03. März 2021 Lesezeit: ~7 Minuten
kwerfeldein – kurz erklärt
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kurz erklärt: Braucht Kunst ein Publikum?
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kurz erklärt: Braucht Kunst ein Publikum?

Im Lockdown steht die Kunstszene still. Es gibt keine Ausstellungen und Vernissagen, keine Lesungen oder Konzerte. Wie wichtig ist es aber für Kreative, dass ihre Werke Sichtbarkeit haben? Brauchen sie ein Publikum? Diese spannende Frage stellte uns Falk.

Brauchen Fotos zwangsläufig ein Publikum, einen dritten Betrachter? Ist Kunst zwangsläufig ein nach außen gerichteter, kreativer Schaffensprozess? Oder anders gefragt, gibt es Fotografen, die ihre Werke nie zeigten, Musiker, deren Stücke nie jemand hörte, Maler, deren Bilder nie jemand ansah und Autoren, deren Bücher nie jemand las?

Ich frage mich das, weil ich persönlich kaum einen Drang verspüre, Fotos mit Dritten zu teilen und vor allem den anonymen „Social“-Media-Hype nicht nachvollziehen kann. Zwar teile ich auch Fotos, dies ist aber nie Zweck oder Voraussetzungen der Fotografie. Ist das Kunstschaffen nicht vielmehr ein Prozess der Selbstverwirklichung, ein Mittel, sich selbst zu finden und zu erfüllen?

Es liegt in der Natur der Sache, dass wir von Menschen, die ihre Werke nicht veröffentlichen, auch kaum wissen. Aber hin und wieder passiert es. Dann, wenn im Nachlass Manuskripte oder Negative gefunden werden.

Die meisten von Euch erinnern sich sicher an den Sensationsfund Vivian Maier. Sie arbeitete als Kindermädchen und fotografierte in ihrer Freizeit das Leben auf den Straßen von New York und Chicago. Auch wenn man sie häufig mit Kamera sah, kannte niemand ihr Werk. Erst nach ihrem Tod fand man tausende belichtete, jedoch zum Großteil unentwickelt gebliebene Filmrollen. Ähnlich liegt der Fall bei der Russin Masha Ivashintsova. Nach ihrem Tod fand ihre Tochter 30.000 Negative auf dem Dachboden. Ebenfalls zum Großteil unentwickelt.

War den beiden Frauen der Wert ihrer Arbeiten bewusst? Haben sie selbst darin Kunst gesehen? Und wer bestimmt eigentlich, was Kunst ist und was nicht? Was ist Kunst überhaupt? Eine Frage, die wir sicherlich noch in den kommenden Wochen klären werden.

Vivian Maier sagt man heute eine Obsession nach. Nun finde ich es sehr schwierig, Menschen nach ihrem Tod psychologisch zu analysieren. Aber die Tatsache, dass sie ihre Aufnahmen nicht entwickelte und so zum Großteil nie selbst sah, spricht dafür, dass das Fotografieren für sie wichtiger war als das Bild und seine Veröffentlichung.

Erst andere haben beschlossen, dass ihr Werk veröffentlicht werden sollte. Sie haben die Bilder an ein Publikum gegeben, das ihm einen Wert beigemessen hat. Kann ein Werk ungesehen überhaupt Kunst sein? Oder braucht Kunst tatsächlich ein Publikum, weil es erst durch die Betrachtung und Bewertung vollständig wird? Wenn ich etwas mache und sage, das ist Kunst, dann ist das für mich Kunst. Es hilft nur niemandem, weil keiner sonst erfahren kann, was ich an dem Kunstwerk habe.

Damit möchte ich auf einen kritischen Punkt kommen: Im Theater spricht man zum Beispiel von Eindruck und Ausdruck. Die Betrachtenden bekommen immer einen Eindruck vom Ausdruck der Schauspieler*innen. Kunst ist auch eine Form des Ausdrucks. Und wie im Theater ist Ausdruck auch in der Kunst ein Mittel zur Kommunikation. Diese Kommunikation besteht zwischen dem Kunstwerk und den Betrachtenden.

Das kann eine „Dritte Person“ sein, also einer Person, die das Kunstwerk nicht kennt. Genauso gut kann das aber auch ich selbst sein – der Künstler. Auch ich selbst kann etwas von meinem Kunstwerk lernen, es interpretieren oder analysieren. So ist es zum Beispiel häufig in der Kunsttherapie. Daher ist meine Antwort auf Teil eins der Frage recht klar: Es braucht keine „Dritten“, um ein Ding zur Kunst zu machen. Es braucht nur eine Person, die das Werk als solches erkennt.

Um auch den zweiten Teil der Frage zu beantworten, möchte ich etwas näher ans Leben rücken. Lasst uns kurz ganz pragmatisch werden: Wir leben im Kapitalismus. Auch Künstler*innen müssen Miete zahlen, etwas essen oder Materialien für ihre Kunst kaufen. Professionelle Künstler*innen sind in gewisser Weise dazu gezwungen, ihre Kunst anzubieten und sich ein Publikum zu suchen, schlicht um zu überleben.

Und dann ist da noch die Sache mit der Anerkennung. Soziale Anerkennung ist ein Grundbedürfnis. Die Erfüllung löst in uns ein Zufriedenheitsgefühl aus, das wir meinen, zum Leben zu brauchen. Oder auf die Medienwelt angewandt: Unser Gehirn belohnt uns mit Dopamin, wenn jemand unserem Foto ein Like gibt.

Wir können uns nur fragen, wie abhängig wir uns von diesem Glücksgefühl machen wollen und ob wir unsere Dosis Anerkennung nicht auch durch etwas anderes als unsere Fotografie füllen können. Finden wir Anerkennung in anderen Dingen, sind wir weniger abhängig vom Publikum. Wenn wir sagen „das Like ist mir nicht wichtig“, dann ist es das auch nicht. Aber viele, ich würde sogar behaupten, die meisten Künstler*innen, brauchen ein Publikum, um sich gut zu fühlen.

Wobei der Begriff Publikum in dieser Überlegung sehr weit gefasst ist und auch einen Dia-Abend mit der Familie umfassen kann oder das Modell, das sich am Ende für die entstandenen Aufnahmen bedankt. Das Internet oder im Speziellen Instagram ist nur eine von vielen Optionen, um ein Publikum zu finden. Bei der Recherche haben wir keine Person gefunden, die in ihrer Arbeit nachweislich selbst Kunst sah und dennoch beschloss, diese nicht zu veröffentlichen.

Es gibt häufig auch eine Mythenbildung nach dem Tod von Künstler*innen: Sicher habt Ihr beim Hören an Franz Kafka oder vielleicht auch Vincent van Gogh gedacht. Beide haben ihre Arbeiten sehr kritisch gesehen, haderten mit sich selbst. Aber sie hatten Ausstellungen bzw. Buchpublikationen und haben sich mit anderen Kreativen und Interessierten ausgetauscht.

Viele Künstler*innen, die erst nach dem Tod bekannt wurden, waren ihrer Zeit weit voraus. Ihre Arbeiten wurden zu Lebzeiten von der Kunstszene nicht als Kunst wahrgenommen. Das bedeutet aber nicht, dass sie kein Publikum gesucht haben.

Hätte Vivian Maier ihre Fotos in den 1950er Jahren jemandem gezeigt, hätte diese Person darin etwas Besonderes gesehen? Sicher nicht das, was wir heute sehen, in einer Zeit, in der wir die Straßenfotografie als Kunstform wahrnehmen. Und diese erstaunliche Geschichte des Archivfundes tut sicher auch ihr Übriges dazu.

Kommen wir also zur Zusammenfassung: Ja, Kunst braucht ein Publikum. Zum einen, um die Schaffenden zu finanzieren und zum anderen, um ihre Motivation hochzuhalten. Und am Ende vielleicht sogar, um überhaupt als Kunst zu gelten.

Wie seht Ihr das? Teilt gern Eure Gedanken zur Frage und unseren Überlegungen. Oder liegt Euch etwas ganz anderes auf dem Herzen? Dann stellt uns gern die nächste Frage.

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