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03. September 2020 Lesezeit: ~24 Minuten

Im Gespräch mit Marlis Bühn

Bereits vor einiger Zeit fiel mir auf, dass wir im Magazin bisher, obwohl es schon länger als zehn Jahre existiert, zwar oft das Selbstständigmachen von Fotograf*innen thematisieren, viel zu selten aber darüber sprechen, dass viele dieser Selbstständigkeiten auch wieder enden.

Um diese thematische Lücke zu füllen, mache ich heute mit meiner guten Freundin Marlis Bühn den Aufschlag zu einer Interviewserie, in der im weiteren Verlauf noch viele Menschen zu Wort kommen sollen, die ihre fotografische Selbstständigkeit in ganz verschiedenen Lebenssituationen aus den unterschiedlichsten Gründen wieder aufgegeben haben.

Straßenzug

Dresden, 1986

Hallo Lis, fangen wir mal ganz vorn an: Wie bist Du zur Fotografie gekommen?

Ich bin Jahrgang 1960 und in der DDR aufgewachsen. Seit ich 6 Jahre alt bin, male und zeichne ich sehr viel. Mein ursprünglicher Plan war eigentlich einmal, Kunst zu studieren. Da ich mit regimekritischen Künstlern wie A. R. Penck und Eberhart Busch befreundet war, durfte ich das jedoch nicht.

Nach vier abgelehnten Bewerbungen entschied ich mich 1978, die DDR zu verlassen. 1982 wurde meinem Antrag zugestimmt. Ein Kunststudium war in meiner neuen Situation, die mich stark herausforderte, allerdings auch nicht umsetzbar. Ich jonglierte meine Aufgaben als junge Mutter, eine schwierig gewordene Beziehung, einen Job und hatte zudem keine neuen Freunde. Das alles führte dazu, dass ich auch nicht mehr zum Malen kam.

abgeblätterte rote Farbe

Fassade Wahlenstraße Köln, 1996

Beim Besuch einer Ausstellung lernte ich 1984 eine Fotografin kennen. Wir freundeten uns an und sie lieh mir ihre Kamera. Ich stellte sehr schnell fest, dass mir das Fotografieren Spaß macht und ich vor allem unabhängig davon war, dass jemand in der Zeit des Schaffens mein Kind betreut: Zum Malen musste ich allein sein; fotografieren konnte ich auch mit Kind.

Die ersten Fotos entstanden somit von meinem Sohn und der neuen Umgebung. Nach und nach dann auch von den Menschen, die ich kennenlernte. Ich ging in eine Fotogruppe, belegte Seminare zur Fotografie an der pädagogischen Fachhochschule und tauchte immer mehr in das Medium ein. Meine Freundin hatte zudem ein eigenes Fotolabor, in dem ich anfing, das Gelernte umzusetzen, erste Abzüge zu machen, Filme zu entwickeln und zu experimentieren.

Wasser und Steine

Wasseroberfläche, 2007

Wann und in welcher Situation hast Du Dich mit der Fotografie dann selbstständig gemacht?

Ich hatte zwar Pädagogik studiert, aber mir war längst klar, dass ich mit einer kreativen Arbeit Geld verdienen wollte. Wichtig dabei war die Vorstellung, frei und unabhängig sein und mein eigenes Ding machen zu können. Als ich 1991 mit dem Studium fertig war, meldete ich sehr bald eine Freiberuflichkeit an und begann, bei Foto Porst als Kinderfotografin zu arbeiten.

Ein eigenes Gewerbe durfte ich nicht anmelden, da ich keinen Meisterbrief als Fotografin hatte. Somit war das für mich vorerst die Lösung, um in diesen Bereich hineinzukommen – welchen Status ich hatte, war mir dabei nicht so wichtig.

Die Firma stellte mir ein kleines Studio zur Verfügung, übernahm die Kosten für sämtliches Material, die Anfertigung der Bilder und die Auslieferung an die Kund*innen. Ich kümmerte mich um neue Aufträge und machte die Fotos vor Ort. Ich bekam dafür 30 % vom Umsatz – das war für mich damals viel Geld und ich konnte die Familie damit ernähren.

Das schien zunächst ein guter Deal zu sein; aber nur auf den ersten Blick. Ich fotografierte zusätzlich immer öfter auch noch andere Aufträge und die Abgrenzung dieser zwei Standbeine war schwer zu erklären. Ich bekam Schwierigkeiten mit dem Vorwurf der Scheinselbstständigkeit und der Ausübung eines Gewerbes.

Asphalt mit Laub

Straßenoberfläche, 2011

Außerdem wurde schnell deutlich, dass ich die Bilder im Auftrag der Firma machte. Dafür gab es sehr genaue Vorgaben, wie die Kinder zu fotografieren waren und wie viele Aufträge ich im Monat abzuliefern hatte. Da war nichts mit freier Zeiteinteilung oder Unabhängigkeit. Ich musste sehr viel arbeiten und lange Strecken fahren. Meinen Sohn sah ich in dieser Zeit nur noch sehr selten.

Das machte mich zunehmend unzufrieden, denn ich stand mit meinem Namen für Bilder, von denen ich selbst gar nicht richtig überzeugt war. Nach drei Jahren beendete ich diesen Job wieder. Aber immerhin hatte ich so einen ersten wichtigen Einblick bekommen, worum es geht, wenn ich für Kund*innen arbeite. Den Status der Freiberuflichkeit behielt ich und machte Fotos für Vereine und Privatkunden neben einem festen Job.

Mein zweiter ernsthafter Anlauf war 1996 in Köln. Ich stieg in eine Produzentinnen-Galerie ein und war dort neben der Ausstellungsorganisation für Pressefotos und die Dokumentation von Veranstaltungen zuständig. Darüber hatte ich Zugang zu einem guten Netzwerk und bekam immer mehr Anfragen. So hat sich meine Selbstständigkeit langsam entwickelt und ich bin Schritt für Schritt hineingewachsen. 2016 habe ich meine Freiberuflichkeit wieder beendet.

Portrait Frau mit weißer Uschanka

Frauenportraits, 2000

Gesicht mit geschlossenen Augen

Welche Fotogenres hast Du bedient, wie sah Dein Angebot bzw. Profil aus und was waren Deine Alleinstellungsmerkmale?

Mein Angebot war insgesamt sehr breit aufgestellt und kaum spezialisiert. Ich habe immer Menschen in Situationen fotografiert. Erinnerungsfotos für Privatkund*innen, Dokumentation von Veranstaltungen für Vereine und Firmen. Portraits von Künstler*innen und Kindern, später kamen Schwangerschaften und Hochzeiten als Themen dazu.

2001 bin ich über eine Bewerbung an eine Zulieferfirma der Deutschen Bahn gekommen. Für die habe ich fast drei Jahre lang alle Fotos gemacht, die so gebraucht wurden. Ich fotografierte – damals noch analog, auf Diafilm – einfach alles, was mit Zügen, Gleisanlagen, Mitarbeiter*innen und Reisenden zu tun hatte. Das sprach sich herum und ich bekam auch Aufträge einer Tochterfirma aus Leipzig und von Kunden der Firma.

Das war eine schöne Zeit, an die ich sehr gern zurückdenke, denn ich war voll in meinem Element: Die Leute, mit denen ich zu tun hatte, mochte ich sehr. Außerdem kam ich in Bereiche, in die man normalerweise keinen Einblick bekommt. Ich organisierte alles selbst: Angefangen von den Fotos über die Zusammenarbeit mit einem großem Labor, die Arbeit mit dem Grafiker und einer Druckerei. Das hat richtig Spaß gemacht und ich wurde sehr gut dafür bezahlt.

Frauenportrait

Rückschau – Verlassenheit, 1997

Gruppenbild von Kindern

Rückschau – Jahre der Prägung, 1997

Parallel zu meiner Freiberuflichkeit hatte ich seit etwa 1986 auch immer wieder kleine Ausstellungen in Off-Locations mit meinen freien Arbeiten. Da arbeitete ich inzwischen immer stärker selbstkonfrontativ und es ging um die Verarbeitung meiner Erfahrungen in der DDR. Mein Ziel war, damit bekannter zu werden. Unterm Strich deckte ich meist mit ein paar verkauften Bildern meine Ausstellungskosten. Was ich da machte, passte aber nicht zum klassischen Kunstmarkt.

2002 organisierte ich über die Tochterfirma der Deutschen Bahn in Leipzig eine Ausstellung mit meinen Bahnfotos – im Großformat A0. Das gesamte Personal und die Vorstände aus beiden Betrieben waren geladen, ich hielt eine Eröffnungsrede und empfand das als eine große Würdigung meiner Arbeit.

2003 sollten die Bilder in einer Ausstellung in Köln, parallel zur Art Cologne, gezeigt werden. Die Räume waren angemietet, alles fertig und ich hatte mir endlich eine Auszeit verdient. Im Urlaub traf mich dann eine schwere Erkrankung, die ich nur knapp überlebte. Anschließend war ich sehr lange nicht mehr einsatzfähig und verlor dadurch meine Position in dieser Firma, in der ich so gern gearbeitet hatte.

Collage Details Eisenbahn

Eisenbahndetails, 2001

Ein echtes Alleinstellungsmerkmal für meine Dienstleistung hatte ich damals nicht. Ich war mir nur einiger Eigenschaften und Stärken bewusst. Beispielsweise Neugier und Interesse an Menschen, Unvoreingenommenheit und die Fähigkeit, in kurzer Zeit intensive Kontakte zu Menschen herstellen und ihr Vertrauen gewinnen zu können. Das ist besonders bei Kindern ein großer Vorteil. Außerdem die Fähigkeit, mich zurücknehmen und anderen die Bühne überlassen zu können. Das wurde mir auch immer wieder von Kund*innen als besondere Qualität bei der Dokumentation von Hochzeiten und Veranstaltungen zurückgemeldet.

Eine klarere Ausrichtung hätte mir ganz bestimmt geholfen. Ansätze, diese zu finden, gab es 2001 mit einer Unternehmensberatung. Was wir da erarbeitet hatten, kam jedoch nicht zum Einsatz. Irgendwie fühlte sich das für mich fremd, zu theoretisch und zu sehr am Außen orientiert an. Ich wollte mich nicht festlegen, mir lieber alles offenhalten, um meinem starken Bedürfnis nach Abwechslung und Neuem folgen zu können. Das hat mich für große Kund*innen mit Sicherheit uninteressant gemacht.

grünes Triptychon: Gurke, Salat, Beeren

Werbung: Obst und Gemüse, 2011

Was hattest Du Dir von Deiner Selbstständigkeit versprochen?

Freiheit. Unabhängigkeit. Selbstbestimmung. Ein Auskommen zu haben. Machen können, was ich möchte. Dem zu folgen, was ich liebe. Meinen eigenen Stil zu entwickeln. Mich kreativ ausdrücken zu können. Ein sehr großer Traum war es, als Fotografin wirklich bekannt zu werden! Ich hatte nie den Plan, selbstständig zu sein. Ich wollte einfach immer nur Fotos machen und kreativ sein. Der Weg ist dann beim Gehen entstanden.

Strand

Am Meer, 2008

Wie sah die Realität der Selbstständigkeit dann aus, welche großen Abweichungen von der Erwartung gab es?

Am Anfang lief alles ganz gut. Ich bekam immer mehr Aufträge und konnte damit langsam wachsen. Ich hatte nebenbei meistens noch andere Jobs und konnte diesen kreativen Weg damit absichern. Je mehr Aufträge ich bekam, umso mehr Empfehlungen folgten. Es lief besser, als ich gedacht hatte.

Der Punkt, an dem sich für mich alles veränderte, war, als die Fotografie immer digitaler wurde. Die Kund*innen wollten keine Analogfotos mehr, sondern Daten – ich musste gefühlt ganz von vorn beginnen, um das zu bedienen. Meine vielen Jahre Erfahrung mit analoger Fotografie, die Arbeit im Fotolabor und mit eigenen Abzügen zählten immer weniger und ich konnte mich nur langsam mit dieser Veränderung anfreunden. Den ganzen Tag am Rechner zu sitzen, war nicht das, was ich wollte, während es etwas mit echtem Handwerk und Liebe zur Fotografie zu tun hatte, was ich bisher gemacht hatte.

See vor Bergen zur Dämmerung

Münchener Alpenvorland, 2008

Etwa ab 2002 habe ich mich parallel zu meinen laufenden Aufträgen in die Digitalfotografie eingearbeitet und Bildbearbeitung gelernt. Die Umstellung kostete zusätzlich sehr viel Geld für Software und eine neue Ausrüstung. Ich habe in dieser Zeit wahnsinnig viel gearbeitet, um die Umstellung hinzubekommen und hatte gleichzeitig extrem wenig Geld zur freien Verfügung.

Ich war außerdem eine typische Künstlerin: Geld war mir bisher nicht wichtig gewesen, ich machte alles aus Liebe zur Sache. Doch wenn das nötige Geld für eigene Projekte und zum Leben fehlt, dann beginnt das Thema, alles zu beherrschen. Ich konnte auch nicht die Preise erzielen, die notwendig gewesen wären, um das zu stemmen.

In dieser Zeit geriet ich immer mehr unter Druck und stellte alles in Frage, denn so wollte ich nicht leben. Ich nahm aus Verzweiflung jeden Auftrag an. Das verstärkte den Effekt der Unzufriedenheit, denn ich war nicht mehr bei mir und dem, was ich wirklich gut kann. Es ging plötzlich nur noch darum, wie ich den nächsten Auftrag bekomme und die Wünsche der Kund*innen erfüllen kann, um finanziell über die Runden zu kommen.

junges Bäumchen im Wald

Wald, 2009

Baumwurzeln an einer Böschung

Durch das Internet, meine Präsentation nach außen und den Vergleich mit anderen wurde plötzlich sichtbar, wo meine Schwächen lagen: Mir fehlten wichtige Grundlagen, die man in einer Ausbildung lernt. Die Profis behielten dieses Wissen auch sorgfältig für sich, um sich diesen Vorsprung zu sichern.

Ich hatte keine Ahnung von Positionierung im Markt, Marketing oder guten Verkaufsstrategien und auch nicht, wo ich dieses Wissen finden kann. Ich machte Kurse und Weiterbildungen bei der IHK und beim Amt für Wirtschaftsförderung. Inzwischen erlebte ich die Tatsache, mir alles im Selbststudium beigebracht zu haben, als großen Mangel und den Grund für meine wachsende Überforderung.

Neben der Konkurrenz konnte ich so nicht gut bestehen, denn ich sah sofort, wenn andere mehr Wissen, mehr Können, eine bessere Ausrüstung und größere Selbstsicherheit hatten. Ich verglich mich mit Profis und ihrem Auftreten und fühlte mich unterlegen. Etwas Gleichwertiges konnte ich dem nicht entgegensetzen. Sogar Kund*innen hatten zum Teil besseres Equipment als ich – solche Beobachtungen erhöhten den inneren Druck. Ich merkte, dass es mir unter diesen Umständen immer schwerer fiel, mich selbstbewusst zu verkaufen.

Wegen des Geldmangels konnte ich nur wenig delegieren und habe fast alles selbst gemacht. Das bedeutete, mir auch weiterhin alles, was ich noch nicht konnte, selbst beizubringen. Ich lernte, meine erste Webseite und Werbebroschüren zu erstellen, Visitenkarten, Briefpapier und ein Logo zu gestalten, Rechnungen zu schreiben und die Buchhaltung zu führen. Nur die Steuererklärung gab ich ab. Parallel zu meinen Aufträgen und zur Akquise war das ein hohes Arbeitsaufkommen, was meine Kräfte strapazierte. Zwölf bis sechzehn Stunden Arbeit täglich waren inzwischen normal.

Landschaft mit roter Erde

Island, 2010

Was war ausschlaggebend dafür, die Selbstständigkeit wieder zu beenden?

Der enorme Stress, eine lebensbedrohliche Krankheit und dass ich die Lust verloren hatte. Es frustriete mich, keine Lösung zu haben und dass mir das Geld fehlte, um es richtig zu machen. Es machte sich das Gefühl einer immer größeren Unfreiheit breit. Dazu kamen der Konkurrenzdruck und die fehlende Unterstützung durch Familie und Partner.

Ich hatte kaum noch Zeit, um zu mir zu kommen und jahrelang keinen Urlaub mehr gemacht. Ich musste sehr bescheiden leben für diesen Traum und doch immer wieder auch andere Jobs annehmen. Als das Angebot meiner jetzigen Arbeitsstelle kam, habe ich entschieden, diesen Weg zu beenden und bin in meinen erlernten Beruf zurückgegangen. Das fiel mir einerseits sehr schwer, war traurig und schmerzhaft, andererseits aber auch eine große Erleichterung.

Landschaft mit Gewässer und Bergen vor Wolken

Island, 2010

Was hättest Du, rückblickend betrachtet, gern vor der Selbstständigkeit gewusst?

Wie wichtig Unterstützung ist und ein gutes Netzwerk zu haben. Wie wichtig eine Ausbildung als Grundlage ist und wie hart es ohne sein kann. Es wäre hilfreich gewesen, Strategien zu haben, um mit dem Gefühl des Scheiterns klarzukommen und Wissen über Marketing und Verkauf zu haben.

Es ist das eine, gern zu fotografieren und etwas völlig anderes, es für andere zu tun. Es ist enorm wichtig, Dir Deiner Werte und Deiner Haltung bewusst zu sein und zu wissen, wie Du das nach außen sichtbar machen kannst. Es ist sinnvoller, sich in eine Richtung zu orientieren und nicht alles machen zu wollen. Es ist wichtig, nicht alles alleine machen zu müssen.

Küste

Cuxhaven am Meer, 2011

Würdest Du Dich noch einmal selbstständig machen?

Nicht mit Fotografie oder der Kunst, ansonsten ja. Inzwischen weiß ich mehr darüber, wo sich Fallstricke verbergen und worauf ich unbedingt achten würde. Ich denke sehr viel darüber nach, was ich mit meinen Fähigkeiten und zusammen mit anderen zur Veränderung unserer Welt, so wie sie gerade ist, beitragen kann. Es gibt zwar bereits konkrete Ideen, die sind aber noch nicht spruchreif.

Eine der wichtigsten Erfahrungen war die Verunsicherung mit mir selbst, die die längere Erkrankung nach der intensiven Stressphase ausgelöst hat. Dass ich mich nicht uneingeschränkt auf die Leistungsfähigkeit meines Körpers verlassen kann, hat zwar mein Selbstverständnis als Einzelkämpferin sehr gekränkt, mir aber gleichzeitig meine Grenzen deutlich gemacht. Besser auf mich und meinen Körper zu achten, ist das, was ich aus dieser Erfahrung gelernt habe.

aufragende Steinformation im Wald

Sächsische Schweiz, 2011

Was würdest Du anderen raten, die sich mit der Fotografie selbstständig machen möchten?

Da kann ich nichts wirklich raten. Ich kann nur sagen, was für mich wichtig war und was ich erkannt habe. Nach meiner Erfahrung sind die wichtigsten Eigenschaften: Mut, Vertrauen, Eigensinn und Offenheit. Du solltest wissen, wer Du bist und den Mut haben, das nach außen zu vertreten, egal was andere davon halten und wie sie Dich beurteilen. Authentisch und offen zu sein, bedeutet immer auch, angreifbar und verletzbar zu sein. Ein dickes Fell kann da oft von Vorteil sein.

Hör bei allem auf Dein Herz, also Deine Gefühle und Deinen Verstand. In unserer Kultur ist der Verstand absolut überbetont. Er ist aber immer rückwärtsgewandt und bezieht sich auf bereits gemachte Erfahrungen. Unser Verstand will für unsere Sicherheit und unser Überleben sorgen. Deshalb macht uns das, was absolut neu und unbekannt ist, oft auch Angst. Manchmal stehen wir uns damit bei wichtigen Veränderungen im Weg. Wir bleiben zu lange in unserer Komfortzone, weil das so vertraut und sicher ist. Neues zu wagen, braucht meist Mut.

Wurzeln in roter Erde

Sächsische Schweiz, 2011

Vor allem die unterbewussten Programme und Überzeugungen kosten viel Kraft. Ein Beispiel: Ich habe mich immer geärgert, dass ich mich nicht getraut habe, gute Preise für gute Arbeit zu verlangen. Ich habe das lange nicht verstanden. Ich hatte die unbewusste Überzeugung, dass Geld nicht so wichtig sein sollte und ich außerdem kein Recht darauf hätte, mit Fotos Geld zu verdienen, da ich keine Ausbildung habe. Das hat immer wieder mein Handeln subtil beeinflusst und ich bin auf der Stelle getreten. Es hat Mut gekostet, das zu verändern.

Was auch wichtig ist, ist gute Kommunikation und ein tragfähiges Netzwerk. Etwas Großes wurde noch nie allein geschafft. Ich denke, für mich wäre eine Ausbildung gut gewesen. Sie hätte mir auf jeden Fall geholfen, selbstbewusster aufzutreten und mich bei dem, was ich tue, sicherer zu fühlen.

Berglandschaft

Allgäu, 2016

Tue nur, was Du liebst und woran Du echte Freude hast. Nur so kannst Du gut darin werden, bei Herausforderungen dran bleiben und die richtigen Kund*innen bekommen. Mach zum Beispiel nicht Bewerbungsfotos, wenn Du diese Art Fotos überhaupt nicht magst. Selbst, wenn Du denkst, dass Du gezwungen bist, solche Aufträge anzunehmen – die Fotos, die Du heute machst, bestimmen, wofür Du morgen angefragt wirst.

Wie hat sich Deiner Einschätzung nach in den zurückliegenden Jahrzehnten der Markt für Fotograf*innen verändert?

Abgesehen von der Digitalisierung kann ich dazu nicht so viel sagen, denn ich verfolge den Markt nicht mehr. Ich sehe auf jeden Fall eine große Konkurrenz durch Autodidakt*innen, die die Preise nach unten treiben und an denen sich immer mehr Kund*innen orientieren. Als ich als Freiberuflerin anfing, habe ich diese Art von Konkurrenzdruck nicht empfunden. Ich war in meinem Umfeld die Fotografin – heute kennt jeder zig Menschen, die fotografieren und sehr wertige Ausrüstungen besitzen.

abstrakte Malerei Strukturen

Berg im Nebel, Acryl auf Papier, 2019

Meiner Einschätzung nach fehlt in Deutschland eine Kultur des Scheiterns. Was waren die Reaktionen Deines Umfelds auf Zweifel an Deiner Selbstständigkeit, Beenden selbiger oder das Einschlagen eines neuen Weges?

Wir leben in einer Angstkultur, das hat sich mit der Corona-Pandemie jetzt sehr deutlich gezeigt: Angst braucht Sicherheit, will nicht scheitern. Verlässt man bekanntes Gebiet, kommen automatisch Angst und Zweifel auf. Dann ist es wichtig, mutig auf sein Herz zu hören und wenn es sein muss, auch zu scheitern. Das müsste immer offen bleiben: Aus nichts lernt man so viel wie aus dem Scheitern.

Leider ist das Scheitern nicht hoch angesehen, sondern wird als Makel und Schwäche behandelt. Es hat lange gebraucht, bis ich das begriffen hatte und das Schlimme war: Ich habe mich auch selbst so gesehen. Heute denke ich, dass ich ganz schön mutig war. Auch ein bisschen größenwahnsinnig vielleicht, aber es hat ja geklappt. Ich wollte diesen Weg gehen und bin ihn gegangen. Egal was andere gesagt haben oder wie ich von anderen beurteilt wurde.

Mein Umfeld hat eigentlich mitfühlend reagiert. Meine Freund*innen hatten schon lange bemerkt, dass ich angefangen hatte, mich kaputt zu machen. Ich wollte es unbedingt schaffen und habe mir deshalb keine Auszeiten mehr erlaubt. Die Angst, alles zu verlieren, was ich mir in den letzten Jahren aufgebaut hatte, war zu groß. Zu viele Faktoren sind hinzugekommen, die ich immer weniger bewältigen konnte. Darum habe ich zu lange zu viel investiert. Ich wollte diesen Traum nicht aufgeben.

abstrakte Malerei

Wald, Acryl auf Papier, 2018

Familiär, also seitens meiner Eltern, habe ich leider nie den Rückhalt und die Unterstützung gefunden, die ich mir für meinen Weg gewünscht hätte. Sie haben am Ende meiner Selbständigkeit hauptsächlich geschwiegen oder mir kluge Ratschläge erteilt. Ich denke, sie fühlten sich in ihrer ursprünglichen Meinung bestätigt, dass das nichts wird und zum Scheitern verurteilt ist. Ihnen wäre es wichtiger gewesen, dass ich etwas „Vernünftiges“ und „Sicheres“ mache, anstatt mich selbst verwirklichen zu wollen.

Durch meine Ausreise aus der DDR war das Verhältnis zu meinen Eltern stark angeschlagen. Mein Vater musste dadurch mit einem Karriereknick leben und hat mir das lange Zeit nicht verzeihen können. Heute sprechen wir zwar wieder miteinander, aber verstehen können sie meinen Weg nicht.

Es gab auch viele Ratschläge, wie man es hätte besser machen können. Bei ein paar wenigen Konkurrent*innen waren Schadenfreude und eine gewisse Häme zu spüren. Aber überwiegend war es Bedauern, Mitgefühl und Verständnis. Insgesamt war aber alles dabei.

abstrakte Malerei mit Zeitungsausschnitt

Zeit für Neues, Mixed Media, 2020

Wie sieht Deine persönliche Beziehung zur Fotografie heute aus?

Ich bin jetzt sehr entspannt damit und finde es einfach schön, dass ich das kann. Ich mache nur noch Fotos, wenn ich Lust habe und fotografiere auch nur noch das, was mich wirklich bewegt und inspiriert. Meist ist der Auslöser für Fotos besonderes Licht, das ist geblieben. Außerdem bin ich zur Malerei zurückgekehrt und darüber sehr glücklich.

Mich interessieren Themen, bei denen ich gar nicht wüsste, wie ich die vermarkten sollte. Sie sind eher künstlerisch, haben mit starken Emotionen zu tun oder zeigen das, was ich am meisten liebe. Ich fotografiere gern auf Reisen und wenn ich in der Natur unterwegs bin. Dann genieße ich die Stille, die unendlich viele Zeit und das Alleinsein.

Wirklich teilen kann ich das nur mit einer Freundin, die auch so gern fotografiert. Andere halten das nicht lange aus, wenn sie mit mir unterwegs sind und ich überall stehen bleibe und Bilder mache. Diese Ruhe zu haben, keinen Druck, dass anderen gefallen muss, was ich sehe, genieße ich sehr.

Malerei auf Straßenkarte

Stadt von oben, Mixed Media, 2019

Wie ist Deine aktuelle berufliche Situation und welche Wünsche hast Du für Deine Zukunft?

Gerade stehe ich wieder an einem Scheideweg und versuche herauszufinden, wie ich all die Dinge, die ich kann und gern mache, zusammenbringen kann. Ich würde gern mein Wissen und Können weitergeben und andere auf ihrem Weg zu ihrer Kreativität begleiten. Ich möchte einen Raum schaffen für Gemeinschaft, Austausch, Unterstützung und Kreativität im Schnittfeld der Bereiche Pädagogik, Natur und Kunst.

Liebe Marlis, vielen Dank für Deine Zeit und die große Offenheit und Ehrlichkeit, mit der Du uns Einblicke in den Verlauf Deiner Selbstständigkeit als Fotografin und Deine Gedanken gegeben hast. Ich bin gespannt auf Deinen weiteren Weg!

Warst Du selbst einmal als Fotograf*in selbstständig und hast diese Selbstständigkeit wieder aufgegeben? Melde Dich gern per E-Mail bei mir, wenn Du Lust und Zeit hast, darüber in einem Interview zu sprechen und Deine Erfahrungen zu teilen.

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