Kind auf einer selbstgemachten Schaukel vor einem Zelt
09. April 2021 Lesezeit: ~11 Minuten

Ein Bildband für Horst Seehofer

Auf Facebook wurde in den letzten Tagen ein Brief von Horst Seehofer an die Fotografin Alea Horst vielfach geteilt. Während ich das schreibe, hat der Beitrag schon 408 Kommentare und wurde 361 mal geteilt. Der Brief war die Antwort auf einen Bildband über die Lager in Lesbos.

Alea arbeitet seit 2016 als Reportagefotografin und dokumentiert die Situation der flüchtenden Menschen ebenso wie Kinderarbeit in Bangladesch und andere Verbrechen auf der Welt. Ich war neugierig, wie sie die Antwort von Seehofer wertet und bat sie um ein Interview.

Kinder spielen zwischen Müll

Wenn man auf Deine Webseite schaut, sieht man dort erst einmal nur Hochzeitsaufnahmen. Und etwas versteckt die Reportagen. Seit 2016 warst Du in Bangladesch, Sri Lanka, Aleppo und auf Lesbos, um nur einige Orte zu nennen. Wie bekommst Du alles unter einen Hut?

Ich bin aktuell in einer Transformationsphase. Meine Hochzeitsfotografien haben jetzt lange die sozialen Reportagen finanziert. In der Hauptsaison habe ich sehr viele Hochzeiten fotografiert und bin dann in der Nebensaison von November bis März aufgebrochen, um soziale Projekte zu dokumentieren oder zu unterstützen.

Ich bin ja nicht nur als Fotografin unterwegs, sondern oft auch als Nothelferin, Seenotretterin oder Menschenrechtsaktivistin. Bei den sozialen Projekten ist die Fotografie für mich ein zusätzliches Instrument, um den Menschen zu helfen. In den letzten Jahren sind auch immer mehr Hilfsorganisationen auf mich aufmerksam geworden und haben gesagt: Die größte Hilfe, die Du leisten kannst, ist, gute Bilder zu produzieren.

Diese Anfragen haben in den letzten Jahren überhandgenommen und ich habe gemerkt, dass mir diese Reportagen auch viel wichtiger sind als die Hochzeiten. Sie haben einfach eine viel größere Notwendigkeit, sodass ich jetzt zum 1. Januar auch beschlossen hatte, keine Hochzeiten oder Familienportraits mehr anzubieten. Ich widme mich ausschließlich den Reportagen.

Dafür gründe ich gerade einen Verein und hoffe, dass dieser meine Arbeiten dann langfristig finanzieren kann. Wenn ich keine Hochzeiten mehr fotografieren muss, habe ich zeitlich viel größere Kapazitäten.

Person hält beschriftetes Blatt nach oben

Ich höre heraus, dass die ganzen Organisationen und NGOs Deine Arbeit nicht ausreichend bezahlen können. Man könnte die Reportagen nicht durch die Reportagen finanzieren?

Es gibt Organisationen, die mich bezahlen, aber die meisten können sich nur einen sehr geringen Tagessatz leisten. Von 250 € pro Tag kann ich nicht einmal die Reisekosten decken. Als selbstständige Fotografin kann ich nicht nur von diesen Aufträgen leben.

Kannst Du Dich an Deine erste Reportage erinnern? Wie hat das alles angefangen?

2015 hatte ich ein wahnsinnig erfolgreiches Fotografiejahr. Ich habe sehr hochkarätige Paare begleitet, war auf Schlössern und an anderen luxuriösen Orten unterwegs. Zeitgleich sah man in den Medien die vielen Bomben auf Syrien fallen, Menschen standen an den europäischen Außengrenzen. Ich kam mit dieser Diskrepanz nicht klar: Dass ich in dieser luxuriösen Welt hänge, während es so viel Leid direkt vor unserer Tür gibt.

An Silvester fasst man ja Vorsätze fürs neue Jahr und ich habe also beschlossen, etwas zu tun. Ich schloss mich einer schwedischen Hilfsorganisation an und bin nach Lesbos gereist, um als Nothelferin zu arbeiten.

Was ich da gesehen habe, war so schlimm. Man kann es sich nicht vorstellen, wenn man nicht vor Ort war. Ich habe am Strand geholfen, Menschen aus den Booten zu ziehen. Ich habe gerochen, was für Entbehrungen sie wochenlang erleiden mussten. Diese Todesangst in den Augen zu sehen, sie schreien und weinen hören – das war für mich wie ein schwerer Schlag ins Gesicht.

Ich war wie gesagt nicht als Fotografin vor Ort, habe aber die Kamera in die Hand genommen, weil ich dachte: Es ist so schrecklich hier, das glaubt mir zuhause kein Mensch. Diese ersten Bilder habe ich nur für meine Familie gemacht und auch nur, wenn die Situation am Strand einigermaßen unter Kontrolle war und wir genügend Helfende waren. Ich musste die Bilder als Beweis machen.

Dann bin ich nach Hause gekommen und kam in mein normales, altes Leben nicht mehr zurück.

Menschen schlafen draußen an einer Bushaltestelle

Hast Du etwas gefunden, das Dir hilft, das Erlebte zu verarbeiten? Wie schützt Du Dich und was hilft Dir, wieder ins Leben zurückzufinden?

Es gibt eine wahnsinnige Diversität in solchen Krisen- und Kriegsregionen. Auf der einen Seite ist dieses Leid und auf der anderen Seite trifft man unfassbar fantastische Menschen, die, obwohl sie selbst nichts haben, alles teilen. Die, obwohl es ihnen schlecht geht, jeden Morgen aufstehen und nicht aufgeben.

Es gibt auch so tolle Nothelfer*innen und Sozialarbeiter*innen. Menschen von Hilfsorganisationen, die im tiefsten Schlamm stehen und die Ärmel hochkrempeln, um das Leben anderer etwas zu verbessern.

Das ist etwas, das mich immer wieder inspiriert und wobei ich mir auch selbst sage: Ich kann hier doch nicht jammern, nur weil ich zusehen muss. Ich bin ja nicht betroffen, sondern ich muss nur hinsehen.

Ich bin auch immer sehr nah bei den Menschen. Ich möchte nicht über sie reden, sondern mit ihnen. Man kann mich oft auch sitzend mit einer geflüchteten Familie in einem Zelt antreffen. Ich brauche diesen nahen Kontakt zu ihnen, denn das gibt mir die Kraft, alles zu verarbeiten.

Was tatsächlich schlimm ist, ist nach Hause zu kommen. In dieses luxuriöse, sorgenfreie Deutschland zurück. Im Vergleich zu dem Leid vor Ort, wie zum Beispiel der Kinderarbeit in Bangladesch, haben wir hier ja ein unfassbar fantastisches Leben.

Und gleichzeitig sehe ich hier eine wahnsinnige Gleichgültigkeit dem Rest der Welt gegenüber. Ich finde, wir haben in Deutschland vollkommen die Bodenhaftung verloren, weil wir überhaupt nicht mehr verstehen, was die Armut und diese unfassbare Ungleichheit wirklich für die Menschen bedeuten. Das verstehen wir nicht mehr.

Es gibt diesen Spruch, den Marie Antoinette gesagt haben soll: „Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen.“ So gehen wir mit mental mit diesen Schicksalen um. Und das ist der große Frustrationsfaktor bei meiner Arbeit. Es ist nicht das Anschauen von Leid, sondern dass ich die Gleichgültigkeit der deutschen Gesellschaft akzeptieren muss.

Menschen an einem Wasser

War das auch der Grund, warum Du beschlossen hast, die Bildbände zu drucken und an Angela Merkel, Ursula von der Leyen und Horst Seehofer zu schicken?

Ja. Ich hatte im letzten Jahr eine große Ausstellung in Berlin kreiert. Ich habe sie auch extra nach Berlin gebracht, weil ich wollte, dass Politiker*innen dort hineingehen. Ich habe ein multimediales Erlebnis geschaffen, in dem man auf Kinoleinwand in 180° Bilder und Ton aus Flüchtlingslagern sehen und hören kann.

Es ist eine sehr bewegende Ausstellung, aber wegen der Corona-Pandemie kann sie nicht besucht werden. Das ist frustrierend. Aber deshalb habe ich nach anderen Wegen gesucht, meine Arbeiten der Politik nahe zu bringen und habe diesen Bildband erstellt.

Was sieht man in diesem Bildband?

Ich habe ganz viele Kinder auf Lesbos interviewt und portraitiert. Im Bildband sind sowohl die Portraits als auch Zitate zu finden, in denen die Kinder erzählen, wie es ist, als geflüchtetes Kind zu leben. Die Bilder sehe ich im Buch tatsächlich eher als Beiwerk zu diesen Zitaten.

Zitat in einem Buch

Arbeitest Du für diese Zitate mit Übersetzer*innen zusammen?

Ja, ich bin immer mit Übersetzer*innen unterwegs, aber es sind immer Menschen aus den Lagern selbst. Ich beauftrage niemanden Fremdes dafür, sondern bin immer direkt in Kontakt mit den Geflüchteten und suche mir vor Ort Menschen, die mich unterstützen möchten.

Seehofer hat ja tatsächlich auf Deinen Bildband geantwortet und Dir einen Brief geschickt, den Du auf Facebook veröffentlicht hast. Dieser Beitrag hat sehr viel Resonanz bekommen. Hat es Dich überrascht, dass er geantwortet hat?

Ja, ich hatte keine Erwartungen, aber doch Hoffnung. Ehrlich gesagt habe ich nicht geglaubt, dass die drei die Bücher überhaupt zu sehen bekommen. Ich habe aber alles dran gesetzt und die Bücher so hochwertig wie möglich produziert, mit Layflat-Bindung und individuellen Covern. Ich habe viel Geld in die Hand genommen, damit der Druck außergewöhnlich ist. Ich wollte damit die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine der drei Personen das Buch ansieht. Der Brief von Seehofer war für mich eine riesige Überraschung.

Ich habe gestern auch eine Antwort der Bundeskanzlerin bekommen. Allerdings war das eher ein Standardantwortbrief: „Danke für den gelungenen Bildband und für Ihre weitere Arbeit alles Gute.“ Von Frau von der Leyen habe ich noch keine Antwort erhalten.

Einblick in einen Bildband

Ich will ehrlich sein. Als ich die Antwort von Horst Seehofer gelesen habe, war ich nicht so positiv gestimmt wie die meisten Menschen, die den Beitrag kommentiert und geteilt haben. Er schreibt Sachen wie: „Angesichts des unermesslichen Leids der von Ihnen porträtierten Menschen, aus deren Augen aber auch die Kraft des Lebens spricht, muss ich mich fragen, ob wir genug zur Behebung oder Linderung des Leids der Menschen tun.“ Du selbst fotografierst seit fünf Jahren, solche Bilder und Interviews gibt es seit Jahren. Liest der Mann keine Zeitungen, sieht er keine Nachrichten? Vielleicht bin ich in Resignation verfallen, aber es liest sich für mich zynisch.

Ja, er weiß das alles natürlich und hat auch öfter gesagt, diese Lager seien die Schande Europas. Ich hatte natürlich nicht die Erwartung, dass dieser Mann auf einmal sagt: Ach, die Bilder sind so besonders und die Texte haben mich so berührt, ich verändere mich und rette jetzt die Menschen, die wir seit Jahren absichtlich und obwohl wir die finanziellen Mittel haben, menschenunwürdig behandeln.

Meine Erwartung ist auch recht niedrig. Der Wunsch, den ich hatte, war, dass er es sich noch einmal anschaut. Vielleicht hat es einen kleinen Stich gegeben. Selbst wenn er beim nächsten Abschiebeflug nicht mehr ganz so breit in die Kamera grinst, ist für mich schon etwas gewonnen.

Und es war natürlich eine Aktion, um noch einmal etwas Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken. Jetzt muss auch die nächste Aktion folgen.

Kinder posieren vor der Kamera

Das klingt, als hättest Du einen Plan für den nächsten Schritt?

Ich arbeite ja momentan an nichts anderem, als Aufmerksamkeit für die Menschen in den Lagern, aber auch in den Krisen- und Kriegsregionen zu generieren. Ich möchte im Sommer mit einer Organisation nach Afghanistan gehen.

Ich sehe mich als Fotografin als Brückenbauerin und helfe beim kulturellen Dialog, weil ich immer wieder sehe, dass wir gesellschaftlich voller Vorurteile sind und in Wirklichkeit überhaupt keine Ahnung haben. Und ich stelle vor Ort solange naive Fragen, bis ich alles gut und einfach übersetzen kann.

Ich werde damit auch nicht aufhören. Das war jetzt eine Aktion, aber es wird mehr folgen.

Vielen Dank für das Interview und viel Kraft für die neuen Projekte!

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