03. Mai 2017 Lesezeit: ~12 Minuten

Die Seele Santiagos

Am 16. August 2016 stieg ich in Düsseldorf in ein Flugzeug, das mich 12.500 Kilometer weit weg, auf die andere Erdhalbkugel, weg vom deutschen Sommer, in den chilenischen, gar nicht mal so kalten, Winter bringen sollte. Während der darauffolgenden knapp sechs Monate, die ich dort verbringen durfte, lernte ich das Land kennen und lieben, ich lernte eine neue Sprache, reiste viel und traf sehr interessante Menschen.

In den folgenden Zeilen möchte ich Euch auch auf Reise nach Südamerika mitnehmen und Euch in vier Selbstvorstellungen Fotograf*innen aus Chile ans Herz legen. Falls Ihr mehr erfahren wollt, schaut doch mal auf soulofstreet.de vorbei, dort könnt Ihr die komplette Ausgabe #10 und weitere Ausgaben von Soul of Street lesen.

 

Der Schattenjäger – Eric Mankacen

Als ich noch Pädagogik und Mathematik studierte, zog ich in ein Viertel in Santiagos Innenstadt, um näher an der Universität zu wohnen. Dort hatte ich einen Einsiedler als Nachbarn, verrückt, nicht? Du weißt schon, Leute, die viel lesen, sich einschließen und ihr Haus nie verlassen.

In seiner Wohnung stapelten sich Berge aus Büchern und er war auch ein Fan der Fotografie. So wurden wir schnell Freunde und er kam mich immer häufiger besuchen, um meine Arbeit zu betrachten. Als wir in einer Nacht etwas tranken und die Bilder meiner letzten Reise betrachteten, fragte ich ihn aus Spaß nach einem Künstlernamen für mich.

Ein Mensch läuft durche eine Allee

Kinder spielen in Springbrunnen

In weniger als einer Minute nannte er mir beeindruckenderweise den Namen „Mankacen“ und ich antworte ihm: „Was zur Hölle ist das?“ Also erzählte er mir die Geschichte der Selk’nam, einem massakrierten Volksstamm aus Feuerland.

Dieser Volksstamm erhielt eines Tages Besuch von einem Priester, der sie ethnologisch untersuchen wollte. Der Priester hatte eine Kamera dabei und als der Stamm realisierte, was diese Kiste war, nannten sie ihn „Mankacen“, was in der Sprache Kawesqar so viel wie „Schattenjäger“ bedeutet.

Schatten auf der StraßeSchatten auf der Straße

So wie die Indianerstämme glaubten, dass ihre Seelen durch Fotos gestohlen würden, so glaubten die Selk’nam, dass Fotos ihre Schatten stehlen. Seitdem bin ich auf diesen Künstlernamen getauft, vor allem auch, weil meine Arbeit dunkel ist. Du wirst merken, dass ich nicht nach Grau in meinen Bildern suche, ich suche nach dem Schwarz und dem Weiß in jedem Bild.

Eric Mankacen ist ein ehemaliger Mathematiklehrer, der vor drei Jahren für seine Leidenschaft, die Fotografie, alles auf eine Karte gesetzt hat und seitdem sehr erfolgreich damit ist. Zu finden sind seine Arbeiten auch auf Instagram, Tumblr und Twitter.

 

Paulas Weg zur Fotografie – Paula Navarro

Ich glaube, Fotografie war immer Teil meines Lebens, anfangs jedoch in einer metaphorischen und unbewussten Art und Weise. Damit meine ich, dass wir seit unserer Kindheit Erinnerungen in unserem Gedächtnis aufnehmen und während wir älter werden, immer wieder zu ihnen zurückkehren – was auch immer die Motivation dafür ist.

Letztendlich wurde ich aber durch meine Tante an die Fotografie herangeführt. Sie war das einzige Familienmitglied, das eine – damals noch analoge – Kamera besaß und daher dafür zuständig war, alle besonderen Ereignisse in der Familie zu dokumentieren, wie zum Beispiel Familientreffen, Geburtstage, Urlaube und so weiter.

Von klein auf hat es mich fasziniert, Situationen und Emotionen durch Fotos wiederaufleben zu lassen. Darum sah ich mir ihre Fotos wieder und wieder an. Ich liebte unsere Familienalben, denn jedes Mal wenn ich sie öffnete, offenbarten sie mir neue, einzigartige Geschichten – das war und ist pure Magie für mich.

Ein Mann an einem Obststand wird auf die Wange geküsst

Zwei Menschen schlafen auf einer Bank

Ich denke, darin liegt der Grund für mein Interesse an der Fotografie. Damals wusste ich natürlich noch nicht, dass es einmal eine Lebensweise für mich werden würde. In welche Richtung mein Leben gehen würde, sollte durch eine einfache Frage bestimmt werden.

Wenn man die Schule beendet, ist es normal, sich zu fragen, was man im Leben erreichen möchte. Obwohl ich dann an einem kaufmännischen Institut studiert habe und einiges Wissen im Verkauf und Marketing erworben habe, wusste ich, dass mich dies nicht wirklich erfüllte.

Ich habe es gelernt, um für den Arbeitsmarkt gewappnet zu sein. Ich konnte es mir nicht leisten, eine professionelle Karriere zu verfolgen. Zudem war ich die Tochter einer alleinerziehenden Mutter, die damals nicht sonderlich viel verdiente – die finanzielle Situation war nie wirklich einfach für uns. Nichtsdestotrotz sehe ich all dies nun aus einer anderen Perspektive und ich bin glücklich, dass alles so gewesen ist, wie es war.

Brandung über einen WegBlick von oben auf alte Reifen

Als ich die Schule beendet hatte, begann ich direkt, im Verkauf zu arbeiten. Die Kommissionen und die Sklaverei-ähnlichen Arbeitszeiten im Einzelhandel gefielen mir dabei überhaupt nicht. Worüber ich mich jedoch glücklich schätzen konnte, war, dass ich in vielen Jobs arbeitete. So bekam ich viel Arbeitspraxis, vor allem aber konnte ich viele unterschiedliche Realitäten kennenlernen.

Zwischen den Jobs, die ich hatte, kaufte ich mir zuerst eine analoge Kamera und dann eine digitale, eine dieser kompakten. Von nun an begann ich, das anzuwenden, was ich von meiner Tante gelernt hatte.

Im Alter von 27 Jahren wurde mir dann die Frage gestellt, die mein Leben komplett veränderte. Ich lernte einen Mann kennen, der mir eine komplett andere Sichtweise auf das Leben zeigte, durch Poesie, durch Bücher und durch all die Dinge, die Dein Herz und Deine Seele erfüllen.

Ein Mädchen als Engel verkleidet

Er fragte mich: „Was machst Du am liebsten?“ und ich antwortete: „Fotografieren“. „Dann tu genau das“. Diese einfache Frage brachte mich zum Nachdenken und veränderte mein Leben komplett. In diesem Moment realisierte ich, dass das, was ich wirklich machen wollte, Fotografieren war. Also entschloss ich mich, Fotografie zu studieren.

Ich wollte ihre Sprache verstehen und lernen, den Betrachtern das zu zeigen, was ich mit den Bildern ausdrücken möchte. Ich brauchte ein Jahr, um alles zu organisieren und Geld zu sparen, um mir das Studium leisten zu können. Ich zahlte alles selbst, aber leider bekam ich nie die Chance, sie abzuschließen. Ich wollte keinen Kredit bei einer Bank aufnehmen, der mich für eine lange Zeit in Schulden gestürzt hätte. Also begann ich meine fotografische Reise.

Paula Navarro ist eine Fotografin, die wir ganz besonders ins Herz geschlossen haben und von der auch das Titelbild der Ausgabe #10 von Soul of Street stammt. Mit ihrer herzlichen und einfühlsamen Art schafft sie es wahrlich, die Seele Santiagos und Chiles abzubilden. Ihre Arbeiten sind auch auf Instagram zu finden.

 

Die Goldgräberstadt – Raúl Goycoolea

La Rinconada in Peru ist die höchstgelegene Stadt der Welt. Die Stadt ist durch die nahegelegene Goldmine entstanden und wirtschaftlich abhängig von ihr. Trotzdem herrschen sehr ärmliche Verhältnisse.

Dieses Fotoessay ist sehr wichtig für mich, da es etwas ist, was ich wirklich machen wollte und es mich an mein Limit gebracht hat, sowohl persönlich als auch fotografisch. Zu dieser Zeit hatte ich bereits etwas Erfahrung mit Dokumentarfotografie und Fotojournalismus, aber wirklich an diesen Ort zu gehen, ging weit über meine Erfahrungen hinaus.

Ein Mann auf einem Weg

Die Höhe von 5.600 Metern war extrem und das spürte ich schnell am ganzen Körper. Der Ort war ein gesetzesloser Wilder Westen mit schlafwandelnden Minenarbeitern auf den Straßen, die komplett mit Drogen zugedröhnt waren. Dieser Ort war so dunkel und ich sage Dir ganz ehrlich, ich würde nicht mehr dorthin zurückgehen – er war die Hölle für mich.

Diese lateinamerikanische Hölle, von der man in den Geschichtsbüchern liest. Und dann realisiert Du, dass dies nicht Teil der Geschichte ist, sondern Teil der schrecklichen Gegenwart. In Bezug auf den Goldabbau und die Ausbeutung von Menschen schuften sie in einem System, das der Sklaverei sehr ähnlich ist und „Cachorreo“ genannt wird. Wenn man sich mehr über Cachorreo informiert, wird man sehen, wovon ich spreche.

Menschen unter einer gelben Plane

Manchmal habe ich Albträume von diesem Ort: Ich träume, dass ich dorthin zurückkehre und im Traum frage ich jedes Mal: „Warum bin ich zurückgekommen?“

Ich denke nicht, dass dieses Essay zu meinen besten Werken gehört, nichtsdestotrotz liebe ich es, da es mich verstehen lassen hat, was es bedeutet, ein professioneller Fotograf zu sein. Und ein paar Monate später gewann ich dann einen Preis in Chile für dieses Projekt.

Frauen tragen ihre Kinder mit Tüchern

Diese öffentliche Aufmerksamkeit sollte mir dann auch in meiner Karriere helfen. Vielleicht habe ich nach meinem eigenen symbolischen Gold gesucht – vielleicht habe ich es auch gefunden.

Als ich die Stadt verließ, saß ich vorn im Bus mit meinem Freund Felipe, mit dem ich diese Reise zusammen unternommen hatte. Wir fühlten uns beide richtig schlecht, da wir „Apunados“ waren, ein Quechua-Wort, das benutzt wird, um die Symptome zu beschreiben, die in diesen Höhen auftreten können: Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit, Benommenheit und so weiter.

Eine Hand hält etwas in die Kamera

Wir waren fast aus der Stadt heraus, da sahen wir einige Minenarbeiter einen toten Körper über die Straße tragen. Es war einer ihrer Kollegen, der gerade in den Minen gestorben war. Ich machte ein paar richtig schlechte Bilder aus dem Bus heraus – ich war so schwach, dass ich nicht aussteigen konnte.

Felipe und ich sahen uns an und hofften, dass der Bus die Stadt so schnell wie möglich verlassen würde, wir hatten genug. La Riconada hatte haushoch gewonnen, wie man beim Fußball sagen würde.

Fußballspieler

Vor ein paar Monaten sprach ich mit einem chilenischen Fotografen, der im letzten Jahr in La Riconada war und er sagte mir, dass es der härteste Ort war, an dem er je war. Ich sagte ihm, er könnte nicht richtiger liegen. Wer dort war, versteht, wovon ich spreche. Es ist eine unbarmherzige Stadt.

Raúl Goycoolea ist ein Fotojournalist, der es mit seinen Fotoessays und Langzeitprojekten schafft, die Essenz von besonderen Orten und Menschen einzufangen.

 

Kreative Alchemie – Hugo Angel

Es gibt mehrere Bilder, die mir in Erinnerung geblieben sind, sozusagen wie Fußabdrücke im Wandel der Zeiten. Bei manchen sind es die Emotionen, die im Gedächtnis bleiben, bei anderen ist es die abgebildete Person oder die Situation. Ich erinnere mich an viele Projekte, aber es gibt da ein spezielles Projekt, das ich in den 90er Jahren gemacht habe: „Die Chronologie der Blinden“.

Eine Frau bindet sich eine Haube

Eine Frau auf der Straße

Es war ein sehr experimentelles Bild, aus dem meiner Meinung nach etwas Schönes und Poetisches entstanden ist. Es ist das Foto einer blinden Frau, die eine weiße Schürze trägt. Sie zieht sich eine Art weißen Hut auf den Kopf. Dabei wird ihr Gesicht davon halb bedeckt. Ein Fenster hinter ihr tauchte die ganze Szene in ein besonderes Licht und erzeugt eine intime und nachdenkliche Atmosphäre.

Für mich ist es das Licht, das ein gutes Foto ausmacht. Es ist ein transformatives Element, eine Art kreative Alchemie. Dieses Foto im Speziellen ist in ein einladendes Licht getaucht, das eine außergewöhnliche Atmosphäre erzeugt. Es ist ein Licht wie in einem Gemälde von Vermeer.

Ein PriesterEin Junge mit Kürbis vor dem Kopf

Um den koreanischen Philosophen Byung-Chul Han zu zitieren: „Licht ist ein narratives Medium.“ Ich denke, der Satz spiegelt das wider, was ich über dieses Foto sagen möchte.

Aufmerksam wurde ich auf Hugo Angel durch seine Ausstellung im „Centro Cultural Palacio de La Moneda“, einem großen Kunstmuseum direkt am Regierungspalast „La Moneda“. Hugo fotografiert seit Beginn der 90er Jahre sowohl auf der Straße als auch in speziellen Projekten. Ihr könnt seine Arbeiten auf Instagram oder Vimeo verfolgen. Er hat zudem ein Buch veröffentlicht.

 

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Die Texte wurden für Euch von Fernanda Pinto Godoy vom Spanischen ins Englische und von Lukas Springer vom Englischen ins Deutsche übersetzt.

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