01. Februar 2017 Lesezeit: ~10 Minuten

Kappadokien – zurück zu den Wurzeln

Sieben Uhr morgens. Viviane ist schon wieder eingeschlafen. Wir sitzen komplett übernächtigt im Shuttlebus Richtung Downtown ohne einen Schimmer, wo wir unterkommen werden. Obwohl ich eigentlich nichts lieber tun würde als zu schlafen, nehme ich mich zusammen, um die Gegend anzuschauen. Kappadokien… Während es draußen langsam heller wird, frage ich mich, was wohl so Besonderes an diesem Ort ist, der sich aus der kahlen Flughafeneinöde am Horizont langsam in eine grüne Hügellandschaft verwandelt.

Es ist ihre letzte große Station gewesen. Mir fällt auf, dass ich nicht einmal genau weiß, in wie vielen Ländern dieser Welt meine Oma in ihrem Leben überhaupt schon war. Ganze Abende hatten wir oft zusammen gesessen und uns ihre bebilderten Reiseberichte angeschaut, bis uns die Augen zufielen. Jedes noch so kleine Detail, das sie während der Tour aufgeschnappt hatte, hatte sie fein säuberlich von Hand übertragen.

Nun mussten mir die festgehaltenen Notizen weiter helfen, um mehr über ihre Lebensgeschichte herauszufinden, denn ich konnte sie nicht mehr fragen. Sommer und verschneite Winter hatten sich abgewechselt, bis sie im Alter von 88 Jahren schließlich entschieden hatte, dass es Zeit für sie sei, zu gehen. In der Nacht sah ich sie wieder – sie regnete in unzähligen Sternschnuppen vom Himmel herunter.

Ein Tisch mit verschiedenen Dingen darauf

Ein Zimmer

Das Buch über Byzanz zu meinem 26. Geburtstag. Ihre letzte Reise in die Türkei.

Mir wurde klar, dass sie es alles genau so gewollt hatte, auch den Unfall und den schweren Kampf, das langsame Abwechseln der Rollen und das Abschiednehmen. Sie hatte gewollt, dass wir uns frei machen von allem, was uns an sie band und unseren eigenen Weg finden. Was uns verband, waren die Liebe und Dankbarkeit, die wir für sie empfanden, dafür, dass sie immer da gewesen war. Den Schmerz zu akzeptieren, war das Schwierigste.

Doch sie machte es uns gut vor. Ohne mit der Wimper zu zucken, ließ sie alle Behandlungen über sich ergehen. Erst in der Nacht, bevor wir sie wieder nach Hause brachten, verstand ich, dass die Krankheit sie von innen auffraß. Oma knirschte vor Schmerz mit den Zähnen. Ich lag in einem Beistellbettchen neben ihr und hielt ihre Hand, bis es hell wurde. Sie drückte zu wie ein Schraubstock und ich drückte dagegen. Es war ein bisschen wie beim Armdrücken. Oma hatte mich immer haushoch geschlagen.

Sie ist eine Kriegerin gewesen. Würde sie das jetzt hören, würde sie trotzig die Stirn runzeln und entgegnen: „Ach ’n Quatsch!“ Dinge auszuschmücken, mochte sie nie. Schwärmen hingegen liebte sie. Und ihre Arbeit. Jeden Morgen um halb 6 begann auf der Badezimmermatte mit den fünf Tibetern ihr Ritual, für das sie aus dem höchsten Maß ihrer Kräfte schöpfte, um allen großen und kleinen Anforderungen, die sich so einschleichen könnten, gewachsen zu sein.

Eine Schrankwand

Eine Frau im Bett

Meine Brüder und ich pflegten sie „Om“ zu nennen. Oms und mein Leben überlappte sich für 27 Jahre. In meiner Erinnerung sehe ich ihre kleine Gestalt durch das große Haus wuseln. Ausgerüstet mit Arbeitskittel, hier ein Blättchen aufsammelnd, da ein paar Teppichfransen glatt streichend, dann in den Garten zu ihren Blumen, so streifte sie umher, den Oberkörper immer wie ein Skispringer nach vorn gestreckt, als wolle sie sich selbst überholen. Aus jeder Ecke erzählten Andenken aus aller Welt Geschichten, die sie auf ihren Reisen erlebt hat.

Jeden hatte sie im Krankenhaus noch einmal scharf angeschaut, so als würde sie bemessen, dass auch alles gesagt sei. „Um Dich muss ich mir keine Sorgen machen – Du hast Deinen Weg schon gefunden“, hatte sie zu mir gesagt, als es einmal um die berufliche Zukunft der Enkel ging. Zwar hatte es mich beruhigt, doch außer der einzigen Konstante, die mir anhing, nämlich meiner Kamera, fühlte ich mich in meinem ewigen Pendeln zwischen Mexiko und Berlin noch gar nicht so, als hätte ich meinen Weg schon gefunden.

Kurve um Kurve schlängelt sich der Minivan durch die grüne Landschaft. Den Kopf an die Fensterscheibe gedrückt, schaukele ich mit und bemerke, wie erste Schneeflocken leise in der Luft tanzen. Mit einem Mal verändert sich die Stimmung und erst kann ich gar nicht sagen, was es ist, doch dann höre ich auch von hinten die „Ahhs“ und „Ohhs“ und alle schauen mit offenstehenden Mündern nach draußen, wo die merkwürdigsten Felsgebilde sichtbar werden, die auf einmal immer zahlreicher aus dem Boden zu schießen scheinen.

Eine surreale Landschaft

Spitze Berge

Sie erinnern an riesige Zipfelmützen, Pilze, an Tipis und Steinkamine. Nun beginnen sich auch kleinere Häuser unter die außerirdisch anmutenden Formationen zu mischen und mir fällt wieder ein, dass wir immer noch keine Unterkunft haben. Ich drehe mich zu meiner Sitznachbarin und frage sie, ob sie weiß, wo man hier schlafen könne. Meine Stimme ist noch nicht besonders geölt und auch meine Pupillen haben sicher Rekord-Stecknadelgröße, denn sie schreckt leicht zurück. Wir schauen beide kurz ein bisschen dumm aus der Wäsche und dann lächelt sie und sagt mir, sie übernachte mit ihrem Freund im „Stay in Peace Hostel“.

Das Hostel liegt in einem der zahlreichen zu Wohnungen ausgehöhlten Felsen. Es ist überraschend gemütlich, der Eingangsbereich ist mit dicken dunkelroten Teppichen ausgelegt und in der Lobby flackert uns aus einem alten Eisenofen ein warmes Feuer entgegen. Zu meiner Überraschung sind die ersten Worte, die zu vernehmen sind, keine türkischen, sondern spanische – mit unverkennbarem Mexiko-City-Slang. Ihre Besitzer sind ein Junge und ein Mädchen, die neben dem Ofen sitzen und aufgeregt diskutieren. Es geht um die weitere Reiseplanung. Während sie sich nicht sicher ist, ob sie nach Berlin zurück fliegen soll, möchte er bleiben. Spannend.

Wir begrüßen uns und um nicht der Müdigkeit anheimzufallen, ziehen Viviane und ich gleich weiter, um bei einem Spaziergang die Gegend nach Fotospots zu erkunden. Mit im Gepäck: Die Mamiya mit zwei Filmen. Wir laufen durch den kleinen Ort, dessen Läden und Straßen einen unwirklichen Kontrast zu den Höhlen und riesigen Felsspitzen zeichnen. Unter unseren Sohlen knirscht der frische Schnee und wir saugen die kalte Luft tief ein, während unsere Blicke in alle Richtungen gezogen werden.

Ein Mann, der mit mehreren Hunden Gassi geht

Blick in ein Friseurgeschäft

Nach kurzer Hand-Fuß-Kommunikation steigen wir in einen von den Vans, die an dem kleinen Busbahnhof stehen. Die Idee ist, den magischen Ort wiederzufinden, den ich aus dem Shuttlebus heraus entdeckt habe. Eine Weile fahren wir auf einer einsamen Straße durch die weiße Natur. Unter den wohlwollend neugierigen Blicken der anderen Passagiere kleben wir wieder an den Fenstern – weiß gepinselte Bergspitzen und Felskamine ziehen an uns vorbei.

Unfähig zu entscheiden, wo wir aussteigen sollen, wobei wir offensichtlich in die völlig entgegengesetzte Richtung fahren, rufe ich schließlich das türkische Wort, das ich kurz zuvor auf einem Stoppschild gelesen habe: „DÜR!!“ Der Fahrer dreht sich um und schaut ein wenig ungläubig, doch dann macht er die Tür auf und wir hüpfen hinaus in die verschneite Stille.

Während der Bus allmählich vom Nebel verschluckt wird, habe ich das Gefühl, wir wurden gerade bei unserem Blind Date mit der Unendlichkeit abgesetzt. Die klare Luft defragmentiert alle meine Gedanken mit einer Klarheit, als ob jemand kurz auf Reset gedrückt hätte und das Einzige, was ich denken kann, ist „Zuhause angekommen“.

Es ist dieses innere Heimatgefühl, das sich immer dann wie eine Wärmflasche in mir ausbreitet, wenn ich auf meine Intuition gehört habe und einen Weg gegangen bin, der Herz hat. Wie diesen. Wir stehen vor unserer Geschichte und fragen uns, wo Sterblichkeit aufhört und das Leben beginnt.

Mit Flip Flops bekleidet klettert Viviane den vereisten Hang hinauf und rutscht erst ein paar Mal wieder runter. Irgendwann ist sie glaube ich festgefroren, denn sie steht für ein paar Sekunden. Ich mache ein Foto. Dann müssen wir auch schon aufhören, die Kälte zieht sofort in die Zehen und nachdem ich auch noch einmal vor die Kamera komme, zittern wir beide wie Espenlaub.

Eine nackte Frau zwischen surrealen Bergen

Eine nackte Frau vor verschneiten Bergen

Und der Rückweg? Etwas verloren beginnen wir, in die Richtung zu gehen, aus der wir hergefahren sind, wobei wir weder unsere Füße noch unsere Nasen spüren, als auf einmal ein Wagen neben uns hält. Ein italienischer Geologe und ein Türke sitzen im Wagen und fragen, ob wir mitfahren wollen, sie seien unterwegs zu einer Kirche in einem Berg. Wir überlegen nicht lange und werden am Eingang von einem Dromedar begrüßt, das friedlich unter dem Schnee nach Grasbüscheln sucht.

Beim Teetrinken erfahren wir, dass durch die Lavaflüsse dreier Vulkane, die hier vor Millionen von Jahren das Land unter einer dicken Rußschicht begruben, über die Jahrtausende und durch Wind und Witterung das kappadokische Hochplateau entstanden ist, das die Einheimischen wegen der charakteristischen Tuffsteinspitzen „das Land der Feenkamine“ nennen.

Am Abend fällt mir noch einmal der Traum mit dem Sternschnuppenregen ein. Und gleich darauf fällt mir etwas ein, das ich erst nach Oms Tod bemerkt habe. Sie ist ihr Leben lang Lehrerin gewesen und hat ihre Arbeit mit Ehrgeiz und Freude bestritten. Einmal bin ich mit dem Auto an der kleinen Schule vorbei gefahren, in der sie unterrichtet hat und zum ersten Mal ist mir das riesige Wandgemälde an der Vorderseite des Gebäudes aufgefallen, das einen Ritter zu Pferde zeigt, der mit einem Schwert gegen einen Drachen kämpft.

Darunter in großen alten Lettern die Worte: „Sich selbst besiegen, ist der schönste Sieg.“ Vielleicht hat Om mir in dieser Nacht sagen wollen, dass die Option, sich etwas zu wünschen, immer offen bleibt. Dass man nach den Sternen greifen muss, koste es, was es wolle.

Ähnliche Artikel