26. Juni 2017 Lesezeit: ~15 Minuten

Wie ein Zanskarjunge Fotograf wurde

Skarma Rinchen wurde 1963 als drittes von zwölf Kindern im kleinen Dorf Youlang auf 3.600 m in der Region Zanskar im indischen Himalaya geboren. Das tibetisch-buddhistische Zanskar hatte bis 1987 keinen Straßenanschluss und galt als eine der abgeschiedensten Regionen Indiens. Wenn der Dalai Lama heute Zanskar oder Ladakh besucht, ist Skarma Rinchen sein lokaler Erstfotograf. Wie es dazu kam, erzählte er mir bei mehreren Tassen Milchtee im Studio über seinem Fotoladen. Ein Interview.

Der Gasofen bullert und trotzt den ladakhischen Wintertemperaturen von -10 °C. Skarma Rinchen hat seine langen Beine davor ausgestreckt. Neben ihm auf dem Schreibtisch prunkt der Apple-Bildschirm, daneben herrscht das Chaos diverser Filmkassetten, Festplatten und Fotoschnipsel. Er seufzt: „Ordnung ist nicht meine Stärke. Ich habe so viel Material, das alles archiviert werden müsste. Hunderttausende Negative aus den 80er Jahren sind noch ungescannt. 2 % davon habe ich vielleicht digitalisiert. Guck mal hier.“

Ich werfe einen Blick auf Portraitaufnahmen, die in den 1940ern oder auch vor 200 Jahren hätten entstanden sein können. Ladakhis und Zanskaris haben sich in ihre schönste Tracht gekleidet und sind zum örtlichen Fotografen gegangen, haben sich in den Schatten vor seinem kleinen Fotoladen vor eine Stoffbahn gesetzt, eine feierliche Miene aufgesetzt und wurden auf Mittelformat abgelichtet.

Frauenportrait

Männerportrait

Einige tragen abgetragene Alltagskleidung – sie brauchten nur ein Passbild. Auch sie schauen genauso ernst in die Kamera. „Das war mein Studio“, lacht Skarma.

„Wir hatten ja kaum Strom für Lampen. Tagsüber gab es keinen Strom, abends auch nur manchmal. Aber das Schattenlicht war sehr angenehm für die Portraits. Wir haben dann die Filme gesammelt und bei Kerzenschein in der Dunkelkammer entwickelt. Alles nach Gefühl. Der Vergrößerer brauchte Strom, aber sonst haben wir alles ohne gemacht und improvisiert.

Den Film haben wir in einer Wanne entwickelt, die Temperatur mit dem Finger gemessen, die Zeit abgezählt, je nach Alter und Typ der Chemikalie. Ich hatte eine Yashica Box für die Passfotos und manchmal habe ich damit auch Veranstaltungen wie Hochzeiten oder Einweihungen fotografiert.“

Ein Mann und eine Frau

Zwei Frauen in Trachten

Der kleine Fotoladen ist inzwischen voll digitalisiert. Durch eine Nebentür die Treppe hinauf gelangt man in das Studio von Skarma Rinchen, ein Raum voller Softboxen und anderer moderner Fototechnik. Hier sitzen wir und unterhalten uns. Ich frage: „Skarma, wie bist Du überhaupt Fotograf geworden?“ Er entgegnet: „Hast Du Zeit? Es ist eine lange Geschichte.“ „Wir haben ja Winter, das ist eine gute Zeit für Geschichten. Erzähl bitte!“ Er gießt den zweiten Milchtee ein und legt los.

„Ich wurde 1963 als drittes von zwölf Kindern in Youlang in Zanskar geboren. Meine Mutter war eine starke Bauersfrau, mein Vater als Amchi (Arzt der tibetischen Medizin) ein angesehener Mann. Im Nebenort Karsha gab es eine staatliche Schule, auf die ging ich von Klasse eins bis fünf. Mein Vater war unterdessen in der Hauptstadt Ladakhs, Leh, wo er hörte, dass sich Kinder aus entlegenen Gebieten für ein Stipendium beim Central Institute for Buddhist Studies (CIBS) bewerben konnten. Er füllte den Antrag für mich aus und ich wurde genommen.

So machte ich mich mit befreundeten Händlern auf den langen Fußmarsch auf. Die Straße nach Zanskar wurde erst 1987 gebaut, davor mussten wir immer viele Tage zu Fuß gehen. Die Regierung gab mir damals 60 Rupies (heute 90 Cents), 50 Rs musste ich für das Internat zahlen, 10 Rs waren mein Taschengeld. Zu meiner Familie hatte ich keinen richtigen Kontakt, es gab keine Telefone und in den langen Winterferien war Zanskar eingeschneit.

Männer sehen durch eine Kamera

Als ich größer wurde, wurde es mit dem Geld ein wenig schwieriger und ich wollte gern in den Winterferien arbeiten. Ein Freund besorgte mir dann einen Job in einem Fotoladen in Leh. Ich hatte zwar keine verantwortungsvollen Aufgaben, aber ich mochte die Arbeit. Eines Tages kam unser damaliger politischer zanskarischer Führer, der König von Zangla, in den Laden, um ein Foto machen zu lassen.

Er entdeckte mich und war erfreut, einen Zanskari zu treffen. Er fragte mich, ob mich die Fotografie interessiere und ob ich mehr lernen wolle. Das bejahte ich natürlich und er stellte mir in Delhi einen Fotoladen in Aussicht, wo er mich unterbringen könne. Ich müsste nur noch dahin kommen.

Ich war begeistert! Was für eine Chance! Vom König! Allerdings war das, was heute so einfach klingt, eine immense Herausforderung für einen jungen unwissenden Burschen wie mich. Es gab damals keine zivile Flugverbindung; man musste sich beim Militär um einen Sitzplatz bemühen und das kostete auch nicht wenig Geld: 250 Rs! Die hatte ich nicht, dafür ein bisschen Glück. Ich traf einen Händler aus unserem Dorf, der bereit war, mir 300 Rs zu leihen mit der Zusage, es entweder von mir selbst oder meinem respektierten Vater zurück zu bekommen.

Der König war schon nach Delhi aufgebrochen und ich ging ständig zum Flughafen, um mich für einen Sitz zu bewerben. Endlich klappte es! Ich hörte mit der Schule auf, zog meine beste Goncha (das traditionelle Gewand) an und flog los. Wir landeten in Ambala (bei Chandigarh, 200 km von Delhi entfernt). Ich hatte keine Ahnung, wo das ist. Und wo Delhi ist. Aber freundliche Leute brachten mich zum Bushof und dort rief auch schon ein Fahrer Delhi aus. Ich stieg ein und als er hielt, stieg ich mit allen Leuten aus.

Ein Mann mit Pferd

Es waren so viele große Häuser zu sehen, ich dachte ich sei in Delhi und wollte loslaufen. Aber die anderen Leute lachten, es war nur ein Essensstopp. Ich habe mich aber nicht getraut, Essen zu kaufen. Ich hatte ja nicht so viel Geld dabei. Wir fuhren weiter und irgendwann abends waren wir in Delhi.

Die Rikschafahrer wussten wegen meiner Goncha sofort, wo ich hinwollte: nach Bodh Vihar, wo die ganzen Ladakhis, Zanskaris usw. sind. Einer fuhr mich für 2 Rs hin und da waren endlich wieder Leute, die wie ich aussahen. Und sogar einer aus Zanskar, den ich kannte. Bei dem konnte ich schlafen und er zeigte mir auch, wo es etwas zu essen gab, was gar nicht so teuer war. Ich war so hungrig, dass ich gleich zwei Portionen Nudeln verdrückt habe!“

„Wie alt warst Du denn da eigentlich?“ Skarma überlegt hin und her, wirft Jahreszahlen in den Raum, Altersangaben, aber nichts passt so recht zusammen. Bei seinem Geburtsjahr ist er sich ganz sicher, alles andere bringt er durcheinander. In Zanskar legte man keinen Wert auf akkurate Jahresaufzeichnungen, selbst der Geburtstag ist nur von wenigen registriert worden. Er erzählt weiter:

„Nach einigen Tagen hatte ich den König gefunden und er brachte mich zu dem Fotoladen in Lajpat Nagar im Süden Delhis. Allerdings brauchten sie eher einen Jungen für alles, als dass sie mir Fotografie beibringen wollten. Ich musste um 5 Uhr morgens aufstehen, sauber machen, Tee kochen, in der Küche helfen und bis Mitternacht arbeiten.

Nach sechs Monaten durfte ich dann endlich in den Laden, wo ich Abzüge beschnitt. Und nach einem weiteren halben Jahr bekam ich Handlangerarbeiten in der Dunkelkammer. Da ich mich in der Dunkelkammer geschickt anstellte, durfte ich da bald eigenständig arbeiten und auch einige Portraits im Studio erstellen. Ich blieb drei Jahre.

Ein Männerportrait

Zwei Männer mit Hüten

Mit circa 20 Jahren ging ich zurück nach Ladakh. Eine Kamera hatte ich nicht und wusste auch sonst nicht genau weiter. Ich fuhr erst einmal zu meinen Eltern nach Zanskar. Da waren gerade zwei Touristen, die Träger für einen Trek nach Lamayuru suchten. Ich meldete mich, hob das zugedachte Gepäck an und meinte, ich würde es schaffen. 60 Rs – pro Tag! – wollten sie zahlen.

Aber ich hatte mich überschätzt, die 50 kg schleppte ich nur bis Pishu, danach heuerten sie einen Zusatzmann an, mit dem ich mir das Gewicht und den Lohn teilte. Es gab noch weitere Gelegenheiten, mit Trekking gutes Geld zu verdienen, und im Winter arbeitete ich zusätzlich für 300 Rs im Monat im Fotoladen. Nun konnte ich Geld zur Seite legen.

1986 hatte ich 20.000 Rs zusammen und sprang ins kalte Wasser. Ich kaufte die Yashica Box und mietete einen Laden in einer Hintergasse. Ich machte Portraitaufnahmen, fotografierte bei Veranstaltungen, entwickelte und belichtete die Bilder. Nach zwei Jahren konnte ich mir eine Kleinbildkamera leisten, eine Nikon F2, damit wurde die Fotografie etwas günstiger. Papier und Chemie musste ich in Delhi bestellen. Bilder aus der Zeit hast Du ja gesehen. Ich liebe die alten Bilder. Ich sammle auch welche. Guck mal hier.“

Auf seinem Monitor erscheinen Bilder von Hannah Price aus dem Jahre 1932 und Scans von Paul Fleurys Kaschmir-Album von 1908. „Wie kommst Du denn an die? Das ist ja unglaubliches Material!“, rufe ich begeistert. Skarma grinst: „Ich habe sie eingetauscht. Aber ich darf sie nicht veröffentlichen, nur Drucke in mein Schaufenster hängen. Oder die Leute müssen sich zu mir an den Computer setzen und gucken – so wie Du jetzt.“

Meine Blicke wandern durch sein Studio über großformatige Ausdrucke von Landschaften in dramatischem Licht, Szenen von Leuten bei der Feldarbeit, unterschiedlichste Gesichter und farbenfrohe Zeremonien. „Hast Du eigentlich nur so geschäftlich fotografiert oder auch eine private Leidenschaft entwickelt?“

Ein Mann im Rauch

„Ich mag gerne die Zeit festhalten; Zeitdokumente herstellen. Ich bekam von der Regierung einen Job zugeteilt, die ganzen Monumente, Malereien, Zeichnungen usw. aufzunehmen, damit uns visuell nichts verloren geht. Das kam meinem privaten Interesse sehr entgegen. Und ich liebe Gesichter und Menschen. Ich möchte die alten Traditionen aufzeichnen. Eine optische Erinnerung für Ladakh und Zanskar entwickeln.

Aber da gibt es jetzt nicht mehr so viele Menschen, die sich traditionell kleiden. In den letzten Jahren habe ich mehr Interesse für die Natur- und Tierfotografie entwickelt. Aber Tiere sind schwierig, sie halten ja nicht still, sondern verstecken sich lieber.

Eine Zeremonie in bunten Gewändern

Am Anfang war die Fotografie nur eine gute Art, Geld zu verdienen. Aber ich unterhielt mich öfter mit meinen Kollegen wie Ali Shah oder diskutierte mit Europäern. Dadurch bildete ich mein Auge und meine Technik weiter aus. Ich verstand die Zusammenhänge von Licht, Standpunkt und Bildausschnitt. Es kamen auch manchmal indische Fotografen oder andere Fotogruppen, die nach speziellen Örtlichkeiten fragten. Mit denen besprach ich mich ebenfalls gern.

Und dann gab es einmal einen Deutschen. Ich glaube, er war ein Profi, er wusste sehr viel. Er blieb länger in Ladakh und nutzte einen Monat meine Dunkelkammer. Ich erinnere mich aber einfach nicht mehr, wie er hieß. Er hat mir Papier und Chemie gebracht und schenkte mir einen ganzen Sack voller Kodak-32-ASA-Filme! Auch die anderen waren nett zu mir und schenkten mir Material, gaben mir gebrauchte Kameras.“

„Und so ging das dann immer weiter?“, frage ich interessiert.

„Ja, außer dass ich immer ein wenig Mühe hatte, genügend Geld zu verdienen. Mitte der 1980er fragte mich jemand, ob ich ein Zimmer für eine ältere deutsche Dame arrangieren könne. Das tat ich und auf ihrem Rückweg in Leh lernte ich sie kennen und wir befreundeten uns. Das war Marianne Athenstaedt, eine bewundernswerte Frau, die vor Ideen sprühte und uns Zanskaris helfen wollte. Wir befreundeten uns, schrieben Briefe, besuchten gemeinsam Zanskar und sie sponserte meine beiden Kinder.

Ein Mann mit Kerze

Für mich hatte sie die Idee, dass ich, da ich auch ein guter Koch bin, doch auf der Hinterseite meines Fotoladens ein Restaurant eröffnen solle. Ich tat, wie sie es sich dachte, aber gut kochen und ein erfolgreiches Restaurant betreiben sind dann doch zwei verschiedene Paar Schuhe. Ich stellte den Betrieb schnell wieder ein. Ich bin sehr technikinteressiert und wenn ich etwas Geld in der Tasche habe, gebe ich es schnell wieder für neue Ausrüstung aus.

2007 bin ich auf die Digitalfotografie umgestiegen. Ich bekam eine Nikon D70 von einem Freund aus Großbritannien geschenkt. 2010 rüstete ich mit einer gebrauchten Canon D5 auf und durch meinen Archivierungsfotojob hatte ich so viel Geld, dass ich mir 2011 eine Canon D5 Mark II leisten konnte.

Heute verdiene ich mein Geld hauptsächlich mit dem Fotoladen, wo wir den Leuten Passbilder, Abzüge und ein bisschen Material verkaufen. Aber ich verkaufe auch meine Fotos für Broschüren, Kalender, Webseiten usw. Mit den Jahren stieg nicht nur mein Ausrüstungsanspruch, sondern auch mein Anspruch an meine Bilder. Ich bin nie ganz zufrieden mit meinen Ergebnissen und sehr selbstkritisch. Es gibt noch kein Foto, das ich als ‚mein bestes‘ bezeichnen würde – ich bemühe mich bei jedem Fototermin, so eins zu fotografieren.“

Dalai Lama

„Mein bestes Foto liegt also noch vor mir. Vielleicht fange ich es auf unserer Fotoreise zusammen mit den Teilnehmenden ein?“ Da blinzelt wieder das schelmische Lachen aus seinen Augen hervor. „Im Schaufenster hängt ja ganz groß ein Bild vom Dalai Lama mit Autogramm, hast Du das auch gemacht?“

„Ja, immer wenn der Dalai Lama in Zanskar oder Ladakh ist, fotografiere ich ihn. Das fing 1988 an, als er die Kalachakra-Zeremonie in Zanskar abhielt. Ich war der einzige lokale Fotograf dort und ganz dicht bei ihm. Da kommen mein Glaube, meine Verehrung und meine Leidenschaft zusammen.

Anders als in dieser Funktion wäre ich seiner Heiligkeit nicht so nah gekommen. Ich war gleichzeitig geehrt, überwältigt und wahnsinnig aufgeregt. Aber diese Bilder waren nicht für die Langlebigkeit bestimmt. Die Negative sind verschwunden… Meine Lektion in Vergänglichkeit. Man kann versuchen, etwas festzuhalten, aber es ist alles der Vergänglichkeit unterworfen. Auch die Fotografie.“

Ein Mann steht in einer Ladentür

Skarma vor seinem Laden

Anmerkungen

Paul Fleurys Kaschmir-Album wird diskutiert im Buch „Photography’s Orientalism: New Essays on Colonial Representation“ , herausgegeben von Ali Behdad und Luke Sartian.

Skarma Rinchen erinnert sich nicht mehr an den Namen des deutschen Fotografen, der etwa 1989 einen Monat lang seine Dunkelkammer mitbenutzte. Wahrscheinlich lebt er nicht mehr. Seiner Schätzung nach war er damals um die 70 Jahre alt. Aber vielleicht liest das jemand und weiß, um wen es sich handeln könnte. Wir bitten um Kontaktaufnahme.

Marianne Athenstaedt gründete die Athenstaedt-Stiftung, die eine Schule und ein Handwerksausbildungszentrum in der Nähe von Karsha unterstützt. Ihr Gedanke, die Zanskaris in ihrer eigenen Region zu Ausbildung und höherem Lebensstandard zu verhelfen, wird auch nach ihrem Tod 2004 weitergeführt.