14. November 2016 Lesezeit: ~3 Minuten

Sijiagou – Denk an die Heimat

In meiner Abschlussarbeit an der Ostkreuzschule habe ich eine Bauernfamilie im Norden der Provinz Shanxi in Nordwestchina portraitiert. Das Dorf, in dem sie lebt, heißt „Sijiagou“ (思家沟), wörtlich ins Deutsche übersetzt „an die Heimat denken“. Der Name passt zum Thema meiner Arbeit, denn es geht bei meinem Familienportrait um Heimat und Erinnerung.

Das Dorf liegt in einer der entlegensten Gegenden Chinas, weitab der Metropolen. Die Häuser bestehen aus in den Lehm gegrabenen Höhlen, die den Vorzug haben, ohne Heizung und Klimatisierung im Winter warm und im Sommer kühl zu sein. In diesem Dorf, wie in den Dörfern ringsherum, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Jahrhunderte alte Lebensformen haben sich dort erhalten. Die raue Landschaft der Lößberge, der Wechsel der Jahreszeiten und harte körperliche Arbeit bestimmen wie eh und je das alltägliche Leben. Auch den meisten Chinesen ist es kaum mehr vorstellbar.

Landschaft mit einfachen Lehmhäusern

Ein Mann lehnt an einem Baum

Es ist eine aussterbende Region. Die jungen Leute haben die Dörfer verlassen, sie kehren nur zu den Familienfesten dorthin zurück und bringen die bunten Dinge aus der neuen Zeit mit. Schon die Enkel fühlen sich fremd in dieser „Heimat“. Zurück bleiben die Alten, die sich von ihrem Stück Land und ihren Lebensgewohnheiten nicht trennen möchten.

Der Umzug in die Stadt bedeutet weit mehr als einen Ortswechsel. Es ist ein tiefgreifender Wechsel der Lebensgewohnheiten, der Anschauungen, der Erwartungen und der Ängste. Grundlegend ändern sich die sozialen Beziehungen, die zunehmend von Geld- und Karriereüberlegungen bestimmt werden. Es ändern sich die Konsumerwartungen, die Erwartungen an die Zukunft der Kinder, es ändern sich aber auch die moralischen und ästhetischen Normen.

Ein Zimmer

Zwei Mädchen in rosa

Dennoch bleibt ein Familienzusammenhang erhalten. Er dokumentiert sich vor allem bei den Familienfesten, wie Neujahr und dem Mondfest, wenn sich die gesamte Familie im Dorf der Großeltern versammelt. Sie tragen die Wahrzeichen des neuen städtischen Lebens dorthin und schmücken damit die Wohnhöhlen, vom Kühlschrank über Kunststoffmöbel bis zum knallbunten Werbeposter.

Die Personen in meinen Fotos sind meine Verwandten. Der alte Bauer ist mein Großonkel, die alte Bäuerin meine Großtante, es gibt dort Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins. Meine Mutter ist in Peking aufgewachsen und für sie ist das Leben ihrer Verwandten auf dem Dorf so fremd und ungewohnt wie für mich auch. Dennoch sind diese Menschen ein Teil meiner Familie, dem ich mich auf eine schwer erklärbare Weise zugehörig fühle.

Drei Schweine

Eine ältere Frau in einem kargen Zimmer

Die übrigen Verwandten leben über weite Gebiete Chinas verstreut. Manche in der nahe gelegenen Kreisstadt Yulin, einem traditionsreichen Ort, dessen alte Gebäude restlos abgerissen wurden. Heute ist Yulin eine aus schnell hochgezogenen Hochhäusern, leeren Straßen und Kohledunst bestehende Kleinstadt, deren Hauptattraktionen Karaokebars und Reklameschilder sind. Die Verwandten dort sind Angestellte und kleine Geschäftsinhaber. Andere leben in der Provinzhauptstadt Xian, einer Acht-Millionen-Metropole.

Ein Onkel ist ein hochrangiger Armee-Offizier in der an Tibet grenzenden Provinz Qinghai. Mein Großvater gelangte mit der „Befreiung“ 1949 nach Peking, wo er als Funktionär im Zentralen Musikkonservatorium arbeitete.

Eine Straße durch eine Landschaft

Eine Frau zwischen Spitzenstoff

Im Kleinen ist dieser Teil meiner Familie ein Abbild der Umbrüche und Veränderungen, die das Land in den letzten Jahrzehnten durchgemacht hat. In ihren unterschiedlichen Lebensformen und Lebenswelten spiegelt sich die Vielfalt der Erwartungen und Hoffnungen von normalen Menschen im heutigen China.

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