15. Januar 2018 Lesezeit: ~22 Minuten

Route 66: Die Mutter aller Straßen

Die Mutter aller Straßen führt durch die Wüste. Die Rede ist von der Route 66 – für Menschen in der ganzen Welt ein magischer Begriff. Eine amerikanische Marke, könnte man sagen. Angefangen hat alles in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Die Route 66 gibt es offiziell seit 1926. Cyrus Stevens Avery wird zum „Vater der Route 66“, als er in den frühen 1920er Jahren den Auftrag erhält, ein Straßensystem für die Vereinigten Staaten zu entwerfen und auch bauen zu lassen.

Die wichtigste Straßenverbindung sollte von Chicago aus zum Pazifischen Ozean führen. Es gab schon einige Straßen wie den Santa Fe Trail oder die National Old Trails. Avery entschied sich für eine Streckenführung, die in etwa zwischen diesen beiden Routen verlaufen sollte. Diese Strecke wurde dann zur Route 66. Nicht in einem Rutsch, sondern nach und nach natürlich.

Eigentlich sollte die Straße Route 60 heißen, aber die gab es schon in Kentucky und Virginia. Es folgte ein längerer Streit zwischen den offiziellen Stellen dieser Staaten und der Kommission um Avery, die aber schließlich nachgab und so einigte man sich auf den Namen Route 66. Am Ende waren alle glücklich mit dieser Bezeichnung, denn 66 klingt einfach besser als 60 und macht irgendwie mehr her. Und es reimt sich schon schön auf „Kicks“ – aber das ist eine andere Geschichte.

Durch acht Bundesstaaten und drei Zeitzonen erstreckt sich die von John Steinbeck „Mother Road“, die Mutter aller Straßen, genannte Strecke. Sie hat im Laufe ihrer Geschichte viele Veränderungen des Streckenverlaufes gesehen, sogenannte „Alignments“, von denen viele heute kaum noch zu finden sind, weil sie ungebraucht von der Natur zurückerobert worden sind. „California or bust!“ – Ein regelrechter Schlachtruf für so unendlich viele Reisende auf ihrem Weg nach Westen. Die Route 66 ist die Straße ihrer Wahl, denn es gibt nicht viele andere Möglichkeiten.

Eine Straße mit Route66-Zeichen

Die Okies, wie die Angesiedelten aus Oklahoma genannt werden, und unzählige andere aus dem mittleren Westen, die in den 1930er Jahren der Dust Bowl entflohen, in der Hoffnung auf eine neue Heimat in den fruchtbaren Tälern des Westens; Jungtalente oder solche, die es einmal werden wollen, auf dem Weg nach Hollywood, die Filmgrößen jener Zeit immer vor Augen; Familien, die mit ihren Kindern von den Fun Parks in Los Angeles oder San Diego gelockt wurden oder von den rauen, aber wunderschönen Küsten im milden Klima. Es herrschte reger Betrieb auf der 66 in jenen Zeiten. Doch bevor die ersehnten Ziele erreicht wurden, galt es, die Wüste zu durchqueren.

Mag das für uns heute ein Klacks sein, für die Menschen der frühen Jahre war es das nicht. Die Automobiltechnik geriet an ihre Grenzen, schon die gerade hinter ihnen liegenden Black Mountains stellten hohe Anforderungen an die Vehikel der hoffnungsvollen Westreisenden. Nicht umsonst sprossen die Serviceeinrichtungen an der 66 wie Pilze aus dem Boden. In den 1950ern und 1960ern wurde es langsam besser, doch auch zu jener Zeit hauchte so manch bulliges V8-Triebwerk in den Bergen oder in der Wüste sein Leben aus. Und manchmal dauerte es lange, bis der Abschleppwagen kam. Sehr lange.

All das besorgt uns heute eher nicht mehr. Im klimatisierten SUV zockeln wir in gemütlichem Tempo durch die Hitze. Und die kann Rekorde erreichen, vor allem an unserem Ausgangspunkt. Needles gilt gemeinhin als die heißeste Stadt in Kalifornien. Werte über 100 °F sind die Regel, auch 115 °F erlebt man schon einmal, 2013 waren es sogar 123 °F – der bisherige Rekord. Beginnen wir unsere Reise also in diesem kleinen Wüstenstädtchen an der Grenze Kaliforniens zu Arizona.

Ein Motel-Schild an einer Straße

Unser erster Stopp ist das Route 66 Motel dort, wo die Broadway Street auf die Bahnlinie trifft. Ganze sechs Zimmer hat das kleine Motel, das in den Jahren 1946/47 erbaut wurde. Mit dem Bau der Interstates ging es auch hier bergab. In den 1990ern wurden die Zimmer nur noch für lange Zeiten vermietet, wie so oft in Motels, wenn das Tagesgeschäft brach liegt. Es ist aber mit Hilfe privater Gelder gelungen, die schöne Leuchtreklame im Jahr 2012 zu restaurieren. Übrigens steht das Motel ganz in der Nähe des historischen Carty’s Camp, in das die Familie Joad in John Fords Steinbeck-Verfilmung „Grapes of Wrath – Früchte des Zorns“ einzieht.

In Downtown Needles gibt es noch ein paar Wandbilder, alte Tankstellen und Leuchtreklamen anzuschauen, unter anderem das Sage Motel, das Le Brun Motel, das Best Motel und das River Valley Motor Inn. Falls jemand mit dem Gedanken spielt, in Needles zu übernachten, empfehlen wir das Fenders River Road Resort and Motel. Ein echtes Route-66-Business direkt am Ufer des Colorado. Es hat normale Motelzimmer, aber auch ein Apartment-Haus direkt am Fluss, von dessen Terrasse aus man einen schönen Blick auf den Colorado hat. Man kann schwimmen gehen. Rosie Ramos heißt die Besitzerin, die wir als nette und freundliche Gastgeberin kennengelernt haben.

Motelschild und Palme auf einem Betonplatz

Schatten einer Palme auf einem Betonhof

20 Meilen geht es jetzt durch die karge Landschaft – durch kaum wahrnehmbare Orte wie Bannock und Homer, bis wir Goffs erreichen – bzw. das, was davon übrig geblieben ist.

Eine Straße

Allerdings hat die Mojave Desert Heritage and Cultural Association die alte Schule sehr schön renoviert. Das auffällige Gebäude ist nicht zu übersehen, rundherum gibt es allerlei Altes zu bewundern. Autos, Bergbaugerät, Eisenbahnrelikte. Man kann das alles natürlich besichtigen. Über einem Tor im Ranch-Stil steht in großen Lettern „Study the Past“. Ein paar Holzlatten mit fotogenem Windrad dahinter verraten uns, wo wir sind: Goffs – California – Established 1883 – Elevation 2595 – Population 23. Eine Geisterstadt also, allerdings mit Museum.

Direkt am Bahnübergang steht die Ruine eines größeren Gebäudes, das einmal als General Store gedient hat. Man kann reingehen. Ein Witzbold hat in großen Lettern NO GAS aufgesprüht. Und unermüdlich passieren uns die endlos langen Güterzüge der BNSF (Burlington Northern and Santa Fe Railway).

Ein altes Haus

USA-Flagge auf einem alten Anhänger

Es geht weiter. Fenner heißt der nächste Stopp. Schon von weitem erkennt man die drei großen gelben Buchstaben in der Wüste, die eine Tankstelle signalisieren: G A S. Nicht ganz unwichtig in dieser Gegend und vor allem nicht ganz billig. Wohl dem, der in Needles noch aufgetankt hat. Najah’s Desert Oasis steht über dem Shop, der groß mit der Route 66 Reklame macht. Auch hier sind die Preise nicht ohne. Aber man muss ja nichts kaufen, so man genug Proviant und vor allem Wasser dabei hat. Eine kleine Oase gibt es auch, komplett mit Palmen und bronzierter Statue im Teich. Wer’s mag.

Zelte vor Palmen

In Essex hat das Post Office seine Flagge gehisst, eine Autowerkstatt scheint ebenfalls noch in Betrieb zu sein. Nicht so das Café, mit dem riesigen Saguaro davor, das für Good Food Werbung gemacht hat. Noch heute zu sehen. Aber leider auch die „No Trespassing“- und „No Parking“-Schilder. Die sind neu.

Ein altes Haus

Schriften an einer Wand

Trotzdem halten wir an, trauen uns ein paar Meter auf das Gelände. Niemand stört sich deran. Irgendwo da hinten ist bewohntes Gebiet. 50 oder 60 Menschen leben noch hier. Natürlich waren es einmal viel mehr, damals, als auch Essex ein Ort war, an dem die Route 66 ihre Reisenden hier anhalten ließ. Zum Tanken, zum Essen und Trinken. Auch zum Übernachten. Eigentlich erstaunlich, wie viele dieser kleinen Orte an diesem Wüstenabschnitt der 66 von der Straße leben konnten.

Eine große Werbetafel, von der Wüstensonne ausgeblichen, macht rostige Reklame für das Flamingo Hilton in Laughlin. Auf der Rückseite preist es Bier, Wein, Propangas und die Abschleppkünste des Garagenbesitzers an.

Ein ausgebleichtes Werbeschild am Straßenrand

Gegenüber steht noch ein weiteres verfallenes Gebäude. STAY AWAY prangte einst in großen Lettern auf den morschen Holzbalken. Wir halten uns daran, obwohl die Schrift bei unserem heutigen Besuch verschwunden ist. Wir fahren weiter durch die sonnenverbrannte Mojave-Wüste. Rechts an der Böschung begleiten uns zu Schriften zusammengelegte Steine. Alles Mögliche steht bzw. stand dort zu lesen, vor allem Namen. Irgendwer hat mal damit angefangen, viele machten es nach. Wobei das alles schon viele Jahre her ist. Die meisten Schriften sind inzwischen kaum noch lesbar.

Nach knapp neun Meilen erreichen wir eine alte Service Station mit einem auffälligen Wandbild, das wohl eine Szene aus dem Trapperleben darstellt. Daneben ein ausgedienter Ford Torino.

Ein altes Auto

Das ist Danby. Hier zweigt links die Danby Road ab, auf die wir jetzt abbiegen. Danby ist heute eine Geisterstadt, damals ein lebendiger Ort, damals, als die Route 66 genau dafür sorgte. Das Nest diente der Eisenbahn als Wassertankstelle, genau wie die anderen Tankstopps hier in der Gegend. Interessant ist die Namensgebung dieser Haltepunkte. Von West nach Ost sind die Orte in alphabetischer Reihenfolge benannt: Amboy, Bristol, Cadiz, Danby, Edison, Fenner und Goffs.

Zwei Meilen der Dirt Road müssen wir unter die Räder nehmen, um den Friedhof zu besuchen. Gräber in der Wüste. Unbekannt, von Sand und Staub halb zugeweht. Verwitterte Holzkreuze, Grabeinfassungen.

Reifenspuren im Sand

Kaputte Zäune

Ein weiterer Friedhof steht auf dem Programm – Amboy Cemetery. Es wird nicht der letzte heute sein. Man findet ihn recht leicht, wenn man direkt gegenüber von Roy’s auf die Old Amboy Road fährt. An der Kirche vorbei, dahinter links abbiegen und nach 400 Metern ist man da. 55 Gräber gibt es dort, acht davon außerhalb des von alten Holzpfählen eingefassten Karrees. An zwei der einfachen Holzkreuze erkennt man noch die Inschriften der Plaketten. Alle anderen Gräber geben nicht preis, wer dort bestattet wurde.

Friedhof mit Holzkreuzen

Die nächsten Ziele steuern wir im Morgengrauen an. Vor Sonnenaufgang geht es noch einmal nach Amboy und seinem Aushängeschild. Roy’s Café, die Tankstelle, das Motel und natürlich die große Leuchtreklame. Das Wetter spielt auch mit. Die ach so bekannte Leuchtreklame sieht beeindruckender aus in der Dunkelheit. Es ist nicht beleuchtet, die Röhren haben längst aufgehört, zu strahlen. Nur das Licht der Sterne fällt auf die Szene.

Werbeschild an einer Straße

Werfen wir einen Blick in die Geschichte Amboys, dieses seltsamen und ungewöhnlichen Ortes in der Mojave-Wüste: 20 Menschen sollen hier noch leben. Roy’s war einmal ein blühendes Unternehmen. Als Roy Crowl im Jahre 1938 die Tankstelle am Highway 66 in Amboy in Betrieb nam, war die Route 66 die wichtigste Ost-West-Verbindung in den USA. Damals wurde die Straße von ihrer ursprünglichen Streckenführung über Goffs zu ihrem jetzigen Verlauf umgeleitet, um eine direkte Verbindung von Needles nach Essex zu schaffen.

Und somit machte es Sinn, an dieser Stelle eine Tankstelle, zwei Jahre später ein Motel, bestehend aus kleinen Hütten, und schließlich 1945 ein Café zu eröffnen. Herman „Buster“ Burris, Crowls Schwiegersohn, steigt in das Geschäft ein und übernimmt schnell das Kommando bei Roy’s und auch in Amboy.

Ich hatte damals geplant, nur eine kurze Zeit hier in der Wüste zu bleiben, aber daraus wurde nichts. Ich mochte es dort und beschloss, zu bleiben. Zusätzlich zu den Hütten machte ich eine Reparaturwerkstatt auf und im Jahr 1945 das Café.1

Während des Krieges ging es weiter aufwärts mit Roy’s. Der Grund war die Armee, die in der Mojave-Wüste zahlreiche Manöver durchführte.

Wir hatten eine Menge militärischen Betrieb hier während des Krieges. Viele Angehörige der Armee, die überall in der Wüste Militärübungen abhielten, passierten Amboy in Konvois. Das war gut fürs Geschäft.1

Schilder

Mit seinem alten Studebaker Pick-up Truck bringt Buster das Benzin von Barstow nach Amboy. Auf dieselbe Art gelangen die Pfähle für Stromleitungen und Telefonkabel in das winzige Nest. Der richtige Boom beginnt in den Nachkriegsjahren, als die Nation mit ihren Altmobilen gen Westen aufbricht, neuen Landschaften und Abenteuern entgegen. Es gibt kaum Neukonstruktionen unter den Automobilen, die die Route 66 entlang fahren und so ist es kein Wunder, dass so mancher gerade hier in der heißen Wüste Kaliforniens mit seinem Gefährt liegen bleibt. Roys Werkstatt hat Hochkonjunktur.

Das wirkliche Geschäft an der Straße begann etwa um 1948. Nach dem Krieg waren meine Hütten ständig ausgebucht. Wir vermieteten sie Tag und Nacht. Wenn kein Zimmer mehr zu haben war, schliefen die Leute in ihren Autos. Das Café versorgte die Menschen mit Essen.

Außerdem hatten wir jede Menge Ersatzteile auf Lager, bis hin zu kompletten Motoren für die einzelnen Marken. Zwischen den späten 40ern und den frühen 70er Jahren war dieser Ort ein richtiges Tollhaus. Wir waren 24 Stunden am Tag geöffnet.

Ich hatte 90 Vollzeitmitarbeiter damals. Während der Saison im Sommer stieg diese Zahl auf 120. Wir hatten Kellnerinnen, Mechaniker, Zimmermädchen und Köche, die aus Oklahoma, Texas, Arizona und allen möglichen Orten im Land zu uns kamen. Man konnte meinen, dass die ganze Welt durch Amboy fuhr.1

Haus an einer Wüstenstraße

Im Jahr 1959 wurde das heutige Wahrzeichen errichtet, die weithin sichtbare Leuchtreklame. Zur gleichen Zeit entsteht die neue, moderne Motel-Rezeption, eine auffällige Konstruktion mit großem Dach über einer Glasfassade. Noch heute kann sie jeder bewundern und einen Blick ins Innere werfen. Dort hat man die Einrichtung im Stil der frühen 1960er Jahre belassen: der Counter, das Schlüsselbrett, Telefon und Rechenmaschine, ein Klavier und ein paar alte LPs.

Dann kam die Interstate. Und einmal mehr bedeutete sie das Ende für ein florierendes Geschäft.

Antikes Zimmer

Alte Rezeption

Der Cadiz Summit, der höchste Punkt entlang der Straße, wartet. Warum hält man hier eigentlich? Fakt ist, fast jeder hält hier – und das nur wegen ein paar völlig vergammelten Mauern und des so prächtig auf die Straße gemalten Route 66 Shields. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, man sieht aber schon das Licht über die Bergrücken krabbeln. Sonnenaufgang an einer ollen, mit Graffiti bekrakelten Ruine. Das hat was.

Cadiz Summit – da stehen die Reste eines ehemaligen Handelspostens mit Tankstelle auf einem Hügel an der Route 66. Schrott und Unrat drum herum. Es gibt Schöneres. Aber Cadiz ist irgendwie besonders. Auch wegen des großen 66-Zeichens auf der Straße – das macht so einen tollen Vordergrund! Mit den ersten Sonnenstrahlen wandelt sich die Szenerie.

Route-66-Schild auf der Straße aufgemalt

Eine Wand voller Graffiti

Hinter dem Gemäuer erhebt sich ein kleiner Hügel. Wir klettern hinauf. Hier oben befindet sich ein Grab, zumindest ein Kreuz. Was es genau damit auf sich hat, wissen wir nicht. Wir haben auch nirgendwo Hinweise gefunden. Man hat einen schönen Blick auf die Straße, die Ruine, die Berge. Den frühen Morgen komplett mit Sonnenaufgang. Das lohnt sich doch.

Eine alte Straße auf einer flachen Landschaft

Der Tag ist noch jung, gerade erst angebrochen, also fahren wir weiter. Das Licht muss genutzt werden. Nächster Stopp: Chambless. Dreieinhalb Meilen zurück nach Westen. Dauert nur ein paar Minuten. Dort halten auch alle an und knipsen das Roadrunner-Lodge-Schild. Das ist auch ein feines Motiv. Also lassen wir es natürlich nicht aus, genau wie die alte Tankstelle.

Werbeschilder an einer Straße

Aber man kann auch hinten herum fahren, die kleine Straße rein, zum stillgelegten Motel. Da stehen eine Menge Hütten im Rechteck um einen Hof herum. Hier muss einiges los gewesen sein, als die Unterkunft in den Glanzzeiten der Route 66 in vollem Betrieb war. Davon ist nichts mehr übrig, nichts bzw. fast nichts. Die leerstehenden Häuschen, die alte Leuchtreklame an der Straße. Roadrunner – was für ein passender Name hier.

Ein altes Blechschild, das da hinten im Wüstensand liegt. Express Diner steht drauf. Es wird nicht mehr gebraucht, wurde abmontiert. Schrott, nicht mehr. Und doch erzählt es von anderen, besseren Zeiten. Man muss es nur hören.

Schrott

Ein weiterer Friedhof befindet sich in Bagdad, nur sieben Meilen westlich von Amboy. Von der Ortschaft Bagdad ist nichts mehr übrig geblieben, lediglich ein einzelner Baum markiert die ungefähre Stelle der Siedlung. Der Friedhof liegt nördlich der Route 66. Um dorthin zu gelangen, müssen wir die Bahnlinie kreuzen und dann noch ein paar Meter in die Wüste hineinfahren.

Ein Baum in einer flachen Landschaft

Ein altes Holzkreuz in der Wüste

Bagdad selbst geht auf das Jahr 1883 zurück, als die kleine Ansiedlung von Beschäftigten der hier entlang führenden Eisenbahnlinie nach der Hauptstadt des Irak benannt wurde. Warum man sich diesen Namen ausgedacht hat, ist uns nicht bekannt. Bis in die 1930er hielten die Bahnlinie, die Route 66 und die nahe gelegenen Gold-und Silberminen Bagdad am Leben. Es gab Hotels, Saloons, Geschäfte, den Bahnhof und sogar ein Harvey House Restaurant.

Zehn Jahre später zeugen nur noch das Bahndepot, eine Tankstelle, ein paar Hütten für Übernachtungsgäste und das Bagdad Café von besseren Zeiten. 20 Menschen wohnten noch in Bagdad – es waren immerhin einige Hundert zu den Glanzzeiten des Städtchens. Einer davon, Paul Limon, der später in Cadiz, ein paar Meilen entfernt, lebte, erzählt über das Bagdad der 1940er und 1950er Jahre:

Bagdad war ein lebhafter kleiner Ort. Die Leute kamen aus der ganzen Region wegen des Bagdad Cafes hierher, das damals von einer Dame namens Alice Lawrence betrieben wurde. Das Cafe war weit und breit der einzige Ort mit Tanzboden und Juke Box und deshalb sehr beliebt. Wenn ich heute über den Krieg am Persischen Golf höre und Bagdad erwähnt wird, denke ich zurück an Bagdad, Kalifornien, und die tolle Zeit, die ich dort hatte. Andauernd hielten überhitzende Autos an, um Wasser aufzufüllen. Die Autos jener Zeit kochten sehr häufig. Und viele der Insassen gingen dann im Bagdad Cafe zum Essen.2

Die endlos langen Güterzüge der BNSF rumpeln wie eh und je hier entlang. Ihr laut dröhnendes Getute zerschneidet die Stille der Mojave-Wüste. Hier am Friedhof ist der Straßenverkehr auf der 66 nicht zu hören, lediglich der heiße Wüstenwind umstreicht leise die gerade einmal 18 Grabkreuze, deren Inschriften längst verblasst sind.

Ein Zug in der Wüste

Noch einmal sieben Meilen in westlicher Richtung sind es bis zum nächsten Friedhof und den letzten Überresten eines kleinen Ortes namens Siberia. Das „Ortsschild“, direkt an der 66, kommt als alter Traktorreifen daher, auf den „West Siberia“ gepinselt wurde. Wir wissen nicht, warum man diesen Flecken, der seine Existenz ebenfalls der Eisenbahnlinie zu verdanken hat, nach einer so extrem kalten Gegend dieser Welt benannt hat. Liegt er doch mitten in der Mojave-Wüste mit Temperaturen, von denen man in Sibirien nur träumen kann.

Wie auch immer, der Name bezeichnet diesen heute so unwirklich erscheinenden Ort, wo in den 1930er und 1940er Jahren so manches Motel, so manches Diner und sicher auch die obligatorische Tankstelle den Reisenden auf der Mother Road eine Übernachtung oder die Reparatur ihrer hechelnden Mobile möglich machten. Drei Gräber sind alles, was vom Friedhof übrig geblieben ist, kaum noch zu erkennen.

Auch sie werden bald von der Wüste verschluckt werden, genau wie die Ruinen der Gebäude, die hier einst die Einöde belebten. Ein bisschen gespenstisch sind sie schon, die kleinen Friedhöfe am Geisterstadt-Streifen hier in der Mojave-Wüste. Irgendwann müssen wir dort mal im Morgengrauen hin.

Ein Autoreifen in der Wüste

Und jetzt wird es langsam Zeit fürs Frühstück. Die zwölf Meilen bis Ludlow sind schnell geschafft. Dort, im Ludlow Café, bekommt man Reichhaltiges. Rustikal ist es hier, ein paar schräge Typen mit langen Bärten sitzen am Nebentisch. Truck Driver vielleicht? Egal, die Bedienung ist recht emsig, wenn auch nicht sehr gesprächig. Die Pause tut gut.

Ein Schild in der Wüste mit einem Truck in der Ferne

Ein Auto mit Ladefläche

Ludlow ist auch so ein Fall. Eine Chevron-Tankstelle, die gute Geschäfte macht, denn sie liegt direkt an der Ausfahrt der Interstate, das Café und ein Motel, das tatsächlich noch in Betrieb ist. Das ist eigentlich alles, was von diesem Städtchen an der 66 noch zu sehen ist. Ab hier übernimmt wieder die Interstate den Weg nach Westen. Die Bahnlinie natürlich, sie führt geradewegs durch die Reste des Ortes, die komplett aus Häuserruinen bestehen. Alles verfallen und verlassen.

Dazwischen überall Schrott, diesseits und jenseits der Schienen, die wir zu Fuß überqueren, um die dort hinten sichtbaren Autowracks näher in Augenschein zu nehmen. Schön aufgereiht stehen sie da, die vom Rost zerfressenen und verbeulten Reste von Chevrolet, Plymouth, Pontiac und Konsorten.

Auch hier gibt es einen Friedhof. Ein paar Schritte hinter dem Schrottplatz. Namenlose Gräber hinter einem verrosteten Zaun. Man kann auf dem Gelände überall herum laufen, kein Problem. Aber dabei auf rostigen Schrott, Glasscherben und – ja! – Klapperschlangen aufpassen!

Bahngleise

Ein Autowrack durch ein altes Autofenster

In ganz frühen Jahren hat man hier mal Gold gefunden, nicht genug allerdings, um die Stadt am Leben zu erhalten. Um 1900 herum war Schluss. Dann kam die 66, es ging wieder aufwärts. Mit dem Bau der Interstate starb die Stadt zum zweiten Mal. Fast, denn eigentlich hat Ludlow bis heute überlebt. Die ganze Ansiedlung gehört einer einzigen Familie. Die Urlaubsgäste, die Interstate – das reicht, um diesen Ort halbwegs am Laufen zu halten.

Ein Stück Route 66, ein Stück Amerika, ein Stück Wüste. Es lohnt sich.

Quellen

1 „Route 66 – The Mother Road“ von Michael Wallis

2 Charles Hillinger, Los Angeles Times, Januar 1991

Ähnliche Artikel