf den Bildern sehen und welche Bildfehler entstehen durch das Alter?

Der Verkäufer sah mich etwas irritiert an, als ich ihn fragte, wie der Film gelagert wurde. Wahrscheinlich bekam er ihn einfach bei einer Haushaltsauflösung mit vielen, vielen anderen Sachen und nahm ihn nun das erste Mal bewusst wahr. Und noch wahrscheinlicher hatte der Film niemals einen Kühlschrank von innen gesehen.

Filme lagert man am besten kühl und dunkel, weshalb sich bei vielen Fotograf*innen der Salat ein Regal mit den Filmen teilt. In meinen Gedanken sah ich diesen Film jedoch jahrzehntelang auf der Fensterbank eines Dachbodens liegen. Oder hinter einem alten Ofen. Aber als der Händler ihn mir für 1 € anbot, überlegte ich nicht mehr lange und beschloss, das Experiment zu wagen. Ich wollte den Film belichten.

Agfa-Gevaert entstand 1964 durch eine Fusion der deutschen Agfa AG und der belgischen Gevaert. Der Film muss also Ende der 60er bis Anfang der 1970er Jahre produziert worden sein. Verpackt war er in einer kleinen Metalldose. Zusätzlich lag eine Versandtasche für den Agfacolor-Service bei. Ein Service, der heute in der Form natürlich nicht mehr existiert. Ich musste deshalb ein Labor finden, das meinen Film sorgsam entwickeln und auf mögliche Besonderheiten eingehen würde.

Bei meiner Sucher stieß ich auf das Urbanfilmlab. Ein kleines Fotolabor aus NRW, das auf der Webseite damit wirbt, mit „viel Liebe zum Detail“ und „einem direkten Draht zum Kunden“ zu arbeiten. Das klang vielversprechend und nach einem kurzen Telefonat mit dem Gründer Tobias Urban selbst, wusste ich, dass er mein Experiment genauso spannend findet und meine Neugierde teilt. Er gab mir zudem noch einige wichtige Hinweise zum Belichten.

Zum Beispiel, dass die Farben wahrscheinlich verblasst sein würden und dass man bei alten Filmen die Empfindlichkeit lieber halbiert. Der Film sollte also statt mit den angegebenen 50 ASA lieber mit 25 ASA belichtet werden. Eine kleine Herausforderung im düsteren, deutschen Winter.

Ich hatte also einen alten Film, den ich so sicher nicht wiederfinden würde und ein Labor, das ihn mir mit größter Sorgfalt entwickeln würde. Und ich wurde nervös. Ich fotografiere zwar sehr gern, aber nicht unbedingt routiniert. Zudem arbeite ich hauptsächlich digital. Meine Analogkameras habe ich beim letzte Mal nur noch zum Abstauben in die Hand genommen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich den Film zum Belichten in andere Hände geben muss.

Deshalb fragte ich die junge Leipziger Fotografin Jule Wild. Ich bin schon länger großer Fan ihrer Aufnahmen. Sie fotografiert hauptsächlich analog und hat ein komplettes Projekt über Versagensängste ins Leben gerufen. Wenn jemand mit dem Druck umgehen kann, einen nicht wiederbeschaffbaren Film mit Bildern zu füllen, dann sie, dachte ich mir.

Nach einigen kurzen Sprachnachrichten willigte sie ein und mein Film reiste in den Osten Deutschlands. Jule fotografierte in den darauffolgenden Wochen und nutzte jeden etwas helleren Tag des dunklen Winters, um dem altersschwachen Film das nötige Licht zu geben. Sie ging beim Fotografieren davon aus, dass die Bilder am Ende farbig sein würden. Schließlich stand auf dem Film groß „Agfacolor“.

Überraschenderweise erreichten uns mit der E-Mail vom Urbanfilmlab 36 Schwarzweißaufnahmen. Zusätzlich hatte jede Aufnahme ein starkes Korn, das wir bei ASA 25 auch nicht erwartet hätten. Eine zusätzliche Nachricht von Tobias erklärte uns den Umstand:

Leider hat es etwas gedauert, den Film zu entwickeln und zu scannen. Als er ankam, habe ich gemerkt, dass der Entwicklungsprozess, der für diesen Film notwendig ist, einfach nicht mehr verfügbar ist. Ich musste mir dann überlegen, was ich machen kann, um Euch zu helfen und habe mir eine Entwicklungsmethode als Schwarzweiß überlegt und ausprobiert. Die Negative sind nahezu nicht zu erkennen. Dennoch habe ich es geschafft, wenigstens ein Schwarzweiß-Ergebnis zu erzielen. Der Aufwand war recht hoch, hat aber dennoch sehr viel Spaß gemacht. Ich liebe ja Experimente.

Männerportrait

Kaffeetasse wirft großen Schatten

Frau mit Hund

Ich kann mir nicht vorstellen, wie aufwändig es gewesen sein muss, dem Film Bilder zu entlocken, aber ich bin unglaublich dankbar, dass es Menschen wie Tobias und Jule gibt, die die Fotografie nicht zu ernst nehmen und gern mit ihren den Möglichkeiten spielen, um Neues zu entdecken. Die Aussage, es habe „etwas gedauert“, ist komplett übertrieben. Es lag nur eine knappe Woche zwischen dem Versand des Films an das Labor und der E-Mail mit den fertigen Aufnahmen.

Im Kopf hatte ich natürlich eher schöne entsättigte, vielleicht sogar surreal verschobene Farben. Einen leicht türkisen Himmel oder diese gelbstichigen Innenaufnahmen, wie man sie aus den alten Fotoalben kennt. Aber je länger ich die Bilder von Jule ansehe, umso versöhnlicher werde ich. Die Melancholie, die sie in ihre sonst farbigen Bilder bringt, passt auch ganz wunderbar zum entstandenen Effekt.

Junger mann raucht

Menschen im Garten

Blumen auf der Fensterbank

Jule sah das zum Glück ähnlich und schrieb mir:

Die Ergebnisse sind so cool geworden! Ich bin sehr überrascht, dass man wirklich auf allen Bilder etwas erkennt! Ein bisschen schade um die Bilder, die nur über Farbe und Lichtstimmung funktioniert hätten, aber das waren zum Glück nicht so viele.

Tatsächlich ist auf fast allen Bildern etwas zu erkennen. Nur ganz wenige sind so düster, dass man die Umrisse nur erahnen kann. Und nur drei haben kleine Bildfehler, die wohl dem Alter des Films geschuldet sind.

HochhausHochhaus mit Bildfehler

Ein großer Dank geht an Jule und Tobias. Jetzt freue ich mich auf die Sommerflohmärkte und neue Entdeckungen. Vielleicht finde ich das nächste Mal einen 66 Jahre alten Rollfilm oder eine gefüllte Kamera mit vergessenen Bildern, die wir dann gemeinsam wiederentdecken können.

Was war Euer ältester Film? Oder habt Ihr ebenfalls ein verrücktes Experiment gewagt? Erzählt gern davon in den Kommentaren oder schreibt mir eine E-Mail an: kk@kwerfeldein.de.

Dieser Artikel wurde ursprünglich am 4. Februar 2022 veröffentlicht.

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