Portrait lesender Frau
06. April 2021 Lesezeit: ~7 Minuten

Wer war Gertrude Käsebier?

Bevor ich mich näher mit der Gertrude Käsebier beschäftigte, kannte ich nur ein einziges ihrer Bilder. Und zu allem Überfluss hatte ich es fälschlicherweise auch noch Alfred Stieglitz zugeschrieben. Höchste Zeit also, sich genauer mit der amerikanischen Fotografin auseinanderzusetzen.

Bei besagtem Bild handelt es sich um ihr Portrait von Evelyn Nesbit, aufgenommen im Jahr 1900, das auf dem Titel der TASCHEN-Gesamtausgabe von Camera Work zu sehen ist. Kein Wunder, dass ich das Werk falsch abgespeichert hatte, denn der Name Alfred Stieglitz, der von 1903 bis 1917 Herausgeber der gleichnamigen Zeitschrift war, prangt direkt überm Titel.

Portrait

Evelyn Nesbit, 1900.

Portrait

Minnie Ashley, 1905.

Gertrude Käsebier war eine der Fotograf*innen, deren Werke in Camera Work veröffentlicht wurden. Sie wurde als Gertrude Stanton im Jahr 1852 in Iowa geboren und kam erst im Alter von 37 Jahren zur Kunst und zur Fotografie, wenn andere Menschen sich bereits sehr fest in ihrem Leben eingerichtet haben und nur noch die allerwenigsten alles wieder über den Haufen schmeißen, um etwas Neues anzufangen.

Bis zu diesem Zeitpunkt sah es so aus, als hätte das Leben einen völlig anderen Weg für sie vorgesehen: Als sie 12 Jahre alt war, zog ihre Familie nach New York um und heiratete an ihrem 22. Geburtstag: Eduard Käsebier, einen gut situierten Geschäftsmann, der aus Deutschland eingewandert war.

Portrait

Josephine Brown, 1900.

Frau beim Aufhängen von Wäsche im Freien

Laundry in Newport, 1902.

Sie bekamen drei gemeinsame Kinder und zogen von der Großstadt hinaus nach New Jersey, um ihnen eine bessere Umgebung zum Aufwachsen zu bieten. Allerdings fühlte sich Gertrude Käsebier in dieser Ehe immer miserabel, weshalb die beiden nach der Geburt ihres dritten Kindes getrennt lebten, auch wenn sie verheiratet blieben.

Wie nachhaltig unglücklich die Institution der Ehe Gertrude Käsebier gemacht hatte, wird etwa auch anhand eines Bildtitels deutlich, den sie einer Aufnahme von 1915 gab, die zwei mit Maulkörben ausgestattete und in ein Joch gespannte Rinder zeigt: „Yoked and Muzzled – Marriage.“ (Daneben stehen auch noch passend zwei etwas ratlos dreinblickende Kinder.)

zwei Rinder und zwei Kinder

Yoked and Muzzled – Marriage, 1915.

Portrait

Heritage of Motherhood, 1904.

Trotz aller Unstimmigkeiten muss ihr Mann wohl ein für seine Zeit in Beziehungsdingen eher rationaler und weniger konservativer Mensch gewesen sein. Er unterstützte seine Frau weiterhin finanziell und ließ ihr auch die Freiheit, Kunst zu studieren, obwohl die Familie dafür sogar wieder nach Brooklyn umziehen musste und die Kinder noch im Alter von neun bis 14 Jahren waren.

Eigentlich war Gertrude Käsebier am Pratt Institute of Art and Design für Zeichnung und Malerei eingeschrieben, wendete sich jedoch sehr schnell leidenschaftlich der Fotografie zu. Innerhalb weniger Jahre studierte sie die Kunst und Technik unter anderem auch in Europa und konnte bereits 1896 im Boston Camera Club ausstellen – mit 150 Arbeiten eine Schau von damals enormer Größe.

zwei Kinder sitzen auf einem Treppenabsatz, im Hintergrund des Raums dreht eine Frau sich zu ihnen um

Lollipops, 1910.

sitzende Frau stillt Kind auf ihrem Arm

The Manger, 1900.

Während ihres Studiums entdeckte sie auch die Arbeit von Friedrich Fröbel, dessen Theorien über den wichtigen Einfluss der Mutter auf die Entwicklung von Kindern sie tiefgreifend beeinflusst haben. Das Thema der Mutterschaft, dem besonderen Band zwischen Mutter und Kind, findet sich in ihren Fotografien immer und immer wieder.

Eine dieser Arbeiten mit dem Titel „The Manger“ von 1900, das eine wohl in einem Stall sitzende Mutter zeigt, die in einem weißen Kleid mit wallendem Schleier inszeniert ihr Kind stillt und durch ein Fenster in gleißendes Licht gehüllt wird, wurde zum damaligen Rekordpreis von 100 $ verkauft.

Als Gertrude Käsebier 1895 von ihren Studienreisen nach Brooklyn zurückkehrte, beschloss sie, professionelle Fotografin zu werden, da ihr Mann inzwischen sehr krank und die finanzielle Situation der Familie dadurch angespannt war. Sie assistierte dem Fotografen Samuel H. Lifshey, bei dem sie lernte, ein Fotostudio zu unterhalten und ihre Drucktechniken zu verbessern.

Portrait

Chief Flying Hawk, 1898.

Portrait

The Red Man, 1903.

Ein paar Jahre später zog die Truppe von „Buffalo Bill’s Wild West“ vor ihrem nun eigenen Fotostudio auf der New Yorker Fifth Avenue vorbei und erinnerte sie an Begegnungen mit dem Volk der Lakota in ihrer Jugend. Also nahm sie Kontakt mit William „Buffalo Bill“ Cody auf und bat darum, Mitglieder der Sioux fotografieren zu dürfen, die mit der Show herumreisten.

Gertrude Käsebiers Herangehensweise an dieses Projekt war dabei rein künstlerischer Natur, trotz ihrer in dieser Zeit vor allem kommerziell ausgerichteten Fotografie. Es ging ihr darum, ganz klassische Portraitaufnahmen von entspannten Menschen zu machen und so „echte“ amerikanische Ureinwohner abzubilden.

Portrait

Iron White Man, 1900.

Portrait

Joe Black Fox, 1900.

Dabei konzentrierte sie sich ganz auf die Individuen vor ihrer Kamera sowie ihren ganz persönlichen Ausdruck. Einige Stammesmitglieder hatten vor den Aufnahmen sorgsam ausgewählt, mit welchen traditionellen Insignien sie sich portraitieren lassen wollten – doch Gertrude Käsebier bat teilweise darum, all das Ornat wieder abzulegen, um die Personen in den Vordergrund zu rücken statt der Stammesidentitäten.

Damit war ihre Arbeit konzeptuell ganz anders ausgerichtet als etwa die ihres Zeitgenossen Edward Curtis, der gerade begann, drei Jahrzehnte damit zu verbringen, in unter anderem 40.000 Fotografien die nordamerikanischen Ureinwohner zu dokumentieren. Dabei inszenierte er die Portraitierten zum Teil stark, damit sie seine romantisierte Vorstellung einer unbeeinflussten Kultur abbildeten.

seitliches Portrait im Atelier

Auguste Rodin, 1905.

Portrait

Alfred Stieglitz, 1902.

Wie renommiert die Arbeiten von Gertrude Käsebier zu ihrer Zeit waren und welche besondere Anerkennung unter anderen Fotograf*innen sowie künstlerisch-technische Perfektion sie sich innerhalb nur etwa eines Jahrzehnts erarbeitet hatte, wurde klar, als Alfred Stieglitz sie neben knapp einem Dutzend weiterer internationaler Größen der Fotografie als Gründungsmitglied der Photo-Secession einlud.

Stieglitz publizierte ihre Arbeiten mehrfach und stellte sie auch aus. Später zerstritten die beiden sich allerdings, da Gertrude Käsebier immer stärker der kommerziell ausgerichteten Seite der Fotografie zugetan war, während Alfred Stieglitz idealistisch davon überzeugt war, dass Berufsfotograf*innen durch die finanzielle Abhängigkeit gar keine freie, wahre Kunst schaffen konnten.

Nachdem ihr Mann Eduard 1910 starb, arbeitete Gertrude Käsebier in den folgenden zwei Jahrzehnten weiter daran, ihre geschäftliche Fotografie auszubauen und portraitierte unter anderem diverse prominente Persönlichkeiten ihrer Zeit. Ab 1924 unterstützte auch ihre Tochter Hermine Turner die Mutter bei der Arbeit im Fotostudio.

Portrait

Gertrude Käsebier, 1900. Aufgenommen von Samuel H. Lifshey.

Portrait mit Zeichnung

Selbstportrait, 1899.

1929 löste Gertrude Käsebier das Studio auf und starb 1934 im Haus ihrer Tochter Hermine. Neben den zwei großen Themen ihres Lebenswerks – Bilder der Mutterschaft und Portraits der amerikanischen Ureinwohner – für die sie bekannt ist, ging sie übrigens auch als große Befürworterin der Fotografie als Karriere für Frauen in die Geschichte ein:

Ich rate künstlerisch veranlagten Frauen ernsthaft, sich für das noch unbearbeitete Gebiet der modernen Fotografie auszubilden. Es scheint für sie besonders geeignet zu sein und die wenigen, die es betreten haben, ernteten erfreulichen und profitablen Erfolg.

Gertrude Käsebier ist also ein wunderbares Beispiel dafür, dass es nie zu spät ist, einem lang gehegten Traum doch noch zu folgen. Und: Das Leben verläuft nicht schablonenhaft. Trotz ihrer unglücklichen Ehe und der großen Hingabe, mit der sie ihre Karriere verwirklichte, war sie bis an ihr Lebensende leidenschaftlich auch Mutter.

Titelbild: Martine McCulloch, 1910.

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