Ansicht von explodierenden Feuerwerkskörpern vor schwarzem Grund.
31. Oktober 2017 Lesezeit: ~5 Minuten

Anthony Prevost – The Black Box

Im Mai 1940 nahmen die Nazis die nördliche Stadt Lille in Frankreich ein und bombardierten einige Teile der Stadt, bevor sie ihre Truppen hineinschickten. Eines der Häuser, die während der Luftangriffe getroffen wurden, war das Familienhaus meiner Großmutter, die damals 13 Jahre alt war. Die deutschen Soldaten brachten sie in ein provisorisches Krankenhaus, wo sie einige Tage allein warten musste, bis man ihr das rechte Bein amputierte.

Nahaufnahme einer Hand, die einen Auslöser drückt.

Historisches Passfoto in schwarzweiß mit unkenntlich ausradiertem Gesicht.Alter Zeitungsausschnitt auf schimmerndem Stoff.

Die Vorstädte von Lille sollten in den nächsten Jahren noch weitere Bombenanschläge erleiden, die dieses Mal von den Alliierten ausgingen. Es gibt nur sehr wenig, was ich über meinen Großvater weiß, ich habe ihn nur wenige Male gesehen. Eines der Dinge, die mir erzählt wurden, ist, dass er damals im Krieg Pilot war. Dies führte zu belastenden Erinnerungen, die während Fieber-Episoden verbalisiert wurden, als er älter wurde.

2015 fand ich auf einem Flohmarkt in der Nähe von London etwa 200 Negative, verstaut in einer schwarzen Metallkiste. Die ersten Bilder, die ich sah, waren das Portrait einer Frau und ein Schnappschuss von Soldaten, die vor einem Flugzeug der Royal Air Force stehen. Auf der Grundlage von Archivmaterialien spielt „The Black Box (2015–16)“ sowohl auf das Gedächtnis als auch auf die Geschichte an und erfragt das gemeinsame System der Repräsentation und Beziehung zur Wahrheit.

Medizinisches Fläschchen vor schwarzem Grund.Historische verwackelte Schwarzweißfotografie.

Über den Prozess

Das Projekt „The Black Box“ spielt auf Erinnerung und Geschichte an und hinterfragt ihre Wahrhaftigkeit durch die Zusammenstellung von Kriegsbildern, auf denen Menschen, Orte und Objekte zu sehen sind. „The Black Box“ basiert auf dem Fund der Metallkiste auf besagtem Flohmarkt. Zuerst war es die Kiste selbst, die mich faszinierte und als ich darin Negative fand, war meine Freude und Aufregung noch viel größer. Auf ihnen zeigten sich RAF-Soldat*innen und -Mitarbeiter*innen, Flugzeuge, Fahrzeuge und Landschaften.

Dunkle Abbildung eines Flugkörpers auf Papier.

Alter Zeitungsausschnitt auf schimmerndem Stoff.Dunkle Aufnahme einer jungen Frau mit historischem Touch.

Ursprünglich wollte ich die Kiste selbst für ein Projekt nutzen, da ich noch nie mit Archiven gearbeitet hatte und dies eigentlich auch nicht wollte. Während ich jedoch die Bilder langsam erforschte und digitalisierte, spürte ich, wie diese verbunden sein könnten mit meiner eigenen fotografischen Nachforschung. Damals lag mein Interesse hauptsächlich auf Fragen der Wahrnehmung und Darstellung der Welt, vor allem durch die Verwendung von Bildern.

Die Zeitspanne des Zweiten Weltkriegs ist wahrscheinlich bekannt als einer der eindeutigsten Konflikte im Hinblick auf die Art der Rechtfertigung, mit seinen Flächenbombardements auf deutsche Städte seitens der Royal Air Force und United States Air Force (mit rund 600.000 Opfern, den meisten davon Zivilist*innen). Er war von Beginn an eine Quelle intensiver Kontroversen, Verleugnungen und Amnesie seitens der Politik und der Öffentlichkeit.

Sich um die Themen Krieg, Schuld, Trauma, Flucht und Amnesie entfaltend, führt diese Arbeit zu einem Zustand von Unsicherheit, der schließlich unsere eigenen Schwierigkeiten im Verständnis widerspiegelt – nicht nur der Vergangenheit gegenüber, sondern auch bei gegenwärtigen Konflikten.

Historische Fotografie mit zwei Personen in edler Kleidung an einem Geländer lehnend, deren Gesichter unkenntlich sind.

Alte Schwarzweißfotografie zweier sonnenbadender Frauen in einem Waldstück.Abbildung einer Flugmaschine vor schwarzem Grund.

Es dauerte nicht lange, bis ich die Verbindung zwischen meiner eigenen Erfahrung von Wahrnehmung sah und der Repräsentation eines fiktiven Charakters auf der Grundlage dessen, was ich selbst in den Bildern sehen konnte. Und wie sehr unser Verständnis von der Vergangenheit auf dieser Repräsentation basiert: Hollywood-Filmen, Fotoarchiven, Denkmälern usw. Ich habe mich daher entschlossen, das gefundene Archiv als Grundlage für ein neues Projekt zu verwenden.

Von Beginn an wusste ich, dass ich auch meine eigenen Bilder einbinden wollte, anstatt nur mit den gefunden Bildern zu arbeiten. Mit dieser Idee im Hinterkopf begann ich, die Arbeit als eine Mischung von Fiktion und Realität auszurichten. Jedoch waren die ersten Monate sehr schwierig im Hinblick auf die Arbeit mit dem Archiv. Denn schon im Allgemeinen sind die Bilder an sich sehr inhaltsgeladen und haben eine sehr eigene Ästhetik (es ist leicht zu sehen, dass sie von einer einzelnen Person stammen), somit hatte ich Schwierigkeiten, eigene Bilder zu erstellen, die sich einfügen, ohne übertrieben oder künstlich zu wirken.

Nachtansicht auf ein leicht beschienenes Meer.

Ansicht von explodierenden Feuerwerkskörpern vor schwarzem Grund.Eine Rückansicht einer beinahe nackten, jungen Frau in einem Fotostudio.

Mir wurde dann geraten, meinen fotografischen Prozess zu „entprofessionalisieren“, denn die meisten meiner Bilder waren zu „perfekt“. An diesem Punkt beschloss ich, eine Kamera aus den 1940er Jahren zu benutzen und Beleuchtung und Positionierung im Bild zu überdenken. Indem ich Farbfotografien und abstraktere Elemente einband, „produzierte“ ich Bilder, die der*die eigentliche Fotograf*in später hätte gemacht haben können, wenn zum Beispiel Farbfilme besser erhältlich gewesen wären.

Natürlich hatte ich auch den Gedanken im Kopf, dass auch der fotografische Stil sich entwickelt oder verändert hätte. Zwei Farben erhielten eine besondere Rolle in der Arbeit: blau und rot. Erstere Farbe ist verbunden mit der Spannung eines bevorstehenden traumatischen Ereignisses und die nachstehende Farbe bezieht sich meist auf ein tatsächliches Geschehen.

Auf diese Art war ich in der Lage, die Vorstellung des Gezeigten anzusprechen in Bezug auf ein kollektives Gedächtnis dieser Zeit. Die meisten neuen Bilder repräsentieren traumatische Ereignisse der Vergangenheit durch den Akt des Nachstellens und durch das Erstellen assoziativer Inhalte. Der Akt des Fotografierens beispielsweise ist gemeinhin auch mit dem des Ballastabwerfens verbunden.

Dieser Text wurde von Katja und Tabea für Euch aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Der Artikel zeigt nicht die vollständige Arbeit – diese findet Ihr auf der Webseite von Anthony Prevost.