21. Juli 2016 Lesezeit: ~12 Minuten

Fantastische Geschichten in Krakau

Es ist still. Das Rauschen der Bäume im leichten Wind und selbst einige ferne Geräusche und Stimmen scheinen diese Stille nicht zu stören, sondern noch zu vertiefen. Kein Besucher, kein Tourist hat sich außer mir auf den Remuh-Friedhof verirrt, einen der ältesten jüdischen Friedhöfe Europas. Nur vorn am Eingang döst ein Mann in der Sonne, der Kippas verleiht.

Ich stehe im Schatten großer Bäume. Im Jahr 1551 wurde der Friedhof begründet. Hier wurden über Jahrhunderte die herausragenden Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde beigesetzt, bis die Ruhestätte im Jahre 1800 von den Österreichern geschlossen wurde.

An diesem sommerlichen Septembertag wird der Lärm der Stadt mit jedem Schritt, den ich über den Friedhof gehe, leiser. Die Grabreihen sind nicht gleichmäßig angeordnet, manche Grabsteine sind schon stark von der Witterung mitgenommen. Auf einigen liegen kleine Zettel, die mit einem Steinchen beschwert sind.

Eines der gut erhaltenen Gräber gehört Moses Isserles (Remuh), dem Namensgeber der kleinen Synagoge und des Friedhofs, der hier lehrte und noch heute verehrt wird. Eine Legende besagt, dass ein deutscher Soldat das Grab während der Besatzung im letzten Weltkrieg, so wie viele andere Gräber auch, zerstören wollte, aber wenige Schritte davor tot zusammenbrach.

Ein verwitterter Grabstein

Ein verwitterter Grabstein auf dem Friedhof

Ich genieße diese Stille noch ein klein wenig und als ich aus dem Friedhof heraustrete, bin ich wieder im quirligen und jugendlichen Kazimierz, dem ehemaligen jüdischen Viertel Krakaus, wo es heute viele kleine Galerien, Restaurants und Cafés gibt. Aus einigen Eingängen höre ich gedämpfte Klezmermusik. Kazimierz ist heute ein Teil der Krakauer Innenstadt. 500 Jahre lang lebten die Juden hier.

Als die Deutschen Polen überfielen und besetzten, wurden die Krakauer Juden aus ihren angestammten Wohnorten vertrieben. Fast alle wurden in Konzentrationslagern ermordet, nur wenige entkamen dem Terror. Etwas weiter südlich liegt die ehemalige Emaillenwaren-Fabrik von Oskar Schindler, dessen Leben in Krakau Anfang der 1990er Jahre von Steven Spielberg verfilmt wurde. In mehreren Etagen zeigt die Ausstellung im Verwaltungsgebäude der Fabrik das Schicksal der Juden im Krakauer Ghetto und im Zwangsarbeitslager.

Szenenwechsel zum vorherrschenden Architekturstil der 50er Jahre, zum sozialistischen Realismus. Der Stadtteil Nowa Huta liegt im Osten Krakaus. Ich stehe auf dem Plac Centralny und komme mir winzig vor. Alle Straßen gehen sternförmig von diesem Platz ab, auf dem früher eine riesige Lenin-Statue stand, die nach 1990 nach Schweden verkauft wurde.

Heute ist der Platz nach einem zweitklassigen Schauspieler namens Ronald Reagan benannt. Die Straßen sind breit, die Häuser groß. Die Wohnblöcke stehen symmetrisch zueinander und in fast jedem der großen Klötze gibt es Geschäfte oder Kindergärten oder Bibliotheken im Erdgeschoss.

Ein Gebäude auf dem Theater steht.

Immerhin spenden mir die großen Bäume der Alleen viel Schatten. Die Stadt aus der Retorte ist wirklich beeindruckend. Das Regime wollte hier nach dem Krieg ein sozialistisches Arbeiterzentrum als Kontrast zum katholisch-konservativen Krakau schaffen. Das war der Plan. Ist allerdings nicht ganz aufgegangen. Die Volksrepublik gibt es nicht mehr, das Stahlwerk wurde 1990 umbenannt. Geblieben ist ein Stadtteil, der nicht wirklich schön, aber ein Beispiel für den kommunistischen Größenwahn ist.

Eine Frau und ein großes rundes Haus.

In der sozialistischen Architektur war kein Platz für ein Gotteshaus vorgesehen. Die Bewohner und Arbeiter des nahe gelegenen Lenin-Stahlwerks forderten jedoch immer vehementer eine Kirche für ihren Stadtteil ein und setzten sich nach Auseinandersetzungen und Streiks durch. Ich brauche eine ganze Weile, um durch die breiten Alleen zur „Kirche der Mutter Gottes, der Königin von Polen“ zu gelangen.

Der spätere Papst Johannes Paul II. weihte das moderne Kirchenbauwerk 1977 ein. Auch innen ist die Kirche, die an eine Arche erinnert, sehr interessant und sehenswert. Leider bin ich, gemeinsam mit vielen Gläubigen, gerade pünktlich zur Abendmesse, so dass ich innen die fromme Stimmung genießen kann, allerdings ohne in der Kirche zu fotografieren.

Die bedeutendste Kirche Krakaus ist aber wahrscheinlich die Marienkirche in der Altstadt. Kurz vor der Altaröffnung ergattere ich einen guten Platz recht weit vorn inmitten anderer Touristen. Vormittags um 11 Uhr werden die Türen des 13 Meter hohen Hochaltars unter dem Raunen der Zuschauer geöffnet. Der Nürnberger Holzbildhauer Veit Stoss schuf dieses Meisterwerk der Gotik mit vielen biblischen Motiven um 1480. Nach einer Weile gehe ich zum kleinen Aufgang am Turm der Kirche, der mich zur Spitze führt. Hier oben bin ich wieder fast allein.

Ein Altar in Gold und bunte Fenster.

Allerdings ist man hier nie so ganz allein, denn vom Turm der Marienkirche wird jede volle Stunde der „Hejnał Mariacki“, der „abgebrochene Hejnal“ gespielt. Der Trompeter, der gerade Dienst hat, ist stets auf dem Turm und spielt sein Signal in alle Himmelsrichtungen.

„Im Mittelalter ertönte das Signal zweimal täglich, morgens und abends, zum Öffnen und zum Schließen der Stadttore“, erklärt mir Trompeter Zygmunt, den ich oben treffe. Er ist, wie seine Kollegen, Feuerwehrmann, aber bereits pensioniert. Im Mittelalter wurde einst der Trompeter, der vor dem Angriff der Tataren warnen wollte, von einem Pfeil getroffen, der ihm die Kehle durchbohrte. Aus diesem Grund bricht der Hejnal mitten in der Melodie ab.

Ein Mann mit einer Trompete.

„Jeder in Polen kennt die Melodie, denn um 12 Uhr wird das Signal seit 1927 jeden Tag live im Rundfunk übertragen“, sagt Zygmunt und weist mich auf eine etwas rostige Apparatur hin, die über mir angebracht ist. Diese erinnert mich an eine kopfüber gestülpte Tuba: „Das ist das Marconi-Mikrofon, seit 1927 im Einsatz.“ Vom Turm blicke ich in alle Richtungen über die Stadt. Ich sehe den Hauptmarkt und die Tuchhallen unter mir, davor das Adam-Mickiewicz-Denkmal, dahinter den Rathausturm.

Mein Blick schweift über die prächtige Ulica Floriańska mit dem Florianstor am Ende und etwas weiter weg auf Skeletor: So nennen die Polen den 90 Meter hohen unvollendeten Turm, der 1975 begonnen wurde und an dem schon kurz darauf die Arbeiten aus Geldmangel eingestellt wurden.

In dieser Zeit war die Zeichentrickserie „Masters of the Universe“ bekannt und beliebt und so verpassten die Polen dem Gerippe diesen Namen von He-Mans Erzfeind mit dem Schädelgesicht. Ich schaue weiter südlich und erblicke ein Bauwerk, das weit älter als He-Man und der Kommunismus ist: Auf einem Hügel mitten in der Stadt kann ich die Wawelburg sehen.

Ein Blick über die Dächer einer Stadt.

Ein Platz in der Stadt mit Sonnenschirmen.

An der Weichsel residierten früher die polnischen Könige in der großen Burganlage. Beim Schlendern durch die Burghöfe und die Ausstellungen entdecke ich unterschiedlichste Bauepochen: Von der Romanik, Gotik und Renaissance bis hin zum Barock. Der Arkadenhof ist wie ein italienischer Palazzo angelegt, im Innern der Repräsentationsräume sehe ich alte, kostbare Wandteppiche, Holzintarsien und, natürlich hinter dickem Panzerglas und in gedimmtem Licht, die berühmte „Dame mit dem Hermelin“ von Leonardo da Vinci.

In der Königlichen Basilika und Erzkathedrale der Heiligen Stanislaus und Wenzeslaus, in der früher die polnischen Könige gekrönt wurden, kann ich verschiedene kleine Kapellen bewundern, auf dem Turm die Sigismund-Glocke und in der Gruft viele Gräber von Königen und von weiteren berühmten Persönlichkeiten der polnischen Geschichte. Zuletzt besuche ich die Drachengrotte. Sie erinnert an die Sage, nach der diese Höhle von einem Drachen bewohnt wurde, der die Bewohner Krakaus tyrannisierte. Es fand sich kein tapferer Ritter, der den Drachen besiegen konnte. Erst ein Schusterlehrling konnte den Drachen vergiften und die Stadt befreien.

Während ich versonnen diesen Abschnitt in meinem Reiseführer lese, merke ich zu spät, wie klein diese Ritter und Schusterlehrlinge früher eigentlich waren: An dem niedrigen Dach der Drachengrotte stoße ich mir den Kopf. Vielleicht ist es auch an der Zeit, nach der ganzen Besichtigung der Burg etwas frische Luft an der Weichsel einzuatmen.

Eine Statue eines Hundes.

Etwas weiter am Ufer, am Fuß des Wawels, ist eine Statue einer weiteren Legende Krakaus gewidmet, dem dunklen Mischlingshund Dżok. Sein Herrchen brach auf der Kreuzung nach einer Herzattacke zusammen. Menschen mit weißen Kitteln brachten den Mann in einen Wagen und fuhren mit ihm unter Sirenengeheul davon. Er starb im Krankenhaus, aber Dżok wartete und wartete an dieser Stelle auf sein Herrchen – ein ganzes Jahr. Die Menschen schlossen ihn in ihr Herz und fütterten den Hund. Es brauchte lange, bis sein Hundeherz wieder Vertrauen fasste und er ein neues Frauchen fand, eine pensionierte Lehrerin. Doch auch sie starb und Dżok flüchtete erneut. Nach kurzer Zeit lief er vor einen Zug.

Auf dem Rückweg vom Wawel komme ich wieder am wunderschönen Hauptmarkt mit den Jugendstil-Cafés vorbei. Ich setze mich, gönne mir ein dickes Tortenstück und lasse meinen Blick schweifen. An einer Häuserfront ist eine Tafel angebracht. 1790 war Goethe hier. Er schlief in diesem Haus. Jetzt ist hier ein internationales Modehaus im Erdgeschoss. Wie passend, dass er ja auch etwas zur Kleidung schrieb: „An der Farbe lässt sich die Sinnesweise, an dem Schnitt die Lebensweise des Menschen erkennen.“

Ein Mann und ein Kind im Schatten der Wand.

Goethe ist mir aber vor einigen Tagen schon einmal begegnet. Er besuchte, genau wie ich, die Saline Wieliczka in der Nähe von Krakau, fällt mir ein, denn dort sah ich ebenfalls eine Gedenktafel und seine Statue. Tief unter Tage fühlte ich mich aber mehr wie in einem Reich aus Tolkiens Mittelerde denn wie ein Dichter und Denker. 300 Meter unter der Erde durchwanderte ich schummrige Höhlen, Gänge, Räume und Kammern. Die Tour unter Tage war etwa zwei Kilometer lang. Doch damit „haben wir nicht einmal einen Bruchteil gesehen, sondern nur zwei Prozent der Mine“, lachte Magdalena, die uns durch die Grube führte, während wir die Holz- und Steintreppen weiter nach unten schritten. „Alles, was sie sehen ist aus Salz, alle Figuren, Kapellen und so weiter.“

Ich blickte auf mannshohe Szenen der Bergmannsgeschichte und Heiligenstatuen, die links und rechts in Gängen und Kammern angeleuchtet werden. Diesen Detailreichtum und die Kunstfertigkeit betrachtete ich fasziniert. „All das wurde von Bergleuten geschaffen, die nach ihrem Tagwerk diese Kunstwerke erschaffen haben“, hörte ich Magdalena immer leiser reden. Die anderen der Gruppe verschwanden mit ihr hinter einer Biegung und das Licht verlosch langsam. Ich musste schnell aufschließen, denn einmal in diesem Gänge-Gewirr falsch abgebogen und ich stehe womöglich tatsächlich einigen Zwergen und Orks gegenüber und gerate in arge Erklärungsnot.

Unter Tage sieht man einen Tunnel.

In dieser Mine wurde seit 1250 Salz abgebaut. Die prächtigste Kapelle in der Saline ist der heiligen Kinga gewidmet. Kapelle trifft es jedoch nicht ganz, denn die Halle ist beeindruckende 50 Meter lang und 12 Meter hoch. Auch hier ist alles aus Salz: der Altar, die Kanzel, das Bild des letzten Abendmahls an der Wand und selbst die prächtigen Lüster, die von der Decke hängen. „Hier werden Messen gefeiert, Hochzeiten geschlossen und Konzerte aufgeführt“, erklärt Magdalena neben der großen Statue von Papst Johannes Paul II., der gütig auf uns herabschaut. Während der Besichtigung habe ich dann doch keine Zwerge oder andere Wesenheiten angetroffen.

Krakau ist eine äußerst fotogene Stadt. Auch wenn die unterschiedlichen Formate, 35 mm, 120 und Polaroid einen Stilmix bedeuten, wollte ich die Stadt analog fotografieren. Klein und flexibel mit der Leica auf Schwarzweißfilm und auf der anderen Seite das Mittelformat, bei dem mehr Details abgebildet und die Bilder im Quadrat manchmal ausgewogener komponiert werden können.

Wichtig, wie bei allen meinen Arbeiten und Reisen, ist mir das entschleunigte Fotografieren: Ich habe nur begrenzt Filmmaterial zur Verfügung und möchte so deutlicher gestalten und überlegter den Auslöser drücken.

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