19. März 2021 Lesezeit: ~4 Minuten

Kolumne: Deep Nostalgia – Umgang mit Verstorbenen

Von „Ey cool, das ist ja wie bei Harry Potter“ bis „Uäh, wie gruselig“: Die Meinungen in der Redaktion zu „Deep Nostalgia“ sind genauso breit gefächert wie die Wahrnehmung des neuen KI-Dienstes in der Öffentlichkeit.

Was aber ist eigentlich dieses „Deep Nostalgia“? Am 25. Februar 2021 stellte MyHeritage das neueste Feature seiner Dienstleistungen vor. Deep Nostalgia ist eine KI, die es ermöglicht, aus einem Foto ein Bewegtbild zu generieren. MyHeritage, ein Anbieter für Ahnenforschung, möchte es mit diesem Dienst seinen Nutzer*innen ermöglichen, Fotografien von verstorbenen Angehörigen zu animieren.

Die Handhabung ist denkbar einfach: Man ruft die Seite von MyHeritage auf, erstellt einen Account und lädt ein Bild hoch. Den Rest erledigt die KI. So weit, so gut. Klingt nach einer schönen, harmlosen Spielerei. Wenn man sich jedoch im Netz umschaut, findet man dazu erstaunlich viel Kritik:

Der bayrische Rundfunk beispielsweise sieht darin die Disneysierung, ja, die drohende Vereinfachung der Geschichte. Zitat: „Es droht eine Simplifizierung, eine Verkitschung, eine Verzerrung von Geschichte.“

Als hätte es nie Filme wie „Mulan“ oder „Pocahontas“ gegeben oder als gäbe es nicht längst die Erkenntnis, dass weite Teile historischer Ereignisse, so wie wir sie kennen, einer, sagen wir mal, sehr einseitigen Darstellung zum Opfer wurden. Der Umgang mit dem Kolonialismus ist ein besonders prägnantes Beispiel.

Natürlich wird diese Fragestellung dadurch aber nicht automatisch irrelevant. Hinter den animierten Fotografien steckt die Technik für sogenannte Deepfakes. Der Begriff „Deepfake“ ist ein Kofferwort aus „Deep Learning“ und „Fake“. Gemeint ist damit gefälschtes Bild- und vor allem Videomaterial.

Bei 96 % dieser Videos handelte es sich in 2019 um Pornografie. In überwältigender Mehrheit sind davon Frauen betroffen, wie der Rolling Stone in einem Artikel berichtete. Aber auch andere unerwünschte Beeinflussungsmöglichkeiten wie Wahlbetrug, Börsenmanipulation, die Untergrabung von Institutionen sind ebenso politisch und gesellschaftlich brandgefährlich. Grenzen setzt dabei im Moment nur die Fantasie der Nutzer*innen.

Und nicht nur bei den eben genannten gefälschten pornografischen Videos geht es um die nicht vorhandene Einvernehmlichkeit. Wären die so abgebildeten Verstorbenen mit dieser Art der Animation einverstanden und welchen Umgang wollen wir eigentlich mit unseren Toten? Denn natürlich geht noch viel mehr, als nur die kleinen GIF-ähnlichen Videosequenzen.

Das Dalí-Museum in Florida hat in 2019 den Künstler so animiert, dass er mit den Besucher*innen interagiert und seine eigene Ausstellung präsentiert. Zum Schluss fordert Dalí sie zu einem gemeinsamen Selfie auf. Im selben Jahr berichtete der Hollywood Reporter, dass die Produktionsfirma Magic City Films einen Film mit James Dean plant. Angeblich versuchte man sogar, die Nutzungsrechte an Bildmaterial von sowohl Elvis Presley auch dem jungen Paul Newman dafür zu bekommen. Erfolglos.

Der Hollywood Reporter zitierte den Produzenten Anton Ernst unter anderem folgendermaßen: „Wir suchten nach dem perfekten Charakter, um die Rolle zu portraitieren […] und nach monatelanger Forschung entschieden wir uns für James Dean.“

Ich weiß bei dieser Aussage, wenn sie tatsächlich so getätigt wurde, gar nicht, wo ich anfangen soll, aber mindestens halte ich schauspielerische Anforderungen an eine maschinelle Interpretation eines Verstorbenen für nur leidlich mit Unkenntnis verhüllte Profitgier. Sowohl Hollywood, als auch die Tech Industry sollten sich öfter über das Warum Gedanken machen und nicht nur über das Wie.

Ich habe es mir schlussendlich aber nicht nehmen lassen, die Bilder meiner leider bereits verstorbenen Großeltern hochzuladen. Einer meiner größten Wünsche wäre es, beide nochmals wiederzusehen. Dementsprechend emotional waren die Animationen auch für mich. So frage ich mich dann auch, ob die Ablehnung von Deep Nostalgia aus Gründen von Pietät- oder Respektlosigkeit nicht eher bei den Lebenden, als bei den Toten zu suchen ist.

Denn, so sehr ich mir wünsche, dass nach dem Tod noch mehr kommt, so sicher bin ich auch, dass, was auch immer dieses „Mehr“ ist, weder James Dean noch meine Großeltern ein gesteigertes Interesse daran haben, dass sich ihre Köpfe ein letztes Mal für mich bewegt haben.

Die Kolumne ist Teil unseres Podcasts „kwergehört – die Fotonachrichten“. Wir veröffentlichen sie nochmals als Artikel, um mit Euch gemeinsam in den Kommentaren zu diskutieren.

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