Nahes Portrait eines Mädchens, das ihren Kopf auf ihre Hände stütz.
08. Juli 2016 Lesezeit: ~9 Minuten

Vietnam hautnah

Während meiner ersten Reise durch Vietnam im Jahr 2013 bin durch einen Zufall in die Galerie von Long Thanh gestolpert. Er ist ein Altmeister der Schwarzweiß-Fotografie und bekennender Liebhaber namhafter deutscher Kameras. Inspiriert von seinen Fotografien knipste ich mit meiner Nikon D800 in Vietnam nur noch in Graustufen.

Im Sommer 2015 plane ich, Vietnam ein zweites Mal zu bereisen, da ich, so scheint es mir, vieles nicht gesehen habe. Je mehr ich mich frage, was ich denn genau verpasst habe, desto mehr beschleicht mich das Gefühl, dass es dieses Vietnam ist, das ich vor zwei Jahren in dieser Galerie in Nha Trang gesehen habe.

Straßenszene mit einem Fahrradfahrer mit sehr großem Transportkorb.Seitliches Portrait zweier alter Frauen.

Also schreibe ich Long Thanh rotzfrech an. Ich möchte diese alte Frauen portraitieren und frage ihn, ob er mir Zugang verschaffen kann. Als Local Guide sozusagen. Mensch, bin ich aufgeregt. Ist das zu viel verlangt oder gar unhöflich? Schließlich ist seine Galerie gespickt mit Auszeichnungen. Er hat bestimmt Besseres zu tun – „Sie haben Post“. Und da ist die Antwort. Er freut sich, mich in Vietnam zu sehen. Jesus, Maria und Josef, ich kann’s nicht glauben!

Im Dezember 2015 fliege ich nach Vietnam und treffe ihn am Flughafen. Er lädt mich zu sich nach Hause ein und hat schon ein Drei-Tages-Programm geplant. Moment mal! Ich dachte, er führt mich einen Nachmittag lang durch die Straßen von Nha Trang und dann trennen sich unsere Wege? Mir soll’s recht sein. Genügend Zeit und Film habe ich mitgebracht. Im Gepäck habe ich eine auf 4×5″ umgebaute Polaroid 100A/B, eine Hasselblad 500cm und eine Leica M6.

Spiegelung einer Gruppe Menschen in einer Pfütze.

Tag 1

Die Sonne geht gerade auf und er erwartet mich schon mit seiner Vespa. Der Kerl hat Stil, das muss man ihm lassen. Wir fahren zum Fischmarkt. Nein, nicht zum Touristenfischmarkt. Dieser Fischmarkt ist ein wenig außerhalb gelegen, Long Thanh scheint hier öfter zu sein.

Er hält Small Talk wie kein anderer und so ist dieser Ausflug die wohl größte Lehrstunde meiner fotografischen Entwicklung. Ein Aha-Erlebnis! Memo an mich selbst: So machen das also Altmeister wie Steve McCurry: Man kommuniziert. Man interagiert. Wahnsinn.

Wir sind mittags wieder zurück und er kocht für uns – unheimlich gut, nebenbei bemerkt. Was kann dieser Herr eigentlich nicht? Wir fahren zu einem Restaurant, an dem ich mein erstes Portrait machen werde.

Ein alter Mann sitzt rauchend auf einer Steintreppe vor einem Gebäude.

Im Anschluss passieren wir eine Stelle, die er seit Jahren nicht mehr besucht hat und er wird ganz ruhig. Das Landschaftsbild hat sich völlig verändert. Wo früher noch nachmittags Büffel den Fluss überquerten, sind heute nur Beton und Asphalt. Man merkt ihm an, wie sehr ihn das schmerzt.

Wir rasten an einem Restaurant, das aus kleinen, in den See gestampften Hütten mit Hängematten besteht. So verbringen wir den Rest des Tages in der Hängematte liegend, mit philosophischen Abhandlungen über die Schönheit des Kratzigen, des Analogen, des Unperfekten, während er seine Pfeife pafft.

Ausblick von einem Steg übers Wasser mit anderen Stegen, im Hintergrund Berge.

Bild des Restaurants, mit dem iPhone aufgenommen.

Tag 2

Es ist noch früher als gestern und wir fahren gute 200 km weit in ein kleines, unscheinbares Dorf. Dort laufen wir durch die engen Gassen und klopfen an die Gartentüren. Jetzt wird’s ernst. Nach einem kurzen Plausch fangen wir an, zu fotografieren.

Wir treffen auf dieses unscheinbare Mädchen. Erst bei genauerem Hinsehen fällt mir auf, dass sie ein braunes und ein blaues Auge hat. Was für eine Schönheit! Darauf war ich nicht vorbereitet und habe nur eine Planfilm-Kassette mit Kodak Ektachrome geladen, ich kann also genau zwei Farbbilder machen, von denen ich eines bereits verschossen habe.

Bleibt also nur ein einziger Versuch, um das festzuhalten. Halleluja, bin ich nervös! Jetzt muss alles sitzen. „Alex, Du machst das schon!“, sage ich zu mir selbst. Es macht klick und das Bild ist im Kasten, wie man so schön sagt. Ob’s etwas geworden ist, wird sich erst in ein paar Wochen zeigen.

Nahes Portrait eines Mädchens, das ihren Kopf auf ihre Hände stütz.Portrait einer alten Frau im Schatten.

Auf dem Rückweg halten wir wieder in einem Dorf und die Stimmung ist eine völlig andere. Ich merke, dass wir hier nicht willkommen sind. „Was wollt Ihr hier?“ und „Warum fotografiert Ihr hier?“, fragen uns die Leute. Long Thanh erzählt mir, dass sie Angst haben, wir seien Spione oder so etwas in der Art.

Er zeigt auf die noch vorhandenen Lautsprecher, die das Dorfbild prägen. Aus ihnen wurde damals die Regierungspropaganda posaunt. Wir halten in einem Garten inne und trinken Zuckerrohr mit einer Familie, die ebensolches für das Dorf presst. Letztlich darf ich dort sogar eine nette Dame portraitieren.

Zurück in Long Thanhs Galerie, jetzt geht’s ans Entwickeln: Die Stunde der Wahrheit. Er vermittelt mir in seinem durchaus verbesserungswürdigen Englisch die Grundlagen der Schwarzweiß-Entwicklung im hinteren Teil seiner Galerie, wo er seine Dunkelkammer hat. Was für ein Traum.

Portrait einer alten Frau und eines Kindes.

Tag 3

Heute steht die Positiv-Papierentwicklung auf dem Stundenplan und seine Dunkelkammer verwandelt sich in seine „Bar“, wie er sie so schön nennt. Passender Name, wie ich finde. Wir qualmen Zigaretten, hören Blues und planschen in Chemie unter rotem Licht. Stilecht trinken wir ein Glas frisch gepressten Gurkensaft, denn das ist gesund und entschlackt, lasse ich mir sagen – geiler Typ!

Doch nicht so schnell: Wir wählen den richtigen Ausschnitt im Vergrößerer, fokussieren und legen das Papier ein. Das Papier wird belichtet und während das Licht des Vergrößerers darauf fällt, fängt Long Thanh an, laut zu zählen, legt seine Hand zwischen Projektionslicht und Papier und formt so Schatten, die auf das Papier fallen, um Bereiche im Bild abzudunkeln. Dodge and Burn der alten Schule.

Portrait einer alten Frau.

Nun bin ich dran und muss zugeben: Das sieht leichter aus, als es ist. Die Lampe geht aus und wir legen das Papier in die Entwicklerschale. Ein leichtes Wippen der Schale bewirkt, dass der Entwickler gleichmäßig auf dem Papier verteilt wird und plötzlich wird es magisch: Gerade noch ein weißes Blatt Papier und nun kommt wie aus dem Nichts mein Bild hervor.

Dieses Gefühl kann man mit nichts vergleichen. Sofort kommt mir die Frage in den Kopf, ob ich jemals wieder vor einem PC-Monitor meine Bilder werde anschauen können. Ich kann’s kaum glauben: Ich habe gerade ein Bild geboren. Meines. Kann mir keiner nehmen. Stolz wie Oskar kann ich es kaum abwarten, mein Bild in Händen zu halten, aber nach der Entwicklung wird es erst einmal noch stundenlang gewässert.

Mehrere alte Frauen lachen.

Am nächsten Tag durfte ich dann retuschieren – mit einem Pinsel. Einem echten Pinsel. Sachen gibt’s! Man leckt die Spitze eines Haarpinsels ab, um ihn zu befeuchten und versucht dann, aus einer Graupalette den richtigen Grauton zu finden, um kleinere Flecken zu entfernen und Konturen zu akzentuieren. Ein bisschen mulmig ist mir jetzt schon.

Was, wenn ich jetzt etwas falsch mache? Dann wäre alles für die Katz. Aber da lässt Long Thanh nicht mit sich verhandeln. „Das ist Dein Bild, also retuschierst Du es auch!“ Am Ende ging dann alles gut. Es ist übrigens schon Tag 4 und er will einfach nicht loslassen. Ich irgendwie auch nicht.

Ein Mann hält stolz einen großen Fotoabzug in die Kamera.

Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich meine Dankbarkeit nicht ausdrücken kann, was ich auch tue. Ich zerbreche mir den Kopf, denn bis auf den Film und das eine oder andere Abendessen ging alles auf Long Thanhs Tasche. Davon ließ er sich auch nicht abbringen.

Es ist mir ein wenig unangenehm und so entschließe ich mich, eines seiner Bilder zu kaufen. Das für mich spannendste und aufreibendste seiner Bilder, an dem ich jedes Mal stehen blieb, wenn ich es sah und so mache ich mich am nächsten Tag auf gen Süden, um am Strand dieses ganze Erlebnis erst einmal sacken zu lassen.

Dort werde ich ein Mädchen treffen, mit der ich dann das Mekong-Delta bereise. Ohne all diese Menschen wäre dieser Urlaub wohl nicht anders verlaufen als meine erste Reise nach Vietnam und deshalb möchte ich ein Plädoyer dafür halten, den Mut zu fassen und mit Einheimischen in Kontakt zu treten. Die sind meistens auch ganz nett und zeigen einem das Land von einer Seite, die man sonst nie kennenlernen würde.

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