27. März 2018 Lesezeit: ~7 Minuten

Unter die Haut – Röntgenfotografie

Vom Medizintechniker zum Künstler. Und das fast über Nacht. Ausgangspunkt war die Anfrage eines Kollegen. Heute sind seine Bilder weltweit bekannt. Die ersten Blumen, die van ’t Riet mit Röntgenstrahlen beschoss, waren – bei einem Niederländer wenig überraschend – Tulpen. Bald darauf baute er auch kleine Insekten in seine Szenarien ein.

Frosch im Wasser zwischen Seerosenblättern.

Koloriertes Röntgenbild eines Frosches im Wasser.

Arie van ’t Riet arbeitete damals im Krankenhaus von Deventer, knapp 70 Kilometer östlich der deutsch-niederländischen Grenze, und war Spezialist für alles, was mit Röntgenstrahlen zu tun hatte. Er wurde gebeten, ein Gemälde des niederländischen Malers Cornelis Engelbrechtsen aus dem späten 15. Jahrhundert zu röntgen. Um Kunst ging es dabei gar nicht, sondern viel mehr darum, zu demonstrieren, wie unterschiedlich dicke Materialien auf einem Röntgenbild abgebildet werden.

Affe im Baum.

Koloriertes Röntgenbild eines Affen im Baum.

Van ’t Riet hatte bis dato noch nie ein derart dünnes Medium wie ein Gemälde mit Röntgenstrahlung untersucht und war gespannt, ob man überhaupt etwas erkennen könne. Konnte man. Der Grund: Früher stellten die Künstler ihre Farben in der Regel selbst her und verwendeten dabei Mineralien wie Titan oder Kobalt. Die metallenen Bestandteile der Farbgemische wurden auf van ’t Riets Röntgenbild als unterschiedlich starke Grauschattierungen sichtbar.

Blumen in einer Vase.

Koloriertes Röntgenbild von Tulpen in einer Vase.

Erst Pflanzen, dann Tiere

Das Interesse des Niederländers für seine neue Fototechnik war geweckt und die Suche nach anderen Objekten begann. Bald darauf beschoss er den ersten Tulpenstrauß mit den unsichtbaren Strahlen. „Alle, die die Aufnahme sahen, waren davon begeistert“, so van ’t Riet. Als er seine Bilder schließlich noch digitalisierte, die Farben invertierte und selektiv einige Partien einfärbte, sagten seine Freund*innen plötzlich: „Wow, Arie, das ist Kunst!“ Vom positiven Feedback beflügelt, beschäftigte sich der „Röntgenkünstler“ intensiver mit der neuen Fototechnik.

Chameleon auf einer Pflanze mit roten Blättern vor weißem Grund.

Koloriertes Röntgenbild eines Chamäleons auf einer Begonie.

Er experimentierte zunächst mit anderen Pflanzen und baute kurz darauf auch Insekten in seine Szenarien ein. Schmetterlinge, Libellen, Käfer – was eben problemlos zu bekommen war im eigenen Garten. So wurden seine Fotos, die er selbst „Bioramen“ nennt, immer komplexer. Irgendwann wollte van ’t Riet auch größere Lebewesen wie Vögel, Eidechsen und Frösche auf seinen Bildern in ihrem natürlichen Lebensraum abbilden.

Aber woher die Tiere nehmen? Aus dem Zooladen? Für den Niederländer keine Option: „Alles, was ich röntge, ist bereits tot. Es wäre nicht in Ordnung, lebende Organismen für meine Kunst der schädlichen Strahlung auszusetzen.“ Die einzige Ausnahme war ein für die Tiere harmloser Versuch mit Schnecken.

Schildkröten und durchsichtige Pflanzen.

Koloriertes Röntgenbild von Schildkröten im Wasser mit Pflanzen (Chinesische Hanfpalme links und Azalee rechts).

Röntgen im Heimstudio

Also auf zum Präparator: Dort sind alle Tiere tot und noch super erhalten. Müsste doch also klappen mit den Röntgenbildern. Denkste. Präparierte Tiere sind schließlich mehr Schein als Sein: Von außen noch Vogel, von innen schnödes Metallgestänge statt filigranes Skelett.

Seither sucht sich van ’t Riet seine Tiere vom Straßenrand, geht auf Fischmärkte oder bekommt sie von einem Freund, der tote Reptilien sammelt. Ein kleiner Affe, Hühner, Enten, Leguane, ein Maulwurf, Schlangen, Schildkröten und ein Rochen sind nur einige Tiere, denen er unter die Haut geschaut hat. In Zukunft hätte der Niederländer gern auch Flamingos, Pelikane oder einen kleinen Alligator auf seinen Bildern, wenn er sie denn irgendwie besorgen kann.

Mohnblumen vor weißem Hintergrund.

Koloriertes Röntgenbild von Mohnblumen.

Nicht alle Tiere sind jedoch für seine Röntgenfotos geeignet: Ihr Innenleben muss noch in einem sehr guten Zustand sein. Bei vielen Unfallopfern ist das nicht der Fall. Zu sehen ist das aber oft erst nach der Aufnahme. Auch zu groß dürfen die Tiere nicht sein, denn dann wäre eine so hohe Strahlenintensität nötig, dass die 1,2 mm dicken Bleiwände in seinem Studio keinen ausreichenden Schutz böten, so der Niederländer.

Seines Studios? Richtig. Keines seiner Fotos entsteht im Krankenhaus, sondern in van ’t Riets 40 m² großem Heimstudio. Dort hat er seit 1998 ausrangiertes Röntgenequipment zusammengetragen und bastelt an seinen Bioramen.

Bunte Tulpen.

Koloriertes Röntgenbild eines Tulpenstraußes.

Die Filme, die ich dafür verwende – Agfa Structurix, Kodak XV und Kodak EDR2 – kann man ganz normal kaufen. Sie sind besonders feinkörnig und lassen sich daher ohne viel Kornbildung vergrößern. Außerdem führen auf ihnen selbst minimale Schwankungen der Strahlenenergie zu sichtbaren Unterschieden in den Graustufen.

Schädlich ist die Strahlung, der sich der Röntgenkünstler aussetzt, übrigens nicht. Zwar hat er schon Hunderte Fotos gemacht, doch dank umfangreicher Schutzmaßnahmen erreicht ihn nur eine sehr geringe Strahlendosis. „Pro Aufnahme bekomme ich etwa 1 mSv ab. Alles völlig harmlos“, versichert van ’t Riet. „Allein die jährliche natürliche Belastung, der wir Mitteleuropäer*innen im Durchschnitt ausgesetzt sind, ist 1.000 bis 2.000 Mal so hoch.“

Maus auf Physaliszweig.

Koloriertes Röntgenbild einer Maus auf einer Physalis.

Entstehung der Röntgenfotos

Für ein komplett fertiges Foto braucht der Künstler etwa zwei Tage. Erst wählt er eines oder mehrere Tiere aus, sammelt anschließend passende Objekte wie Pflanzen oder Holzstämme und arrangiert sie auf dem Fußboden oder einem Tisch zu einer Szene. Dann folgt der schwierigste Teil: Bei komplexen Bioramen sind die einzelnen Elemente oft unterschiedlich dick und benötigen daher eine verschieden hohe Strahlenintensität.

Da ist einfach Ausprobieren angesagt. Ich mache also etliche Testbilder und schaue, inwieweit Bereiche der Aufnahme noch über- oder unterbelichtet sind. Für dünnere Teile wie Blüten belichte ich zum Beispiel vier Minuten lang mit niedrigenergetischen Strahlen. Bei dickerem Gewebe, in der Regel Tiere, nutze ich mittelenergetische Strahlen für etwa eine Minute.

Fisch.

Koloriertes Röntgenbild einer Gemeinen Goldmakrele.

Dafür wird das lichtundurchlässig verpackte Negativ (in der Größe 33 x 41 cm) an einem Ende des Bioramas platziert. Etwa einen Meter entfernt liegt die Röntgenröhre, eine alte Machlett OEG-50, wie sie auch im medizinischen Bereich zum Einsatz kam. Anschließend wird das Negativ im Agfa Curix 60 entwickelt und anschließend mit 300 dpi und 12-bit Farbtiefe digitalisiert.

Mittels Photoshop invertiert van ’t Riet schließlich das Bild, schraubt eventuell etwas im Bereich der Tiefen und Lichter an der Farbbalance herum und koloriert im letzten Schritt einige Bildpartien. Das Einfärben ist dem Niederländer besonders wichtig:

Dadurch will ich ein wenig Leben in diese sonst sehr sterilen, leblosen Aufnahmen zurückbringen und die sichtbare, farbliche Welt mit der unsichtbaren Welt der Röntgenstrahlen kombinieren.

Eine Schlange windet sich um zwei Tulpen.

Äskulapstab, koloriertes Konzept-Röntgenbild. Eine Schlange windet sich um zwei Tulpen.

Kürzlich erschien ein Bildband mit seinen Fotos und bis zum 8. April läuft im Naturkundemuseum in Rotterdam noch eine Ausstellung der Röntgenaufnahmen.

Bei Interesse an der Veröffentlichung des Bildmaterials bitte an die Science Photo Library wenden.

Ähnliche Artikel