12. Juli 2019 Lesezeit: ~8 Minuten

Kinder vor der Kamera – was wir beachten sollten

Sie blicken uns aus müden, ausgemergelten, desillusionierten Augen an: Lewis Hines Kinderarbeiter*innen sehen verbraucht aus für ihr zartes Alter. Um die Jahrhundertwende arbeiten in den USA über 1,5 Millionen unter 16-jährige Kinder. Es gibt dort damals viel Armut und zahlreiche Familien sind auf die Arbeitskraft ihrer Kinder angewiesen, um zu überleben. Im Jahr 1908 begibt sich Hine deshalb auf eine Mission.

Über einen Zeitraum von zehn Jahren wird er für das National Child Labor Committee durchs Land reisen und die Kinderarbeit in den USA fotografisch dokumentieren. Er prägt in diesem Zusammenhang den Begriff der Fotoreportage („photo story“) und betont damit das Potential von Fotografie für soziale Reformen.

Während ich die Bilder und ihre Geschichten auf mich wirken lasse, komme ich nicht umhin zu denken, wie anders ich heute zum Beispiel auf Werbebildkampagnen gemeinnütziger Organisationen mit Kindern als Motiven reagiere. Bei Hines Projekt drängt sich einem nicht der Eindruck auf, die Kinder seien als Mittel zum Zweck genutzt worden – so machte er schließlich das Thema für die US-amerikanische Öffentlichkeit erst zugänglich. Er sorgte auf diese Weise mit dafür, dass Kinderarbeit verboten wurde.

Dennoch frage ich mich auch, wie Hines Fotomotive wohl reagierten, als sie Jahre später als Erwachsene feststellten, dass sie mit seinen Aufnahmen traurige Berühmtheit erlangt hatten? Und welche Fragen sollten sich Fotograf*innen heute eigentlich stellen, wenn sie Kinder vor der Linse haben? Je länger ich darüber nachdenke und zum Thema recherchiere, desto deutlicher wird mir: Ein schwarzweißes Antwortschema gibt es für diese Problematik noch weniger, als in anderen Bereichen der Kunstethik. Es folgt ein Annäherungsversuch.

Zuallererst gilt natürlich: Kinder sind Menschen, wenn auch junge. Wenn wir also Kinder in der Öffentlichkeit ablichten möchten, gelten grundsätzlich erst einmal dieselben moralischen Richtlinien, die wir vor einiger Zeit bereits in unserem Gedankenexperiment zur Straßenfotografie besprochen haben.

Ein ebenfalls relativ eindeutiger Aspekt ist – wie immer – das geltende Gesetz. Einen recht aufschlussreichen Beitrag zum Thema „Was ist erlaubt in Deutschland“ findet Ihr bei ARAG, grundsätzlich aber gilt: Das kindliche Fotomotiv sollte (und seine Eltern müssen) um Erlaubnis gebeten werden, wenn ein Foto veröffentlicht werden soll. Idealerweise habt Ihr sogar eine Standard-Einverständniserklärung dabei, die die Erziehungsberechtigten unterschreiben können und worin die Gründe für die Erfassung des Bildes sowie die Art und Weise der Veröffentlichung erläutert werden.

Wenn kein Erwachsener anwesend ist oder eine Sprachbarriere dem einvernehmlichen Knipsen im Wege steht, solltet Ihr die Kamera entweder wieder einpacken oder die Aufnahme so umdenken, dass das Kind nicht identifiziert werden kann.

Über Legales und ganz Grundsätzliches hinaus kann man dem Thema wohl am besten zu Leibe rücken, in dem man zwischen den folgenden problematischen Aspekten des Fotografierens von Kindern unterscheidet:

  • Inhalte (das offensichtlichste und drastischste Beispiel ist Pornografie)
  • Rahmenbedingungen (zum Beispiel Reisefotografie in armen Ländern)
  • Öffentlichkeit (vor allem das Internet)

Inhalte

Was in den 70er und 80er Jahren für den britischen Fotografen David Hamilton oder die französische Fotografin Irina Ionesco noch zumindest nahezu problemlos möglich war, wäre heute undenkbar: Fotos leicht oder nicht bekleideter Kinder und Jugendlicher, die im Namen der Kunst fotografisch in Szene gesetzt werden – da gingen in unserer Gesellschaft (zurecht) sofort sämtliche Pädophilie-Alarmglocken an. Nun gibt es aber natürlich auch hier wieder viele Graustufen, die es mit zu bedenken gilt.

Wer zum Beispiel am Badesee oder am Strand fotografiert, hat mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit kaum bekleidete Kinder und Jugendliche im Sucher, selbst wenn diese nicht im Fokus stehen. In den Freibädern der Republik gibt es aus diesem Grund immer strengere Regeln. Ähnlich der hauptstädtischen Clubszene werden zum Beispiel eingangs Sticker für Handykameras verteilt. Andernorts müssen Hobbyfotograf*innen, die auf „frischer Tat“ ertappt werden, ihre Smartphones abgeben oder gar nach Hause gehen.

Reisefotografie

Kinder sind unter den beliebtesten Motiven in der Reisefotografie. Während diese Aufnahmen selbstverständlich in Typ und Zusammensetzung variieren, zeigen sie häufig junge Menschen aus Entwicklungsländern oder ärmeren, ländlichen Gebieten. Kinder und Jugendliche also, die unter Umständen leben, mit denen die Reisendenden häufig noch nie zuvor konfrontiert waren. Wer hier fotografiert, tappt möglichweise in zwei nicht ganz augenscheinliche Fallen.

Zum einen können Fotograf*innen so unbeabsichtigte Auswirkungen auf die Gemeinschaften haben, die sie mit ihren Kameras einfangen möchten – nämlich indem sie Kinder dazu ermutigen, die Schule zu verlassen und an den Urlaubsgästen, die ihre Portraits schießen, „leichtes“ Geld zu verdienen. Hinzu kommt, dass dabei häufig stereotype Vorstellungen über die Gesellschaften transportiert und verstärkt werden, in denen fotografiert wird. So wird dann beispielweise Armut romantisiert oder fleißig Othering betrieben (wer sich für dieses Thema interessiert: Stereotype in der Reisefotografie).

Dass es auch anders geht, beweist zum Beispiel der britische Fotograf Mark Neville mit seinen Fotos. Er zeigt Kinder in Kriegsgebieten lieber beim Spielen statt als Opfer und leitet damit auf einen Pfad, der wegführt von stereotypen und vereinfachten Vorstellungen des „anderen“. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch unsere Photocircle-Fotografin Rada Akbar aus Afghanistan, ohne damit das Elend zu vertuschen, das die Kinder umgibt. Ruinen, ausgebrannte Busse und junge Menschen, die deswegen trotzdem nicht komplett aufs Kindsein verzichten.

Öffentlichkeit

Bilder von Menschen einer breiten Masse zugänglich zu machen, ist, wie eingangs bereits angesprochen, per se nicht immer ganz unkompliziert. Besonders knifflig wird es, wenn es ums Internet geht, unter anderem auch in den Sozialen Medien; denn dort sind sowohl Weg als auch Kontextualisierung eines Bildes schwer zu kontrollieren. Und noch eine Nuance komplizierter wird das Ganze – Ihr habt es bereits vermutet – bei Fotos von Kindern.

Der Reiz, gelungene Bilder online zu veröffentlichen, ist natürlich groß. Man erreicht schnell viele Menschen und erhält direktes Feedback, ob nun zum künstlerischen Anspruch des Schwarzweißportraits von der Straße oder zum spärlich bezahnten Lachen des eigenen Nachwuchses. Doch Kinder haben selbst kein wirkliches Verständnis dafür, was es genau bedeutet, dass ihre Fotos im Internet womöglich ein (sehr, sehr langes) Eigenleben entwickeln.

Also bleibt die Veröffentlichung im Internet selbst noch mit Einwilligung problematisch. Darüber hinaus kann nicht ausgeschlossen werden, dass Dritte die Bilder weiterverbreiten oder gar bearbeiten und zweckentfremden – was uns leider wieder zurückführt zu unserem Punkt eins, Pädophilie.

Was also ist nun der Schlüssel zur Frage, welche Gedanken sich Fotograf*innen machen sollten, bevor sie Bilder von Kindern anfertigen? Die wenig befriedigende Antwort scheint zu lauten: Es gibt keine Zauberformel, kein Patentrezept. Es gibt, wieder einmal, nur Kompromisslösungen und den Vorsatz, jedes Motiv sowie jede Situation genau zu betrachten und für sich zu bewerten. Vergesst nie, dass Eure Fotomotive hier vor allem eines sind: Menschen – und noch dazu welche, die für sich selbst noch nicht so gut einstehen können, wie ältere.

Wie steht Ihr zur Veröffentlichung von Kinderfotos im Internet? Wie handhabt Ihr das Fotografieren von Kindern auf Reisen? Wie reagiert Ihr, wenn jemand Fotos Eurer eigenen Kinder schießen möchte?

Das Titelbild stammt von Jens Rosbach . Alle Bilder aus diesem Artikel sind als Wandbilder über Photocircle erhältlich.

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