04. Juni 2018 Lesezeit: ~5 Minuten

Was dokumentarische Familienfotografie NICHT ist

Wenn man sich viel mit dem Thema dokumentarischer Familienfotografie beschäftigt, dann stolpert man auch regelmäßig über Irrtümer und Missverständnisse. Manchmal lassen sie einen herzlich lachend zurück, ganz oft aber auch einfach ratlos und resigniert. Oder ungläubig. Und manchmal auch alles zusammen.

Ich nenne einfach mal frei heraus Beispiele. Zum Beispiel neulich, in einer geschlossenen Gruppe für dokumentarische Familienfotograf*innen, schrieb eine Kollegin, dokumentarische Fotografie sei nicht das Richtige für ihre Kundschaft, denn diese wolle nett aussehen und geduscht sein. Im ersten Moment habe ich laut gelacht und dachte: „Na, das hoffe ich doch!“

Ein Kind spielt mit einem Duschkopf

Im zweiten Moment fand ich es nicht mehr so lustig, denn im Umkehrschluss heißt das wohl, dass viele Menschen davon ausgehen, dass sie nicht duschen und nicht nett aussehen dürfen, wenn sie so fotografiert werden. Ich gebe zu, das stimmt nachdenklich.

Also fing ich an, mit Menschen darüber zu sprechen. Über die dokumentarische Familienfotografie. Und heraus kamen Dinge wie: „Ich finde das ja toll, aber so komische Situationen, wo einer von uns solche Grimassen zieht, die kommen bei uns eigentlich gar nicht vor.“ Oder: „Ich finde den Gedanken schön, aber eigentlich möchten wir keine Bilder von uns sehen, auf denen wir gerade essen, komische Gesichter ziehen oder merkwürdig aussehen.“ Oder auch: „Selbstverständlich finden wir natürliche Bilder total schön, aber so viel Geld bezahlen für Bilder, die man selbst machen kann?“

Eine Frau küsst ein Mädchen auf die Stirn

© Danny Merz, ebenso das Titelbild

Und mir wurde wieder einmal mehr klar, dass die Menschen eine falsche Vorstellung von unserer Arbeit haben. Sie mögen den Gedanken des Echten – der echten Erinnerungen, des ungezwungenen Bildes – aber gleichzeitig haben sie Angst, vorgeführt zu werden. Ich möchte gar nicht abhandeln, wie es zu dieser falschen Vorstellung, dieser merkwürdigen Idee gekommen ist. Ich möchte einfach mal sagen, was dokumentarische Fotografie wirklich ist. Und was sie nicht ist.

Der Sinn unserer Arbeit ist niemals, Menschen bloßzustellen. Die Intention ist niemals, Menschen bewusst ungünstig zu zeigen. Wenn wir eine Familie fotografieren, warten wir nicht auf möglichst schräg aussehende Situationen, auf komische Gesichter oder unvorteilhafte Szenen, die wir zur Belustigung nutzen. Wir ignorieren nicht schöne Momente und warten darauf, dass sich das Kleinkind der Familie den Rotz durchs ganze Gesicht gezogen hat, um das dann zu fotografieren. Dokumentarfotografie ist keine Slapstickkomödie.

Eine Mutter streichelt das Gesicht eines Kindes

Wenn wir zu Eurer Familie kommen, dann nicht, um Euch lächerlich zu machen. Und auch nicht, um Schnappschüsse zu machen. Wir wollen Euch zeigen. Euch als Familie, Eure Beziehung zueinander, Eure großen und kleinen Momente. Und ja, das sind nicht nur die lachenden Momente. Nicht nur die strahlenden Momente. Aber es sind auch nicht nur die absurden, die zum Haareraufen.

Wir möchten Euch mit unseren Bildern die Besonderheit, die Schönheit Eurer Momente und auch Eures Alltags zeigen. Sind wir mal ehrlich: Manchmal sieht man doch vor lauter Bäumen den Wald nicht. Und so ist es auch in einer Familie. Vor lauter Trubel und Hektik nimmt man viele Dinge selbst nicht immer unbedingt wahr. Und auch die möchten wir Euch zeigen. Unsere Aufgabe ist es, solche Dinge zu sehen. Und in Szene zu setzen.

Durch die Entscheidung darüber, wie wir das vorhandene Licht nutzen, durch die Wahl der Perspektive, durch Komposition in Verbindung mit dem richtigen Moment. Das ist es, was gute dokumentarische Fotografie bedeutet. Und das ist weit entfernt vom Schnappschuss.

Wir setzen Euch nicht hin und sagen: „Haltet Euch jetzt mal an den Händen, lacht fröhlich und schaut in die Kamera.“ Nein, wir zeigen mit unseren Bildern, wie oft Eure Kinder tatsächlich nach Eurer Hand greifen. In wie vielen Situationen sie erst einmal fragend Euch Eltern anschauen. Wie oft sie den Blickkontakt zu Euch suchen. Wie oft sie die körperliche Nähe suchen. Euch anlachen. Und auch schon einmal bitterböse schauen, wenn Ihr das verbotene Wort mit den vier Buchstaben gesagt habt: Das sind die Dinge, die wir sehen. Und für Euch festhalten.

Mir wurde einmal gesagt: „Durch die Bilder haben wir erst einmal wieder gesehen, wie viele schöne Momente wir tatsächlich haben und wie gut wir als Familie doch eigentlich funktionieren.“ Gibt es ein größeres Lob?

Auf meiner Webseite steht: „Ihnen die Zeit Ihrer Kindheit zu dokumentieren und irgendwann zu überreichen, ihnen zu zeigen, wie wir sie gesehen haben, das ist meine Liebeserklärung an meine Kinder und das Leben mit ihnen.“ Und genau so sehe ich das.

Dokumentarische Familienfotografie, das sind nicht nur schöne Momente, das stimmt. Das wäre nicht realistisch. Aber sie ist, wenn sie beherrscht wird, ebenso ästhetisch und wunderschön wie die herkömmliche Familienfotografie es sein kann. Sie ist stark, sie ist emotional, sie ist echt. Ich gehe sogar so weit zu sagen: Die dokumentarische Fotografie ist eine Liebeserklärung an das Leben.

Um zu zeigen, wie dokumentarische Familienfotografie aussehen kann, habe ich Kolleg*innen gebeten, mir ihre persönlichen Lieblingsbilder für diesen Artikel zur Verfügung zu stellen. Danke!

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