Palmbäume auf einer Wiese.
04. Mai 2018 Lesezeit: ~35 Minuten

Die Kamera und das Fremde

Denn die meisten reisen nur, um wieder heimzukehren; reisen mit einsilbiger und ungesprächiger Klugheit bedeckt und verwahrt, und beschützen sich vor der Ansteckung einer unbekannten Luft (Michel de Montaigne).

Reisen ist tödlich für Vorurteile (Mark Twain).

In ihrem gierigen Bedürfnis nach Mythen, die ihre Macht begründen konnten, hielt die westliche Hemisphäre sich für das Zentrum der Welt, für die Heimat der Vernunft, des universellen Lebens und der menschlichen Wahrheit (Achille Mbembe)1.

In jüngster Zeit ist das Fotografieren ein ebenso weitverbreiteter Zeitvertreib geworden wie Sex oder Tanzen – was bedeutet, dass die Fotografie, wie jede Form von Massenkunst, von den meisten Leuten nicht als Kunst betrieben wird. Sie ist vornehmlich ein gesellschaftlicher Ritus, ein Abwehrmittel gegen Ängste und ein Instrument der Macht (Susan Sontag)2.

Fotografieren als Teil des Mediengebrauchs ist ein allgegenwärtiges Phänomen, das keine Lebensbereiche unberührt lässt. Vom Foto der Arbeitskollegen beim Betriebsausflug, dem Portrait des Haustiers oder dem Selfie in jeglicher Lebenssituation, nichts verbleibt in der Flüchtigkeit des Vergehenden. Alles wird gesammelt und häufig über die Kanäle sozialer Medien auch anderen mitgeteilt. Das Fotografieren und die Fotografie selbst sind Bestandteile einer Identitätskonstruktion geworden, die sowohl an das eigene Ich gerichtet ist wie auch an unsere Umgebung und deren Bild von uns.

Häuserzeile am Straßenrand mit Aufschrift Lesesaal und Turnhalle. Davor ein Junge auf einem Fahrrad.

Namibia © Ulrich Metzmacher

Die Angst vor dem Nichtwahrgenommenwerden ist dabei offenbar stärker als die Befürchtung, es könnten durch eine Fotografie eigene oder fremde Tabuschranken überschritten werden. Klassische Intimitätsregeln sind obsolet geworden, und es gibt nichts, das es in den medialen Netzwerken nicht gibt. Was Susan Sontag 1977 beim Erscheinen ihres Essaybandes noch nicht voraussehen konnte, ist in Gestalt des Fotografierens mit dem Smartphone inzwischen zum generationsspezifischen Phänomen geworden.

Es hat nicht wirklich stattgefunden, was nicht auf dem Monitor, und sei er noch so klein, betrachtet werden kann. Mitunter ist das vorzeigbare Bild sogar wichtiger als die ursprüngliche Situation, in der es entstanden ist. Damit ähnelt die Smartphonefotografie einigen Erscheinungsformen der klassischen touristischen Reisefotografie. Auch bei dieser entsteht nicht selten der Eindruck, dass der Stolz beim Vorführen der mitgebrachten Bildtrophäen einen größeren Gewinn mit sich bringt als das Erleben der Fremde selbst, die man gottlob heil überstanden hat.

Reisen galt schon immer als eine ambivalente Angelegenheit. So ist das Erleben neuer Kulturen, aber auch das Entdecken des Fremden in sich selbst, zentraler Bestandteil des bildungsbürgerlichen Auftrages nach der Sinnsuche. Die Konfrontation mit dem Fremden erweitert den Horizont und relativiert die eigenen, kulturell gebundenen Sichtweisen. Man lernt andere Menschen kennen, schreibt ein notierendes und reflektierendes Reisetagebuch oder geht auf fotografische Entdeckungstour. Hin und wieder muss man damit umgehen, einen vorgefertigten Plan über Bord zu werfen, weil die Umstände es erfordern.

Aber durch das Bestehen dieser Schwierigkeiten wächst das Vertrauen in die eigenen Kräfte und die Unsicherheiten werden geringer. Wir erwandern eine neue Stadt, bis nach und nach eine innere Orientierungskarte entsteht. Schließlich sind wir ein wenig heimisch geworden und reflektieren den erfahrenen Wachstumsprozess als Ergebnis der Kommunikation zwischen unserem Selbst und dem Fremden. Wie in Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ oder bei Odysseus kann deshalb die Reise in die (Unter-)Welt als Metapher für die Innenweltreise verstanden werden. Während der Reise kommt es, einem therapeutischen Prozess vergleichbar, zu einer Konfrontation mit den eigenen Sehnsüchten, Begierden und Ängste. Dieser Begegnung kann bei bewusster Auseinandersetzung eine Phase tieferen Eigenverstehens folgen.3

Verrostetes gelb-rotes Auto in einer Wüste.

Namibia © Ulrich Metzmacher

Jenseits der Innenweltreise oder Sinnsuche gibt es die Abenteuerlust als Ausbruch aus der alltäglichen Zivilisation, der man überdrüssig geworden ist. Dies kann in die Wüste, den Dschungel oder in die Berge führen. Das Zielpaket ist bei Bedarf auch fix und fertig buchbar. Man findet dann das andere, sonst nicht gelebte Leben in der All-inclusive-Anlage mit Schutzzaun und grenzenlos freiem Konsum einer fiktiven Welt voller Cocktails und Buffets, gelegentlich auch der sexuellen Befriedigung.

Der geografische Ort des Aufenthalts stellt sich dabei als zweitrangig oder beliebig dar, nur warm soll es in der Regel sein. Die Motive von Freiheit und Ausbruch stehen im Vordergrund, selbst wenn sich die Freiheit durch ein Bändchen am Armgelenk und der Ausbruch durch den Verzicht auf die Uhr manifestieren. Darüber hinaus stellt sich dem heimischen Immergleichen bereits vor der Reise in Begleitung einer prickelnden Vorfreude die Phantasie des Anderen entgegen. So erfüllt schon die Planung des Ganzen eine nicht zu unterschätzende Funktion für das seelische Gleichgewicht.

Hinter der Erfahrungssuche und dem kontrollierten Abenteuer schlummert das potentiell Bedrohliche des Fremden, und man ahnt mehr oder weniger explizit die gefährliche, zweite Seite des Reisens. Das Reisefieber als Mischung aus energetischer Fantasie und Furcht vor dem Fremden bringt die Ambivalenz an die Oberfläche. Wenn der Aufbruch naht, beginnt der Abschied vom Alten und es wächst die Hoffnungen auf das Erreichen neuer Sphären, gleichzeitig jedoch steigen Ängste auf vor möglichen Unglücken und gefährlichen Vorfällen. Dies alles geht uns durch den Kopf, und wir spüren die eine oder andere dunkle Seite unseres Innenlebens. Eine Kamera als modernes schamanisches Zauberwerkzeug kann helfen, die Dämonen zu bannen. Aber wie jedes Zaubermittel muss es überlegt angewandt werden, um unliebsame Nebenwirkungen zu vermeiden.

Die Begegnung mit einer fremden Kultur ist stets eine Herausforderung. Bei großer Distanz zur eigenen Gesellschaft stellen sich grundsätzliche Fragen des Verstehens ihrer Bräuche, Riten und Kommunikationsformen. Auch spielen die eigenen Vorurteile, mit denen man der Fremde und den Fremden begegnet, eine nicht unwesentliche Rolle. Und wir haben solche Vorurteile. Immer. Gibt es eine größere Nähe zwischen der Kultur des eigenen Herkunftslandes und derjenigen des Zielortes, so stellen sich solche grundsätzlichen Verstehensfragen zwar nicht in gleicher Weise.

Aufeinandergetürme Felsbrocken, davor ein Baum in wüstenartiger Landschaft.

Namibia © Ulrich Metzmacher

Dennoch sind beim ambitionierten Fotografieren auch hier einige Herausforderungen zu meistern. Werden diese bewusst gemacht, steigt die Chance für interessante Aufnahmen. Und darum geht es. Fotografien sollten nicht langweilen. Die folgenden Anmerkungen nehmen zunächst eine Afrikareise als Beispiel für die Begegnung mit einer eher fremden Kultur, anschließend werden Gedanken zusammengefasst, die anlässlich mehrerer Aufenthalte in New York entstanden sind.

Die Reise ins Schwarze

Unternehmen wir eine Reise in ferne Regionen, werden wir mit Unbekanntem konfrontiert, für das uns potentiell keine erlernten Deutungsmuster zur Verfügung stehen. Diese Konstellation eröffnet Raum für Projektionen verschiedenster Art, die sowohl Begehrenswertes wie Bedrohliches zum Inhalt haben. Aus diesen Projektionen werden dann Zuschreibungen und wir erwarten von der fremden Wirklichkeit, dass sie so ist, wie wir sie uns vorstellen. Ist erst einmal dieser Schritt vollzogen, so folgen die Mechanismen der selektiven Wahrnehmung.

Wir nehmen von der fremden Wirklichkeit vorzugsweise die Dinge wahr, die unseren Zuschreibungen entsprechen. Dies ist beim Fotografieren dann der Fall, wenn genau die Dinge festgehalten werden, auf die man bereits vorbereitet war und die deshalb geradezu erwartet wurden. Solche Fotografien wirken wie eine Verstärkung, weil das selektiv Wahrgenommene als Bilddokument zum Beweis für die Richtigkeit des schon immer Gewussten wird. Der Kreis hat sich geschlossen.

Mit zunehmender Entfernung steigt die Wirkung von Projektionsmechanismen an. Für einige Regionen der Welt scheint dies in besonderer Weise zu gelten. So haben die in lebensgefährlicher Fahrt aus Afrika über das Mittelmeer kommenden Menschen heftige Diskussionen in Europa ausgelöst, die zwischen massiven Bedrohungsgefühlen, faktenfreiem Unwissen und hilflosem Mitleid changieren. Erstmals seit vielen Jahrzehnten drängt sich damit eine Neureflexion des hierzulande etablierten Afrikabildes auf. Man darf dieses Bild durchaus als diffus bezeichnen. Dafür gibt es spezifische deutsche Gründe.

Asymmetrische Hausecke mit zwei symmetrischen Fenstern und einer davor liegenden Mauer.

Senegal © Tabea Borchardt

Nach 1945 hatte sich eine lähmende Hilflosigkeit hinsichtlich der vorurteilsfreien Beschäftigung mit fremden Völkern ausgebreitet. Die nazistische Rassenideologie zeigte ihre Nachwirkungen, so dass die kollektive Mentalität etwas Xenophobes in sich trug. Etwas später war man dann Zaungast, als sich die anderen europäischen Nationen als Folge der Unabhängigkeitsbewegungen der kolonisierten Völker schmerzhaft mit der Differenz zwischen der eigenen sowie den fremden Kulturen auseinandersetzen mussten.

Anders als etwa in Frankreich oder Großbritannien gab es in Deutschland während der Zeit der weltweiten Dekolonialisierung keine Notwendigkeit, sich mit Einwanderern aus ehemaligen Kolonien zu befassen. Die eigene Kolonialgeschichte war bereits mit dem Ersten Weltkrieg beendet gewesen. Menschen afrikanischer Herkunft sind in Deutschland deshalb bis heute, kollektiv gesehen, anders als etwa in Marseille oder Birmingham die Ausnahme.

Hinzu kommt, dass unser Afrikabild streckenweise noch immer geprägt ist durch die sogenannte Völkerkunde der vergangenen Jahrhunderte sowie die in den Museen gezeigten Ergebnisse des Sammeldrangs von Fürsten, Königen und Kaisern. Für diese war es selbstverständlich, alles mitzunehmen, was sie in der Fremde vorfanden. Das Ausplündern der besetzten Gebiete zur Vervollständigung der eigenen Herrschaftshöfe war gang und gäbe. „Den Fürsten und Herrschenden dienten die wundersamen Objektsammlungen dazu, die Ordnung der materiellen Welt zu repräsentieren, deren Besitzer sie gleichzeitig waren.“4

Blühender Busch zwischen Haus und weißer Mauer.

Senegal © Tabea Borchardt

Später wurde diese Praxis mit der Begründung, es handele sich um wissenschaftliche Völkerkunde, systematisch fortgesetzt. Darüber hinaus drückte sich der Eurozentrismus der kolonialen Sicht – Zivilisation ist, was europäisch ist –in der Wahrnehmung der eigenen Stellung als überlegen im Verhältnis zur übrigen Welt aus. Erst in jüngster Zeit beginnt Europa wirklich zu begreifen, dass es nicht der Nabel der Welt ist.

Wer bis vor einigen Jahren ein Völkerkundemuseum besuchte, konnte nicht davon ausgehen, dass ihm eine wissenschaftlich neutrale Vermittlung des Lebens anderer Kulturen geboten wurde. Die ethnologischen Museen haben seit den Zeiten der Entdeckungen und der Kolonialisierung überwiegend ein Bild davon gezeichnet, wie man sich die Fremden vorstellte. Es waren deshalb eher Museen der Imagination eigener kollektiver Phantasien und Ängste statt neutraler Informationsschauen. Die Projektionen wiesen entweder eine negative Konnotation auf, indem das Fremde als minderwertig und die eigene Kultur als Spitze menschlicher Entwicklung gesehen wurde, oder eine positive, wenn das Fremde als das Ursprüngliche, Irrationale und Phantastische verklärt wurde, das der europäischen Zivilisation aufgrund ihrer Triebdressuren abhandengekommen sei.

So hat sich, einschließlich dieser Widersprüche und Ambivalenzen, ein projektives Bild Afrikas entwickelt, das im Laufe der Zeit aufgrund permanenter Wiederholungen mehr und mehr für die Wirklichkeit genommen wurde. „Seit dem Beginn des transatlantischen Sklavenhandels ist der Kontinent zu einer unerschöpflichen Quelle von Phantasien geworden, zum Ausgangsmaterial einer gewaltigen Phantasietätigkeit, deren politische und ökonomische Dimensionen gar nicht überschätzt werden können und die unsere Vorstellungen von den Afrikanern, ihrem Leben, ihrer Arbeit und ihrer Sprache bis heute prägen.“5

Funkmast umgeben von Büschen.

Senegal © Tabea Borchardt

Ein typisches frühkoloniales Klischee des Eingeborenen, das bis in die feinsten Formulierungen hinein bei aller augenscheinlichen Sympathie den eurozentrischen Blick verrät, wird von Daniel Defoe gezeichnet, der Robinson Crusoe in dem 1719 erschienenen Werk eine Beschreibung seines Inselgefährten vornehmen lässt:

„Er war ein stattlicher, hübscher Kerl, wohlgebaut, kräftig von Gliedern, schlank und wohl proportionirt. […] Seine Gesichtszüge waren männlich und ohne wilden Ausdruck. Besonders wenn er lächelte, hatte er die ganze Anmuth und Sanftmut eines gebildeten Europäers. Sein Haar war lang und schwarz und nicht völlig gekräuselt; die Stirn hoch und breit und seine Augen sehr lebhaft und von einem funkelnden scharfen Ausdruck. Seine Hautfarbe war nicht völlig schwarz, sondern braungelb, aber nicht von jener häßlichen gelben, widerlichen Farbe, wie man sie bei den brasilianischen, virginischen und anderen Eingeborenen von Amerika sieht, sondern von einer Art glänzenden Olivenbrauns, das einen angenehmen, aber schwer beschreiblichen Anblick gewährte. Sein Gesicht war rund und voll, die Nase klein und nicht platt wie die der Neger, der Mund schön, die Lippen schmal, die Zähne wohlgereiht und weiß wie Elfenbein.“6

Weiterhin werden die Unterwerfungsgesten des Eingeborenen betont, die beruhigend deutlich machten, dass eine Infragestellung von Crusoes Herrschaftsstellung nicht droht. Ganz in der Fortschreibung dieses verklärten Bildes nimmt es nicht Wunder, dass man vor der Hochzeit des von Europäern betriebenen Sklavenhandels, in der die menschliche Arbeitskraft nur noch als reine Handelsware betrachtet wurde, den vereinzelt in Europa anzutreffenden Afrikaner*innen mit einer gewissen exotischen Wertschätzung begegnete. Ob als Mohr bei Hofe, als Wappenfigur oder als Prestigeobjekt, das Bild entsprach einer Mischung aus gezähmter Wildheit und damit Zivilisierung, gleichermaßen aber auch dem Gegenteil, einer Mixtur aus Kulturferne und gefährlich Naturhaftem.

Die mit einem wohligen Schauer wahrgenommene Exotik wich dann zunehmend einer eher eindeutigen Abwertung. Diese manifestierte sich zunächst „vor allem in der Bildung von Dichotomien wie der Barbar/der Zivilisierte, der Heide/der Christ, der edle Wilde/der kranke Zivilisationsmensch. Hier wird deutlich, dass die Grenzen, die zwischen Weiß und Schwarz gezogen werden, dem Gegensatz zwischen Kultur und Natur entsprechen“7.

Eisernes, blaues Tor in einer Mauer. Dahinter Umrisse eines Hauses.

Senegal © Tabea Borchardt

Die Ambivalenzen sind zwar nicht völlig verschwunden, es dominiert aber die Negativseite. In diese Zeit fällt auch das Bild vom „faulen Neger“, der klimabedingt keine besonderen Anstrengungen zum Überleben unternehmen müsse und dem deshalb von Natur aus ein Verständnis für die europäische Arbeitsdisziplin fremd sei.

Die Unterstellung sexueller Triebhaftigkeit und einer latenten Aggressivität kamen hinzu. Schließlich führte der koloniale Darwinismus zum ungeschminkten Konzept der Herrenrasse. Joseph Conrad lässt den Erzähler Marlow bei seiner Fahrt in Das Herz der Finsternis das Wesen der Dinge klar benennen: „Die Eroberung der Erde (ein Wort, das meistens die Bedeutung hat, dass man Leuten, die ein andere Hautfarbe oder flachere Nasen als wir selbst haben, ihr Land wegnimmt), diese Eroberung ist nichts Allzuschönes, wenn man sie sich aus der Nähe betrachtet.“8

Postkoloniale Studien bemühen sich seit einigen Jahrzehnten, das Konstrukthafte unserer Begriffe und Vorstellungen deutlich zu machen. „Neger“ und auch „Rasse“ sind eben keine wertfreien Bezeichnungen, sondern historisch aufgeladen mit spezifischen Bedeutungszuschreibungen. Diese spiegeln die Einstellungen und Perspektiven einer Gesellschaft wider, die sich erst ein bestimmtes Bild von Afrika gemacht und dieses dann perpetuiert hat.

Michel Foucault hat in der „Archäologie des Wissens“9 gezeigt, auf welche Weise Gesellschaften solche Wahrheiten und Verbindlichkeiten produzieren. Niemand kann genau bestimmen, wer wann in welcher konkreten Situation an diesen Konstrukten gearbeitet hat. Es gibt keine*n Urheber*innen, es gibt auch keine Verschwörung finsterer Mächte, und gleichwohl erlangen die Stereotype den Charakter sozialer Tatsachen, die über einen langen Zeitraum wie kollektive Archetypen in das gesellschaftliche und individuelle Bewusstsein eingedrungen sind. Die ständige Reproduktion der weißen Stereotype wirkt auf diese Weise von der Zeit des Sklavenhandels über die kolonialen Denkmuster bis in die Gegenwart nach.

Eingang zu einem Innenraum mit großem Werbeschild von Nescafé.

Senegal © Tabea Borchardt

Eine explizit schwarze Perspektive auf die Funktion weißer Stereotype wird in den postkolonialen Theorien von Leopold Senghor über Frantz Fanon bis Achille Mbembe eingenommen. Sie machen deutlich, dass die rassistischen Diskurse mit dem Prozess der Dekolonialisierung keineswegs abgeschlossen sind. Kern des europäisch-westlichen Schwarzenbildes ist weiterhin der unhinterfragte weiße Nullpunkt, nach dem „Weißsein einen Ort bezeichnet, der unmarkiert ist und sich somit als Norm versteht“10.

Der Maßstabsetzende selbst ist neutral und farblos weiß, alle anderen gelten als farbig oder schwarz, somit abweichend. Der oder die „Weiße“ konstruiert seine Identität nicht zuletzt auf der Folie de*r Anderen, wobei die Definitionsmacht einseitig ist, da es über einen langen Zeitraum keine symmetrischen Machtverhältnisse zwischen beiden gab. Die Folgen der weißen Stigmatisierung und Identitätsbildung tragen dennoch alle. Die weißen kolonialen Diskurse haben sowohl auf die Identitätskonstruktionen der Kolonisierten wie auf die der Kolonisatoren selbst gewirkt. Es genügt deshalb nicht, postkoloniale Studien nur aus der schwarzen Perspektive zu betreiben, um das Anmaßende der weißen Stereotype herauszuarbeiten.

Wie ist das Konstrukt des weißen Selbstverständnisses entstanden und welche Funktionen hat es? Wir müssen uns in Europa an die eigene Nase fassen, um diese Fragen zu beantworten. Nach alledem wird deutlich, dass es nicht trivial ist, wie wir uns mit der Kamera verhalten, wenn wir in Afrika unterwegs sind. Hinzu kommt in Ländern wie Namibia und Südafrika, dass sich auch nach dem Ende der eigentlichen Kolonialzeit ein starkes ökonomisches Machtgefälle zwischen Weißen und Schwarzen zeigt, so dass man als weißer Europäer und reicher Tourist nahezu zwangsläufig zur relativen Upper Class gerechnet wird. Unter diesen Umständen spricht einiges für ein reflektiertes Verhalten, zu dem es im Übrigen keine wirkliche Alternative gibt, wenn man sich zuvor zum Erkennen der weißen Stereotypenbildung vorgearbeitet hat.

Ist man erst einmal an dem Punkt angelangt, an dem die kollektiven europäischen Bilder mit ihren Ambivalenzen deutlich geworden sind, so kann nur noch größte Ignoranz oder Arroganz, bestenfalls Naivität, dazu führen, dass man mit klassischer touristischer Unbefangenheit die Kamera auf alles richtet, was dem erwarteten exotischen Bild entspricht oder zumindest so aussieht. Sensible Gemüter verspüren diese Problematik instinktiv, wenn sie sich in den ersten Tagen nach der Ankunft in der Fremde zunächst fotografisch zurückhalten, um erst nach einer Zeit der Ortsfindung und mentalen Akklimatisierung unbefangener zu werden und die Kamera auf die unbekannten Dinge zu richten.

Stoppschild und gelbes Haus an einer Straßenecke.

Senegal © Tabea Borchardt

Während sich bestimmte Motive wie Landschaften und freilebende Tiere in der Regel losgelöst von kulturellen Vorurteilen betrachten und mit der Kamera festhalten lassen, wird es beim Fotografieren von Einheimischen diffiziler. Schnell ist man mit der Frage konfrontiert, ob hier nicht die eigenen Sehraster zur Bestätigung von Stereotypen führen und man am Ende nichts anderes als Klischees fotografiert. Darüber hinaus schlägt die nicht selten anzutreffende touristische Naivität allzu schnell in Distanzlosigkeit, Aufdringlichkeit und unkultivierte Anmaßung um, die das fremde Subjekt nur als fotografisch interessantes Objekt betrachtet.

Reflektiertes touristisches Verhalten muss trotzdem nicht in eine übervorsichtige Selbstbeschränkung führen. Wenn Mitarbeiter*innen eines österreichischen Museumsdorfes in traditioneller Kleidung das Handwerks- und Bauernleben früherer Jahrhunderte darbieten, so erscheint uns das völlig normal und wir fotografieren ohne Befürchtung eines unangemessenen Voyeurismus. Warum nicht in gleicher Weise den Besuch eines afrikanischen Dorfes mit der Vorführung von Stammestänzen und traditionellen Riten betrachten? Müssen wir uns hypersensibel abwenden, weil es sich ja „nur“ um eine für Tourist*innen gemachte Show handelt? Auch das wäre eine falsche Scham.

Man darf davon ausgehen, dass sich die Darsteller*innen des Rollenhaften der Aufführung bewusst sind und im Übrigen auch Teile ihres Lebensunterhaltes damit bestreiten. Wenn die nur halb bekleidete schwarze Führerin im Museumsdorf im Nordwesten Namibias zum Ausdruck bringt, dass man „alles fotografiere darf“ und darüber hinaus erklärt, dass die Akteure des Museumsdorfes „in zwei Welten leben, in der Stadt und hier“, dann definiert sie die Situation souverän als Rollenspiel. Für die weißen Besucher*innen ist damit jegliche Unsicherheit oder gar Peinlichkeit genommen, man könne als Gaffer*in angesehen werden. Problematisch würde eine solche Show erst dann, wenn für diese die traditionellen Erwerbsformen in Landwirtschaft und Handwerk oder im städtischen Handel aufgegeben werden und der Tourismus mit seinen Begleiterscheinungen zur einzigen Einnahmequelle wird.

Dies alles gilt es beim Fotografieren im Blick zu behalten. Aber selbst der aufgeklärte, freundliche Blick auf andere Kulturen bleibt immer ein perspektivischer. Wir sehen stets das, was wir sehen wollen, und je fremder die Fremde, umso mehr hängen wir an Erwartungsbildern, die unsere Kultur über einen langen Zeitraum aufgebaut hat. Wir können diese nicht einfach abschütteln. Es bliebe eine Illusion, aus der eigenen Kultur einfach auszusteigen zu wollen. Allein die Syntax und Semantik der erlernten Muttersprache haben unser Denken und Wahrnehmen auf eine nahezu unkorrigierbare Weise geprägt. Vieles von dem, was uns völlig logisch erscheint, ist dies lediglich aufgrund unserer Art des Denkens. Fremde Kulturen können mit ihrer eigenen Rationalität die Dinge durchaus anders sehen und bewerten.

Vorurteil und Bestätigung

Verlassen wir Afrika und wechseln den Kontinent. New York, eine Metropole voller Szenen und Motive, die zum Fotografieren einladen, auch wenn sie bereits in hunderttausenden von Bildern festgehalten wurden und nahezu jedem bekannt sind. Wolkenkratzer, Yellow Cabs, bunte Lichter am Broadway, Empire State Building, Brooklyn Bridge, vorzugsweise by night mit Blick auf die Lichter Manhattans, Liberty Statue und Guggenheim oder Museum of Modern Art. Selbst die optimalen Aufnahmestandpunkte sind bekannt.

Historisches Gebäude mit vielen Verzierungen, dahinter Wolkenkratzer aus Glas.

New York © Ulrich Metzmacher

Trotz des Wissens, dass der eigene touristische Blick identisch ist mit den Blicken vieler anderer, wird fotografiert, als sähen wir als Einzige etwas besonders Seltenes. Die Ergebnisse sind in vielen Fällen ernüchternd, und bei der Betrachtung auf dem heimischen Monitor strahlen die Bilder eine gewisse unambitionierte Normalität aus. Alles wirkt ein wenig belanglos oder gar langweilig und Yellow Cabs sind jetzt nur noch gelbe Autos. Zudem fällt plötzlich auf, dass lediglich einige von ihnen das typische Straßenkreuzerformat aufweisen und die meisten aus vernünftiger japanischer Produktion stammen.

Auch die nächtlichen Fotos der Brooklyn Bridge vor dem Lichtermeer Manhattans waren zwar schon immer ein wenig kitschig, aber die eigenen Bilder bei Tageslicht eröffnen nun erst recht keine neuen Sichtweisen. Vergleichbares gilt für die üblichen Wolkenkratzer und die anderen touristischen Zentralmotive. Alles bekannt und bereits von anderen in Perfektion abgebildet. Wir beginnen zu ahnen, dass unsere eigenen Fotografien schlechte Nachahmungen sind. Die auf die Reise mitgenommenen Erwartungen haben uns offenbar eine Falle gestellt.

Durch das bekannte Set klassischer New York Bilder haben wir bereits vor der Reise eine Vorstellung entwickelt, die dann wie ein Filter vorzugsweise solche Dinge in den Blick gelassen hat, auf die wir bereits vorbereitet waren. Unbewusst wurde in erster Linie genau das wahrgenommen, was den Erwartungen entsprach, und das fotografiert, was wahrgenommen wurde, also die Yellow Cabs und die übrigen Postkartenmotive. Die gelenkte Aufmerksamkeit hat zu jenen Bildern geführt, die uns bereits geläufig waren. Wir haben unsere Vorurteile bestätigt.

Indem Bekanntes gesucht, entdeckt und festgehalten wird, fördert das Fotografieren auf Reisen nicht zuletzt die Schaffung von Sicherheit. Man sieht Erwartetes oder Vertrautes und blendet fremdartige Aspekte aus. Die Reizüberflutung wird kanalisiert, indem durch selektive Wahrnehmung die Komplexität auf vorhandene Schemata reduziert wird. So zeugen gleiche Verkehrsschilder und Automodelle, gleiche Warenangebote im Supermarkt und gleiche Motive auf den Werbeplakaten in beruhigender Weise von der Welt als einem Dorf, in dem wir uns ohne Verwirrung zurechtfinden.

Teil eines gelben Autos und metallener Kanaldeckel.

New York © Ulrich Metzmacher

Große internationale Hotelketten berücksichtigen dieses Sicherheitsbedürfnis und sorgen dafür, dass in Sydney, Toronto und Düsseldorf die Zimmerausstattung, die Beschilderung und die Organisation nahezu identisch sind. Gleiches gilt für Flughäfen. Überall ähnliche Abläufe und Informationstafeln. In welcher Stadt sind wir heute? Egal, wir wissen, wo es lang geht. Fotografieren an fernen Orten folgt nicht selten dieser Logik des Vertrauten. Aber auch die geläufigen touristischen Motive dienen dem Wiedererkennen und der Orientierung. Wer dem Heldendenkmal aus dem Reiseführer gegenübersteht, weiß genau, wo er sich befindet, und braucht keine Furcht vor dem Verlust der Koordinaten zu haben.

Susan Sontag hat die Funktion des Fotografierens beim Reisen näher analysiert und beschreibt neben der Schaffung von Sicherheit weitere Aspekte. So kann die Aneignung der fremden Umwelt durch Beschränkung auf ausgewählte Motive auch als Verweigerung von Erfahrung interpretiert werden. Man konzentriert sich vollständig und ausschließlich auf die Suche nach fotogenen Szenen und blendet alles Übrige aus. Steht ein solches Sammeln von touristischen Souvenirs im Vordergrund, so führt das Reisen schnell „zu einer Strategie, die darauf abzielt, möglichst viele Fotos zu machen“11. Die Erfahrung bleibt zwar oberflächlich, aber das Fotografieren fördert zumindest den Eindruck einer interessierten Teilnahme.

Der Gebrauch des Fotoapparats ähnelt in gewisser Weise dem Rauchen, das ebenfalls zum Verbergen von Unsicherheit eingesetzt werden kann. „Allein schon das Hantieren mit der Kamera ist beruhigend und mildert das Gefühl der Desorientierung, das durch Reisen oft verschärft wird. Die meisten Touristen fühlen sich genötigt, die Kamera zwischen sich und alles Ungewöhnliche zu schieben, das ihnen begegnet.“12 Der Fotoapparat dient als ein Schutzschild, dessen Gebrauch geradezu inszeniert wird. Die polyglotten Weltbürger*innen erwecken durch den coolen Einsatz ihrer profihaften Ausrüstung den Anschein, sie seien überall zu Hause und stets Herr/Frau der Lage.

Straßenschild in grün mit Aufschrift "1Av" vor Häuserfassade mit vielen Fenstern.

New York © Ulrich Metzmacher

Bei der späteren Betrachtung der Bilder ist von der Anstrengung dieses Schauspiels nichts zu spüren. Aber der Beweis ist erbracht, dass man „die Reise unternommen, das Programm durchgestanden und dabei seinen Spaß gehabt hat“13. Von den Unsicherheiten während der Reise und den Eigeninszenierungen beim Gebrauch der Kamera zeigen die Bilder nichts. Es darf vermutet werden, dass sich dieser Mechanismus bei häufigem Reisen oder wiederholten Besuchen des gleichen Zieles abmildert. Solange eine Umgebung neu ist, stehen Orientierungsaspekte im Vordergrund. Wird man dann mehr und mehr mit den Dingen vertraut, kann der Blick entspannter auf Neues und auf überraschende Perspektiven gerichtet werden.

Gewöhnung bringt zwar die Gefahr von Unaufmerksamkeit mit sich, beim Fotografieren kann sie jedoch zum Vorteil werden, wenn auf ihrer Basis gezielt das Ungewöhnliche gesucht wird. Häufiges Reisen und ein geübtes Bewegen auch in unbekannten Regionen erleichtern daher die Ablösung von fotografischen Vorurteilen. Sicherheit durch Gewöhnung kann ihre befreiende Wirkung entfalten, insbesondere wenn man sie nicht mehr um jeden Preis benötigt. Spätestens beim dritten New York Besuch registriert man die positiven Seiten dieses Effektes.

Warum reisen?

In einem Interview hat sich der Philosoph Alain de Botton mit den Erfahrungen des Reisens befasst.14 Die Offenheit für Neues, so seine These, hängt stark von der Persönlichkeit ab. So kennen einige Vielgereiste alle Gegenden dieser Welt, erwecken jedoch den Eindruck, als seien sie davon in keiner Weise berührt. Andere haben nur wenig gesehen, aber diese wenigen neuen Eindrücke waren ausreichend, starke innere Veränderungen auszulösen. Die Offenheit für Fremdes, so de Botton, steigt offenbar mit der bewussten Reflexion, was man wirklich kennenlernen möchte, deutlich an.

Pflanze mit Einritzungen in den Blättern.

Cuba © Ulrich Metzmacher

Das Wissen um die eigenen Bedürfnisse ist deshalb wichtiger als die Orientierung an dem jeweils aktuellen Trend, wohin man reisen und was man dabei sehen sollte. Das gilt auch für interessierte Bildungsreisende. Selbst dies*r ist mitunter nicht frei von einer Kulturbeflissenheit, die zwanghaft die von de*r Ratgeber*in gelisteten Sehenswürdigkeiten insbesondere deshalb aufsucht, weil man dort einfach gewesen sein muss. Das hauptsächliche Motiv liegt hier in einer diffus empfundenen „Kulturschuld“, die mehr der Pflicht folgt als dem Erfahrenwollen mit Überraschungseffekten.

Aufgrund der Medienbilder dieser Welt und eines eher oberflächlichen Wissens über fremde Länder wird die unvoreingenommene Reise immer unwahrscheinlicher. Um dem entgegen zu treten, sucht der wirklich Interessierte gezielt die kritische Reflexion der eigenen Klischees. Diese können durch neue Eindrücke wenn schon nicht infrage gestellt, so doch zumindest ergänzt und relativiert werden. In besonderer Weise gilt die Wirkung der Vorurteile für die Traumorte dieser Welt, die bei genauerer Betrachtung nahezu immer auch ihre andere Seite zeigen. Für die dort lebenden Menschen stellt sich das Paradies nämlich in der Regel als Ort mit mindestens genau den gleichen Alltagsproblemen dar, die auch unsere eigene Gesellschaft prägen.

Ein Mann mit einem Hund und ein Mann, der ein Pferd am Halfter zieht.

Cuba © Ulrich Metzmacher

Häufig ist das Leben in der Fremde sogar härter. Wer nach ausgiebigem Frühstücksbuffet aus dem Hotel zum nahegelegenen Strand der exotischen Ferieninsel schlendert, vorbei an freundlichen Menschen mit allerlei Kunsthandwerklichem, der bekommt davon allerdings so gut wie nichts mit.
Reiseratgeber tragen zur Bildung von Vorurteilen bei, indem in Text und Bild eine Betonung der touristischen Aspekte vorgenommen wird und die Schattenrealitäten bestenfalls in einigen allgemeinen Informationen zum Land untergebracht sind. Aber gänzlich ohne Vorbereitung durch Reiseführer geht es auch nicht, weil sich sonst keine Vorstellung entwickelt, welche neuen Erfahrungsmöglichkeiten es geben könnte.

Strommast mit unzähligen Kabeln.

Cuba © Ulrich Metzmacher

Im glücklichen Fall bauen wir eine gewisse Spannung zwischen dem „Nicht-Alles-Wissen und dem Nicht-Nichts-Wissen“ (de Botton) auf, damit einerseits die Chance für die Wahrnehmung neuer Sichtweisen gegeben ist, andererseits aber keine Lähmung der Spontaneität eintritt. Ein solches Gleichgewicht korrespondiert häufig mit einem gesunden Maß an Aufregung, die zwar gesucht wird, aber bitte nicht zu stark sein soll. Die Psyche des Menschen fördert nun einmal die Sehnsucht nach dem Gegensätzlichen, aber gerade noch Integrierbaren, und so wird die Fremde als prickelndes Korrektiv zur gewohnten Alltagszivilisation aufgesucht.

Jede Reise hat ein Davor und ein Danach. Eine allzu große Vorfreude kann zur Enttäuschung führen, weil der mitgenommene Erwartungsdruck das spontanes Herangehen und Wahrnehmen erschwert. Und es gibt zahlreiche andere Gründe dafür, dass nicht jede Reise gelingt. Aber so ärgerlich oder beängstigend manche Erfahrungen auch sein mögen, schon die Vorstellung des Nachhausekommens hat etwas Beruhigendes, und selbst einem schlechten Urlaub lässt sich durch die Freude auf das Danach etwas Tröstliches abgewinnen. Das spätere Vorzeigen der erbeuteten Urlaubserinnerungen hat nicht zuletzt hier seine Funktion. Die nett gemeinten Kommentare unserer Freunde zu den kunsthandwerklichen Mitbringseln und zu den Aufnahmen aus der Fremde verschaffen uns einen wirksamen sekundären Reisegewinn und damit eine nachträgliche Befriedigung.

Die Aneignung des Fremden

Fotografieren vermag den Umgang mit dem Unbekannten gezielt zu kanalisieren. Wenn es bewusst gesucht wird, anstatt ihm auszuweichen, eröffnet sich durch die fotografische Umkreisung eine Chance zur wirklichen Begegnung. Obwohl es zunächst paradox erscheint, findet auf diese Weise eine Reduktion von Komplexität statt. Aus der Menge der neu auf uns einstürzenden Eindrücke und Informationen wird ein Teil herausgefiltert und besonderer Beobachtung unterzogen. Auf diese Weise werden nicht nur die bekannten Touristenmotive entdeckt, sondern gerade auch das Überraschende. Die zunächst noch verwirrende Unübersichtlichkeit ordnet sich ein wenig.

Hausfassade mit bunten Balkonen.

Serbien © Tabea Borchardt

Hier wird das explorative Potential der Fotografie erkennbar. Man erschließt sich etwas Unbekanntes, indem man es überhaupt erst einmal als solches wahrnimmt, anstatt es zu übersehen oder zu verdrängen. Anschließend beginnt man, es zu entschlüsseln und zu verstehen, bis schließlich eine kohärente kognitive Repräsentanz der Dinge aufgebaut ist. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass wir das Unbekannte auch richtig verstanden haben. Schließlich ist es immer in einen kulturabhängigen Kontext eingebettet, den wir möglicherweise nicht vollständig oder korrekt erfassen konnten. Abhängig vom Grad der Beschäftigung mit den fremden Dingen und ihrem Umfeld steigt die Chance einer adäquaten Vorstellung aber spürbar an.

Die umgangssprachliche Begrifflichkeit, sich ein Bild von etwas zu „machen“ beschreibt diesen Vorgang recht genau. Es ist ein Unterschied, ob der Auslöser bei einer zunächst nicht deutbaren Szene reflexartig betätigt wird, um sozusagen „irgendetwas“ festzuhalten und dieses dann als exotische Trophäe mit nach Hause zu bringen, oder ob man sich der Mühe unterzieht, dieses Irgendetwas zunächst erst einmal zu begreifen. Das nach dem zweiten Blick gemachte Bild wird sich vom spontan drauflosfotografierten unterscheiden, und jede ambitionierte Fotografie setzt genau an dieser Differenz an. „To make a picture“ ist etwas anderes als „to take a picture“. Dies gilt im Übrigen auf Reisen in Afrika genauso wie in New York.

Es empfiehlt sich im Übrigen, in der Fremde nicht anders zu fotografieren als in der vertrauter heimischen Umgebung. Wird das eingeübte Sehen und Gestalten auch zur Basis der Reisefotografie, so kann dies vor den Folgen einer allzu spontanen Sammelleidenschaft ohne wirklichen Sinn schützen. Wenn wir uns etwas weniger auf die Yellow Cabs der Region oder exotische Klischees konzentrieren, dann wird der Weg frei für das ambitionierte Fotografieren.

Wolke vor blauem Himmel mit einem Hochhaus.

Serbien © Tabea Borchardt

Ein gelbes Auto an sich ist in der Regel nun einmal kein besonders originelles Hauptmotiv. Für eine interessante Fotografie müssen andere Dinge hinzukommen. Dafür gelten in New York die gleichen Gestaltungsregeln wie in Berlin oder in Afrika. Dies bedeutet nicht, dass Gestaltungsregeln einen universalistischen, kulturunabhängigen Charakter haben. Es handelt sich um unsere Regeln, und es mag durchaus sein, dass der Blick eines anderen Fotografen, etwa eines afrikanischen, ein anderer ist.

Dies verweist einmal mehr auf das Wesen der Fotografie, nämlich Ergebnis eines Konstruktionsprozesses zu sein und nicht einfach die fixe Widerspiegelung einer objektiven Wirklichkeit. Stets geht es um den Standpunkt, den man einnimmt. Mit Hilfe der Fotografie lassen sich deshalb Vorurteile sowohl bestätigen wie auch dekonstruieren. Sie fordert uns auf, das Perspektivhafte des eigenen Blickes im Auge zu behalten und die Kulturgebundenheit unserer Weltsicht zu berücksichtigen.

Dieser Text ist der Webseite Fotosinn entnommen – dort findet Ihr auch weitere Essays zum Thema Fotografie.

Quellen und Anmerkungen

1 Mbembe, Achille: „Kritik der schwarzen Vernunft“ ; Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2014, S. 29
2 Sontag, Susan: „Über Fotografie“ (zuerst 1977); Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1980, S. 14
3 vgl.: Köb, Susanne: „Reisephilosophie. Neue Ziele für Touristen oder Über die Selbstveränderung in alternativen Welten“ ; Focus Verlag, Gießen, 2005
4 Scherer, Bernd: Wunderkammer und Labor. Zum Richtfest: Über die Herausforderung des Humboldt-Forums, in: Tagesspiegel, 12. Juni 2015
5 Mbembe, Achille: a. a. O., S. 138
6 Defoe, Daniel: „Robinson Crusoe“ (Übersetzung von Karl Altmüller); eBook.de Edition, Hamburg, 2012, S. 173f.
7 Nacro, Sanata: Die Konstruktion des „afrikanischen Migranten“ in deutschen Printmedien am Beispiel des Spiegel und der Zeit in den Jahren 2006/2007, Universität Köln; S. 39
8 Conrad, Joseph: „Das Herz der Finsternis“ (Übersetzung von Ernst W. Freißler); ebook, e-artnow, 2015, S. 8
9 Foucault, Michel: „Archäologie des Wissens“ ; Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1973 (Original 1969)
10 Nacro, Sanata: a. a. O.; S. 26
11 Sontag, Susan: a. a. O., S. 15
12 ebd.
13 ebd.
14 Interview mit Alain de Botton, geführt von Jenny Friedrich Freksa und Falk Hartig, in: Fikrun Wa Fann, Publikation des Goethe-Instituts e. V.; von Alain de Botton liegt auch vor: Kunst des Reisens , Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2002

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