Hand auf einem glänzen Toller mit Steinweg im Hintergrund.
08. Oktober 2018 Lesezeit: ~13 Minuten

Metapher – Gedanken zur Fotografie

Es geht mir oft um die Beschaffenheit der Gegenstände, die ich fotografiere. Mal ist die feine Verzierung einer Straßenlaterne, die, an ein Efeu erinnernd, eine Verbindung herstellt – zwischen der Menschenhand und dem ursprünglichen Material; mal ist es eine Mauer, die von der Zeit angeschwollen und verbogen wurde; ein Dach, das von der Schwere vieler Morgengrauen und Sonnenuntergängen durchhing, ja ein Gefälle gebildet hat.

Straßenlaterne mit Schatten vor weißer Hauswand.

Jeder Gegenstand ist irgendwie beschaffen – das verdankt er seiner Geschichte. Aber welche Geschichte steckt dahinter? Zunächst einmal keine. Leer sind die Gegenstände und verloren die Geschichten. Die Geschichte ist immer eine Vergangenheit, und das Vergangene existiert nicht; nichts außer Spuren sind uns davon erhalten geblieben.

So ist die Dimension der Geschichte eine unerreichbare, mystische Welt. Deren Splitter aufzufinden und mit dem, das mir heute als Gegenwärtig erscheint, zu verbinden – das sehe ich als meine Arbeit. Durch das Bild eine Geschichte zu schreiben, eine womöglich erfundene, fiktive Geschichte. Doch eine, die etwas sichtbar macht.

Meine Kindheit habe ich in imaginären Welten verbracht – mich in den Büchern vergraben, die von zauberhaften Dingen handelten; Filme immer und immer wieder gesehen, die mich sehr weit von der Realität und dem Alltag wegtrugen. Ich erinnere mich aber vor allem an den Schmerz der Erkenntnis, den ich bis heute empfinde, wenn ich aus einer solchen Welt zurückzukehren gezwungen bin.

Aber es scheint, dass gegen nichts ein […] Geist sich rascher, sich gründlicher abstumpft, als gegen den scharfen und bitteren Reiz der Erkenntnis.

Das schrieb Thomas Mann in seiner Novelle „Der Tod in Venedig“. Schenkt man dem Erzähler im Buch den Glauben, so leugne der wahre Master jegliches Wissen, das seine Leidenschaft zu lähmen und zu entmutigen vermag.

Vielleicht ist das die traurige Wahrheit. Doch das ist vor allem eine Frage nach der Realität. Wenn ich auf meinen Reisen in einer Straße stehen bleibe und im steinernen Dschungel die plastischen Äste eines Baumes sehe, höre ich das Holz und den Stein in einen Dialog verwickelt.

Die Laute dieses Gesprächs stammen aus einer anderen, fremden Welt. In den Floskeln, die ich erkenne, birgt sich ein Geheimnis. Doch finde ich keine Wörter, die mir helfen könnten, das Geheimnis zu ergründen. Ich nehme eine Fotografie davon mit, auf der ich die beiden auf ewig miteinander verkettet hatte.

Lichtfleck auf Architektur.

Wie real ist meine Empfindung? Wie real ist der Zusammenhang?
Wie real überhaupt kann etwas sein, was es (noch) nicht gibt?

Denn es gab zwar den Baum, es gab die Häuser der Straße. Doch das, was zwischen ihnen passiert war und mich interessierte – das passierte nur auf dem Bild. Das Zusammenfügen zweier Gegenstände im Bild, den Stein und das Holz, erschuf einen dritten Gegenstand – einen gedanklichen Gegenstand. Wie real ist er?

Ich denke, wenn man solche Fragen beantworten möchte, muss man für eine Weile den Kontext verlassen, dem sie angehören und aus dem heraus sie entstanden. Einen Umweg gehen. Ich schlage vor, einen Umweg über Musik zu gehen.

Ich bat eine Flötistin, zu meinen Bildern Stücke zu spielen. Das Visuelle also, das mit den Augen Wahrnehmbare, in einen Klang zu übersetzen, in ein Bild für das Ohr. Aber eigentlich ganz so, wie ich das Unwichtige und Unsichtbare, etwas also, was nicht für die Wahrnehmung gedacht war, durch das Bild für das Auge übersetze. Sie tat es, sie blies Luft in ihre Querflöte. Doch wie tat sie es? Wie klang es?

Sie hielte absichtlich den Luftstrom nicht permanent und gleichmäßig; sie hat die Luft beben lassen. Diese Eigenschaft ihres Klanges schien mir erzählerisch, sie erinnerte mich an den Gedanken, dass das Sein eines Menschen nie fertig und endgültig gegeben ist.

Um ein Mensch zu sein, muss man sich anstrengen, und da wir uns nicht permanent und gleichmäßig anstrengen können, sind wir gewissermaßen nicht immer Menschen. Wir fallen raus aus dem Hier und Jetzt, wenn unsere Aufmerksamkeit nachlässt und die Wahrnehmung einschläft.

Wenn jemand, der ein philosophisches Buch liest, nicht ins eigene Denken kommt, enthält das Buch nichts außer einer leeren Ansammlung von Wörtern, die kein Gewicht, keine Bedeutung besitzen. Es ist heute egal, wie klug und gebildet Aristoteles damals war. Man muss sich auch heute noch genauso anstrengen, wie er es damals tat, denn sonst sind seine Werke verloren.

Und hat man einmal ein Buch verinnerlicht, so sind die Erkenntnisse uns nicht auf Ewigkeiten gesichert – um sie in die Erinnerung und den Verstand zurückzurufen, muss man erneut an ihnen arbeiten.

Das Sein ist ein immerwährender Versuch, Gedanken aufrechtzuerhalten, seien es auch die Gedanken, die schon vor Jahrhunderten und Jahrtausenden vor uns gedacht wurden. Denn ein Gedanke lässt sich zwar in Wörter übersetzen, doch enthalten die Wörter nicht den Gedanken – dieser muss immer abseits der Wörter hergestellt werden; immer und immer wieder, weil der Mensch keinen Gedanken permanent und gleichmäßig am Leben erhalten kann.

Einmal losgelassen, verfliegt er, doch in den Wörtern bleiben dessen Spuren erhalten, sichtbar für den Denkenden. Er nutzt sie dann als Erinnerungsstützen, um den Gedanken später für kurze Zeit erneut zum Leben zu rufen. Und so ist der Luftstrom der Flötistin, den sie durch ihre Querflöte blies, aber nicht permanent und gleichmäßig gehalten hatte – er ist unbeständig, wandelnd, ausufernd, zum Schweigen und Nichts erzählen neigend.

Baumstamm an einer HauseckeBruchkante einer Hauswand.

Und das ist die Realität. Musik kann „nichtssagend, zweifelhaft, unverantwortlich, indifferent“ sein, wie Thomas Mann es mit der Gestalt von Herrn Settembrini in „Der Zauberberg“ beschreibt. Doch die Musik schuldet uns nichts. Es ist die meine (oder die unsere) Aufgabe, einen Gegenstand sprechen zu lassen, obwohl er von sich aus nichts zu erzählen vermag.

Und weder Bäume, noch Steine vermögen von Natur aus mit uns zu reden – doch wir, wenn wir uns anstrengen, können sie dazu bringen und sie würden über uns reden, sie werden sagen, wie wir sind. Und dann erst werden sie real.

Musik, Literatur, Fotografie, Philosophie – sie alle behandeln den Menschen und seine Wahrnehmung. Sie sind Instrumente, mit denen wir unsere Umgebung zu einem Spiegelbild unseres Selbst verwandeln und uns darin von einer neuen Seite sehen können. So gleichen sich die unterschiedlichen Künste in einem Punkt – der menschlichen Wahrnehmung.

Dieser Punkt ist für jede Kunst der wesentlichste, sodass Musik und Fotografie sich mehr gleichen, als man vielleicht auf den ersten Blick annehmen würde. Ein Bild kann musikalisch, so wie ein Bild auch poetisch sein kann.

Mauer, vor der eine Straßenlaterne steht.Landschaft mit entfernten Häusern.

„Die Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust ist beispielsweise ein musikalisches Buch. Die Wörter und Sätze strömen und schwingen, sie sind „scheinbar die Bewegung selbst“ (Thomas Mann). Es wird ein Motiv variiert, von verschiedenen Seiten angegangen und mit den Wörtern bespielt, umrissen – ohne es sogleich mit aller Klarheit zu benennen und in unbeweglicher, erstarrter Form zu zerstören – wie das menschliche Sein selbst, wo nichts endgültig und definitiv gegeben ist.

Marcel Proust war ein Philosoph und ein Schriftsteller. Auch ein Musiker, wie wir sehen. Doch war er auch einer der bedeutendsten Fotografen seiner Zeit. Nicht nur, weil er den Zeitgeist des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts in seinen spitzzüngigen und scharfen Beschreibungen festgehalten hatte. Vielmehr war er ein Fotograf deshalb, da ihm die einfachsten Dinge sonderbar erschienen:

[…] ich fühlte manchmal meine Aufmerksamkeit plötzlich gefangen von einem Dach, einem Sonnenreflex auf einem Stein, dem Geruch eines Weges, und zwar gewährten sie mir dabei ein spezielles Vergnügen, das wohl daher kam, dass sie aussahen, als hielten sie hinter dem, was ich sah, noch anderes verborgen, das sie mich zu suchen aufforderten und das ich trotz aller Bemühungen nicht zu entdecken vermochte.

Da ich genau fühlte, dass es in ihnen war, blieb ich unbeweglich stehen, um sie anzuschauen, einzuatmen, um den Versuch zu machen, mit meinem Denken über das Bild oder über den Duft noch hinauszugelangen.

Wenn ich dann meinen Großvater einholen und meinen Weg fortsetzen musste, suchte ich sie wiederzufinden, indem ich meine Augen schloss; ich konzentrierte mich völlig darauf, genau die Linie des Daches, den exakten Farbton des Steines wiederzufinden, die, ohne dass ich begreifen konnte warum, mir mit etwas angefüllt schienen und bereit, sich zu öffnen, um mir auszuliefern, wovon sie selbst nur die Hülle waren.

(„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, „Unterwegs zu Swann“)

Der Stein, das Dach… Die einfachen Gegenstände, die zu Gefäßen unserer Geschichten werden. So war Marcel Proust auch ein Bildhauer – er sah sich ein Stein an und erblickte dahinter eine Skulptur, die nur noch nicht von der äußeren Hülle befreit wurde.

Der David war immer schon da gewesen. Ich musste lediglich den überflüssigen Marmor um ihn herum entfernen. (Michelangelo)

Eine steinerne Mauer.Eine griechische Statue draußen.

Philosophie, Schriftstellerei, Musik, Fotografie, Bildhauerei – der Mensch ist das verbindende Element aller dieser Künste. Ein Buch, ein Musikstück, eine Fotografie – sie sind so, wie sie sind, weil der Mensch, der sie erschafft und sie wahrnimmt, so ist, wie er ist. So sind der Stein und das Dach leer, wenn aber ein Mensch ihnen begegnet, füllt er sie unmerklich mit sich selbst an. Extrahiert man jedoch den Menschen aus dem Stein, erfährt man zwar nichts über den Stein, doch vieles über den Menschen.

Es sind also immer die Umwege, die man geht, um an den Zielpunkten anzukommen, wohin sonst kein Weg führt. Ich erkenne mich selbst in Bäumen und Steinen, in Dächern und Mauern. Ja, es ist eigentlich komisch, denn ich besitze meinen eigenen Körper, wo ich doch im vollen Maße ich selbst sein sollte. Aber nein, gewisse Gesetze der Wahrnehmung sind hier am Werk und es gelingt mir nicht, mich selbst dort zu finden, wo ich aller Erwartung nach sein sollte.

Scheinbar muss ich, um meinen Körper wiederzuerlangen, ihn zuerst verlassen. Den Umweg über die äußeren Gegenstände gehen, um zurückzukehren. Ganz so, als wenn ich mich blind fühle und erst durch die Kamera sehen kann. Oder im Buch, wo eine fremde Geschichte erzählt wird, meine eigene lese.

Was sind also die einfachen Gegenstände? Was sind Bäume und Steine, was sind Dächer und Mauern? Sie sind leere Hüllen unseres Alltages, flach und zweidimensional, die ein Schattendasein am Rande unserer Wahrnehmung führen. Aber was würde passieren, wenn man sie ihren Namen entreißen, sie von ihrer Zeit befreien, sie nicht im alltäglichen, sondern im realen Raum sehen würde? Dann muss man sich an einem Straßenpfosten festhalten, denn plötzlich dreht sich alles.

Die Gegenstände werden tiefer und größer, sie zanken mit- und gegeneinander. Es sind Kämpfe der Form: eine strenge, ja brutale Linie und eine weiche, sanfte Linie. Es sind Kämpfe der Zeit: der frische, tiefschwarze Asphaltboden und das uralte, von der Sonne ausgebleichte Mauerwerk. Es sind Kämpfe des Raumes, denn alles ist dicht aneinander gedrängt.

Es sind aber auch Gleichnisse. Ich bin das ausgleichende Element, denn ich befinde mich mit den Gegenständen zur gleichen Zeit, ich bringe sie durch die Kamera in den gleichen Raum, wobei sie sonst aus verschiedenen Zeiten stammen, sich sonst an verschiedenen Orten befinden.

Die rauen, von Luft und Wasser zerfressen Steine und die glatten, blanken Häuser, die aus ihnen herauswachsen. Die frischen, neuen Pflanzen, die auf einer alten, rissigen Mauer wachsen, und die frische, neue Mauer, die auf alten, rissigen Pflanzen wächst.

Pflanzen zwischen Mauerstein.Treppe mit Mauer, dahinter Pflanzen.

Die Gegenstände also, alle, die einfachsten schon und unansehnlichen, können Metaphern sein. Denn sie sind nichts und können durch das Bild, den Klang, das Wort – kurz: durch Gedanken, – zunächst einmal bis zur Unkenntlichkeit verformt, und später dann neu geformt werden. Und diese neue Form ist das Abbild unseres Selbst, denn wir können nur nach unserem eigenen Vorbild formen.

Teppich über einem Balkongeländer.

Anmerkung der Redaktion: Es ist eine Bucharbeit zu dieser Thematik von Mark Baranovskiy erschienen. Auf seiner Webseite bekommt Ihr einen audiovisuellen Einblick in die obige Arbeit.

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