Portrait einer jungen Frau mit Lichtspiel im Dunkeln.
03. August 2016 Lesezeit: ~5 Minuten

Die Kraft des Selbstportraits

Die Fotografie war für mich schon immer eine Quelle endloser Behaglichkeit. Ich erinnere mich an das unvergesslich aufregende Gefühl, als ich mein sehr altes, sehr kaputtes Telefon in die Hand nahm und anfing mit dessen Kamera, die weniger als zwei Megapixel hatte, Fotos von mir selbst zu machen.

Was zuerst als kleines, kreatives Experiment begann, wurde schnell zu einer sich ständig ändernden Beziehung zu mir und den Menschen um mich herum. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt nicht erwartet, dass ich bereits wenige Tage später meine Kamera in die Hand nehmen würde, um sowohl unangenehme als auch angenehme Gefühle zu verarbeiten.

Es war ein plötzlicher Funke, ähnlich dem überschwänglichen Gefühl des Glücks, das man fühlt, wenn man eine Person trifft, deren Anwesenheit einfach Sinn macht. Heute ist es für mich offensichtlich, dass dieser damals scheinbar bedeutungslose Moment die Kraft besaß, mich tiefgreifend zu verändern.

Portrait einer jungen Frau mit fliegenden langen Haaren.

Portrait einer jungen Frau mit Lichtspuren einer Wunderkerze.

Als ich anfing, zu fotografieren, beschäftigte ich mich auch mehr mit Online-Communities, was mir die nötige Selbstsicherheit gab, authentische und ehrliche Bilder zu machen. Ich konnte mich mit so vielen Menschen in dieser Welt identifizieren, sogar mit Fremden, die mir einfach nur Tipps gegeben haben oder Kommentare hinterließen.

Was mich aber am meisten faszinierte, waren die Emotionen, die an jedes atemberaubende Stück Kunst gebunden waren, speziell an Selbstportraits. Obwohl die meisten der Bilder nicht von Texten begleitet wurden, fühlte ich mich beim Betrachten jedes einzelnen Fotos, als würde ich in eine neue Geschichte abtauchen.

Wie jeder Heranwachsende kämpfte ich mit meinen Gefühlen und versuchte, so gut wie möglich mit ihnen klar zu kommen. Manchmal kam ich nach einem besonders harten Tag nach Hause und ein Lichtmuster an einer Wand erhaschte meine Aufmerksamkeit. Es brachte mich dazu, ein paar Fotos zu machen, die meine Gefühle widerspiegelten und zugleich die Schönheit in meiner Umgebung wahrzunehmen.

Portrait einer jungen Frau.

Portrait einer jungen Frau durch eine Scheibe mit Wassertropfen.

Das Bedürfnis, Kunst zu erschaffen und die Möglichkeit, das auch umzusetzen, half mir, auch in dunklen Zeiten aufmunternde Dinge zu finden. Ich wurde auf flüchtige Momente aufmerksam, die, wenn man sie festhält, zu erfreulichen Souvenirs und kleinen Zufluchtstätten des Trostes wurden.

Das Bedürfnis, mich selbst zu fotografieren und mit der Natur zu verschmelzen, brachte mir bei, bescheiden und geduldig zu werden. Bescheiden, weil die Welt voll von unvergleichlicher Schönheit ist und geduldig, weil ich manchmal Tage oder Wochen brauche, um den richtigen Moment zu finden und das perfekte Licht einzufangen.

In der kleinen Wohnung, in der ich derzeit lebe, muss ich jede Ecke und jede auffällige Kleinigkeit nutzen. Sei es die Art, wie das benachbarte Gebäude das Licht reflektiert bis die Sonne untergeht oder ein kleiner Fleck der Dunkelheit in einem sehr hellen Raum. Details wie diese regen nicht nur die Fantasie an, sondern inspirieren auch zur Dankbarkeit.

Portrait einer jungen Frau doppelbelichtet mit dem Bild einer Tallandschaft im Nebel.

Portrait einer jungen Frau im Grünen.

Irgendwie ist Fotografie (oder jede Kunstform) mehr als nur ein vorbeiziehendes Bild. Es ist Selbstreflexion, Anerkennung, emotionales Wachstum, Flucht, Konfrontation und die Liste geht ewig weiter. Es ist unwichtig, was der Inhalt eines Bildes ist, solange der Fotograf es mit Leidenschaft erschaffen hat.

Wenn man sich die Arbeit eines anderen Menschen ansieht und etwas dabei fühlt oder wenn man sich weniger allein fühlt, einfach weil man seine Arbeit mit anderen teilt, dann wird die Welt ganz still und leise für irgendjemanden ein besserer Ort und das ist es, was zählt. Ich glaube fest daran, dass jeder Fotograf und jeder Künstler die Möglichkeit besitzt, die Sicht eines Menschen auf die Dinge zu verändern oder jemandem zu helfen, schwierige Zeiten zu überstehen.

Portrait einer jungen Frau halb von einer Gardine verdeckt.

Portrait einer jungen Frau mit dem Schatten einer Gardine auf ihrem Gesicht.

Als ich an einem Punkt in meinem Leben das Gefühl hatte, ich würde mich selbst verlieren, musste ich mir einfach nur ein paar emotionale Bilder ansehen, die ich einige Zeit zuvor gemacht habe. Sie erinnerten mich an die schweren Zeiten, die ich bereits überstanden habe. Die Erleichterung, die sich dadurch einstellte, half mir, meine Gedanken frei zu bekommen und positiv nach vorn zu blicken.

Einige Dinge begreift man erst, wenn man sich an sie zurückerinnert. Fotografie hilft uns, bestimmte Erinnerungen zu erhalten und dadurch unserem zukünftigen Selbst zu helfen, über neue Hürden zu springen. Es ist fast wie ein visueller Brief an unser zukünftiges Ich. Ein Versprechen, dass die Dinge auch wieder besser werden. Wenn man sich dieser Macht bewusst ist, wird das Leben viel pulsierender.

Portrait einer jungen Frau im Dunkeln.

Als ich zwölf Jahre alt war und mein sehr altes, sehr kaputtes Telefon in der Hand hielt, war ich mir der Macht nicht bewusst, die Kunst besitzt. Heute fühle ich diese Macht täglich. Wenn mein Herz von einem Bild gebrochen wird oder ich mich wegen eines Fotos in einen Ort verliebe, fühle ich mich lebendig und bin dankbar für das Leben. Für mich ist Kunst eine lebenslange Reise, in der ich versuche, das Leben und alles Wunderschöne darin zu ehren, indem ich lerne, erschaffe und es immer wieder wertschätze. Und meine Güte – es ist wundervoll.

Dieser Artikel wurde für Euch von Christopher Wesser aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

Ähnliche Artikel