Polizisten im Licht eines Bengalos
29. Juni 2016 Lesezeit: ~14 Minuten

Proteste, Gewalt und Fotografie

Es war im Dezember 2013 in Hamburg, als ich die erste Demonstration fotografierte, bei der es zu erheblichen gewalttätigen Ausschreitungen kam. Damals stand die Schließung der selbstverwalteten „Roten Flora“ im Raum und Tausende Menschen waren gekommen, um dagegen zu protestieren. Kurz nachdem die Demonstration beginnen sollte, stoppte die Polizei den Zug und die Situation eskalierte innerhalb weniger Minuten.

Demonstranten im Strahl eines Wasserwerfers

Mit anderen Kollegen stand ich zusammen an der Spitze des Demonstrationszugs und berichtete für verschiedene Medien über die Proteste. Bis heute ist es vor allem ein Bild, das mir besonders in Erinnerung geblieben ist. Es handelt sich dabei nicht um einen Akt der Gewalt selbst, sondern um die wenigen Momente der Spannung, bevor es zur Eskalation kam.

Die Aufnahme zeigt einen Teil des Schwarzen Blocks, die abgebildeten Menschen sind vermummt und im Zentrum der Aufnahme ist ein Bengalo zu sehen. Nur weniger Meter davor – im Bild nicht zu sehen – ist die Polizeikette, die den Demonstrationszug stoppt.

Ein Demonstrationszug mit Pyrotechnik

Nach einigen Demonstrationen bekommt man ein Gefühl dafür, wann die Situation zu kippen droht und wie Proteste verlaufen können. Da sich Gewalt bei Protestveranstaltungen – wenn auch eher selten – immer wieder zeigt, sammeln sich über die Jahre im eigenen Archiv zahlreiche Bilder der Gewalt. Wenn es extreme Ausschreitungen gab, sind diese durch zahlreiche Fotografien und Videos ja zumeist auch in vielen Medien verbreitet.

Durch eine Kamera sind wir immer dort, wo wir eigentlich nicht sein sollten, im Zentrum der Gewalt […],

schrieb 2005 der Filmkritiker und freie Journalist Georg Seeßlen in der Aus Politik und Zeitgeschichte.

Damit sind Kameras eine Art „Schlüsselloch der Mediengesellschaft“ (Seeßlen). Daneben gibt es im Nachgang oft Dutzende Videos auf den sozialen Plattformen, die durch Schaulustige oder Demonstrationsteilnehmer mit ihren Kamerahandys angefertigt wurden. Damit erhalten zahlreiche Menschen Zugang zu Ereignissen und Situationen, den sie sonst nicht hätten.

In vielen Fällen schließen sich an die Ereignisse gesellschaftliche Debatten an, die vor allem auf die Bilder der Gewalt Bezug nehmen oder zurückgreifen. Reine Beschreibungen von Gewalt haben diesen Effekt kaum, Fotografien und Videos sind damit essentiell für breitere Debatten und scheinen Akte der Gewalt – zumindest in der breiten Verteilung – besser zu transportieren.

Daher ist auch die Beschäftigung mit Bildern der Gewalt wichtig und ebenso spannend. Das Thema wird meist im Themenbereich der Kriegsfotografie diskutiert, deshalb ist ein Blick auf diese Debatten unumgänglich. Mir geht es im vorliegenden Artikel allerdings nicht um Fotografien aus Krisengebieten, sondern von Akten der Gewalt bei Protesten in Deutschland.

Damit ändert sich vor allem der politische und gesellschaftliche Kontext, in dem diese Bilder entstehen. So einfach, wie dies vielleicht klingt, ist das Thema allerdings nicht. Ganz zu Anfang sehe ich beispielsweise die große Schwierigkeit, dass die Auseinandersetzung mit Fotografie und Gewalt mit einer Debatte über Gewalt selbst verwechselt werden könnte.

Außerdem stellt sich zunächst die Frage, was dies überhaupt ist, ein „Bild der Gewalt“? Reicht es aus, dies nach dem Bildmotiv zu entscheiden? Und was meint eigentlich Gewalt? Bilder der Gewalt? Was macht Fotografien zu Bildern der Gewalt? Im Dezember vergangenen Jahres habe ich dieses Bild bei einer Demonstration in Leipzig aufgenommen:

Polizisten im Rauch und Laternenschein

Es zeigt zwei Polizisten im Vordergrund und Rauch sowie weitere Personen im Hintergrund – niemand wird geschlagen, nichts wird zerstört. Ist dieses Bild also ein Bild der Gewalt? Wenige Sekunden, nachdem ich dieses Foto in Leipzig aufgenommen hatte, mussten ich und die Polizisten im Bild den Ort der Aufnahme verlassen. Und auch die Demonstranten im Hintergrund zogen sich vom Platz zurück. Der Grund: Der Rauch, der im Bild zu sehen ist, ist Tränengas.

Es wurde von der Polizei in großen Mengen verschossen, um Demonstranten aus einem bestimmten Gebiet zurückzudrängen. Das Gas führte bereits nach wenigen Sekunden zu Atembeschwerden und brennenden Augen. Aus meiner Sicht kann man hier zwar einen Gewaltkontext erahnen, aber das Bild nicht ohne weitere Informationen diesem definitiv zuordnen, obwohl mit dem Einsatz von Tränengas Menschen hier erhebliche körperliche Schmerzen zugefügt werden, um sie zu bestimmten Handlungen zu zwingen. Es scheint also schwierig zu sein, ausschließlich anhand des Bildmotivs zu entscheiden, ob eine Fotografie ein Bild der Gewalt ist.

Eine weitere Dimension der Diskussion ist die Frage, was eigentlich als Gewalt auf Bildern definiert werden kann. In der Literatur zum Thema beziehen sich diese Definitionen meist auf Gewalt in Kriegsgebieten und sind sehr stark auf diesen Kontext zugeschnitten. Oft geht es um Regionen, in denen weder staatliche Strukturen noch irgendeine Form von Rechtsstaat existieren. Schaut man sich beispielsweise Arbeiten von Robert Capa, Don McCullin oder James Nachtwey an, handelt es sich bei den Motiven oft um Kampfhandlungen, menschliches Leid, Zerstörungen und in der Essenz den Tod, die die Bildmotive bestimmen.

Polizisten und Demonstranten vor rotem Rauch

Da der Rahmen hier aber Proteste in einem demokratischen Staat sind, möchte ich die Diskussion nicht unnötig ausweiten und eine einfache soziologische Definition der Bundeszentrale für politische Bildung nutzen, die mir an dieser Stelle ausreichend zu sein scheint. Darin heißt es:

Gewalt bedeutet den Einsatz physischer oder psychischer Mittel, um einer anderen Person gegen ihren Willen a) Schaden zuzufügen, b) sie dem eigenen Willen zu unterwerfen (sie zu beherrschen) oder c) der solchermaßen ausgeübten Gewalt durch Gegen-Gewalt zu begegnen.

Damit wäre beispielsweise auch das eingangs gezeigte Bild der Tränengaswolken – mit Zusatzinformationen – als Bild der Gewalt zu sehen. Die Definition macht aber auch klar, dass weitere Schwierigkeiten bei der Zuordnung von Fotografien zu Bildern der Gewalt bestehen können, wenn man beispielsweise Akte psychischer Gewalt fotografieren möchte, die oft ohne erkennbaren physischen Gewaltakt oder -folgen auftreten. Außerdem werden in der Debatte – dies sei in Bezug auf psychische Gewalt angemerkt – die Begriffe Gewalt und Macht oft synonym gedacht.

Hannah Arendt hat in ihren Anmerkungen zu Macht und Gewalt bereits darauf hingewiesen, dass diese beiden Phänomene keineswegs gleichzusetzen sind:

Macht und Gewalt sind Gegensätze: Wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden. Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist; überlässt man sie den ihr selbst innewohnenden Gesetzen, so ist das Endziel, ihr Ziel und Ende, das Verschwinden von Macht.

Diese Unterscheidung für den Fotografie-Kontext übernommen, bedeutet eben auch, dass dort, wo wir Bilder der Gewalt haben, oft Macht in Frage gestellt werden soll.

Dies verweist nicht zuletzt auf den veränderten Kontext von Bildern der Gewalt bei Protesten in Deutschland im Vergleich zu Kriegsgebieten. Auf Demonstrationen Übertragen, sind die fotografierten Akte der Gewalt oft Handlungen, die (Staats-)Macht zurückdrängen oder die versuchen, (Staats-)Macht durchsetzen.

Eine Person bewirft ein Polizeiauto

Neben direkten Akten von Gewalt gibt es zahlreiche Bilder, die die Spuren von Gewalt zeigen, aber keineswegs mit Bildern der Gewalt selbst gleichzusetzen sind.

Ein Wasserwerfer hinter einer Bushaltestelle

Ein in Deutschland sehr populäres Beispiel ist das Bild des Ingenieurs Dietrich Wagner aus Stuttgart, das am 30. September 2010 aufgenommen wurde. Wagner erlitt an diesem Tag bei den Protesten gegen das Projekt Stuttgart 21 schwere Augenverletzungen. Das Bild wurde damit zum Symbol des gewalttätigen Vorgehens der Polizei.

Es zeigt allerdings nicht den Akt der Gewalt selbst, sondern die schweren Verletzungen eines Menschen als Spuren der zuvor angewandten Gewalt. Dabei dürfte das Bild nicht nur wegen seines schockierenden Moments für ein derart großes Medienecho gesorgt, sondern auch durch eine ohnehin breite gesellschaftliche Unterstützung der Proteste zusätzlich an Bedeutung gewonnen haben.

Bilder von Polizeigewalt sorgen jedoch nicht immer für größere Debatten in Deutschland. Es ist davon auszugehen, dass die gesellschaftliche Stellung der jeweiligen Proteste und auch die Frage der Betroffenen hierbei einen wichtigen Kontext bilden1.

Hinzu kommt, dass Gewalt ein Teil polizeilichen Handelns darstellt und damit natürlich auch gesellschaftspolitisch eine höhere Legitimität besitzt. Dabei ist von einer unterschiedlichen Einordnung von Bildern der Gewalt durch verschiedene gesellschaftliche Gruppen auszugehen. Susan Sontag hat darauf bereits hingewiesen, als sie schrieb:

Wo es um das Betrachten des Leidens anderer geht, sollte man kein ‚Wir‘ als selbstverständlich voraussetzen.

Dies bedeutet, dass sowohl Bilder der Opfer als auch der Gewaltakte von unterschiedlichen Betrachtern anders bewertet werden. Als Beispiel sei hier die Räumung einer Blockade gegen einen Neonazi-Aufmarsch in Bad Nenndorf 2015 angeführt. Die Bilder des rabiaten Vorgehens der Polizei gegen die Blockierer dürfte gesellschaftlich sehr unterschiedlich eingeordnet werden: Für einen Teil der Betrachter zeigen die Fotografien eine inakzeptable polizeiliche Gewaltanwendung, für andere eine notwendige Durchsetzung gesetzlicher Rahmenbedingungen.

Polizisten führen eine Person ab

Polizisten gehen gegen eine Einzelperson vor

Bildgewalt ist ziemlich harmlos

Der Soziologe Wolfgang Sofsky hat in seinem sehr lesenswerten Buch „Todesarten. Bilder der Gewalt“ (2015) deutlich auf die Unterscheidung von realer Gewalt und Bildgewalt hingewiesen. Sofsky schreibt:

Gewaltbilder sind nämlich harmloser als es den Anschein hat. Ihre emotionale Sprengkraft ist begrenzt. […] Auf Bildern ist Gewalt nur sichtbar, nicht riechbar, hörbar, tastbar, fühlbar.

Dies hat zur Folge, dass Bilder von Gewaltakten sehr wohl als ästhetisch schöne Bilder, die Unschönes zeigen, wahrgenommen werden können. Der Betrachter ist der Realität entrückt, er hat keine Erfahrung mit der realen Gewalt. Damit ist auch eine Bewertung als ästhetisch schön eher möglich. Auch hier gibt es Überschneidungen zur Debatte um Kriegsfotografie. Immer wieder wurde die Frage aufgeworfen, ob Bilder von Leiden ästhetisch ansprechend sein dürfen, zeigen sie doch im Grunde Schreckliches.

Am Beispiel von Fotografien des „Ground Zero“ in New York hat Susan Sontag dies analysiert:

[…] Fotografien neigen dazu, was immer sie abbilden umzuformen; und etwas kann als Bild schön oder erschreckend sein, was im wirklichen Leben alles dies nicht ist.

Als es im Dezember 2015 zu den Ausschreitungen zwischen rund 1.000 Demonstranten und der Polizei in Leipzig kam, habe ich beim Wasserwerfer-Einsatz dieses Bild fotografiert:

Polizisten stehen vor schießenden Wasserwerfern

Es zeigt eine Reihe Polizisten und zwei Wasserwerfer, die im Schein des Straßen- und Blaulichtes gegen Demonstranten vorgehen. Die Wasserwerfer beschießen eine im Bild nicht sichtbare Menschenmenge mit Wasser, um diese von einer Kreuzung zurückzudrängen. Besonders das Spiel von Wasser und Licht gibt dem Bild aus meiner Sicht einen ästhetischen Reiz.

Es verdeutlicht aber gleichzeitig, wie wenig ein Bild des Gewaltaktes für den Betrachter mit der realen Gewalt zu tun hat. Dies könnte bei diesem Bild auch daran liegen, dass die Betroffenen der dort ausgeführten Gewalt nicht im Bild zu sehen sind, damit gibt es zwar einen Akt der Gewalt, aber keine sichtbaren Opfer. Ein Bild ist eben ein Ausschnitt und es zeigt viel weniger, als es weglässt. Auch in den Medien gezeigte Bilder aus Kriegsgebieten zeigen oft Bombenangriffe, Panzer oder ähnliche Kriegssymbolik, allerdings ohne die Folgen darzustellen.

Während das Foto in Leipzig entstand, flogen nicht nur Steine durch die Luft, sondern auch wir Fotografen standen teilweise im Strahl der Wasserwerfer und wurden von Polizeibeamten rabiat aus dem Weg geräumt. Ein Kollege wurde am Kopf verletzt. Wenn ich mir das Bild heute anschaue, hat es nur sehr wenig mit der realen Erfahrung vor Ort gemein.

Diese Wahrnehmung ist allerdings ohnehin sehr verschoben, da die Kamera zwischen den Geschehnissen und dem Fotografen eine nicht zu unterschätzende Distanz aufbaut. Die Minuten, in denen man versucht, Bilder anzufertigen, laufen über die Kamera fast wie ein Film an einem vorbei, man ist nur auf den wahrgenommenen Bildausschnitt konzentriert, die Umgebung verschwindet. Dazwischen wird man allerdings immer wieder in die „Realität“ zurückgeholt, wenn man zum Beispiel gezwungen ist, sich aus Sicherheitsgründen zurückzuziehen.

Oft sehe ich nach Protesten Video-Aufnahmen von bestimmten Situation im Fernsehen und es ist, als war ich bei einer ganz anderen Veranstaltung. Die Betrachter der Bilder können davon kaum einen Eindruck gewinnen – Bildgewalt ist keine reale Gewalt – und so verstehe ich durchaus, wenn mir Menschen sagen, sie empfinden das Bild (ästhetisch) als schön. Ich habe als Fotograf sehr wenig Einfluss auf die Wahrnehmung meiner Bilder durch die Betrachter.

Ein Demonstrant steht vor einer brennenden Barrikade

Der Fotograf als Dritter

Wenn Journalisten und Fotografen bei Gewaltakten anwesend sind und diese dokumentieren, wird Gewalt durch die Anwesenheit eines Dritten zu einem kommunikativen Akt, zu sozialem Handeln. Die Anwesenheit von Kameras kann dabei ganz unterschiedliche Auswirkungen auf den Akt der Gewalt selbst haben.

Aus den Berichten von Kriegsfotografen (bspw. Don McCullin oder James Nachtwey) sind verschiedene Szenen bekannt, bei denen jemand die anwesenden Berichterstatter zu einer Exekution regelrecht eingeladen hat oder diese vielleicht nur durchgeführt wurde, weil Fotografen vor Ort waren. Diesen Mechanismus findet man beispielsweise bei Protesten in Deutschland eher selten bzw. ins Gegenteil verkehrt.

Nein, um Morde geht es hierbei keineswegs, aber um die Zurschaustellung von Gewaltakten für anwesende Fotografen. Dies hat auch mit dem veränderten Kontext der Gewaltakte zu tun. Dort, wo in Kriegsgebieten oft ungehindert gemordet werden kann, ist ein vorgeführter Gewaltakt eben auch ein kommunikativer Akt, für den oft keine Konsequenzen befürchtet werden müssen.

Bei Gewaltakten während Protesten in Deutschland hingegen ist danach mit einer Strafverfolgung zu rechnen. Daher sind anwesende Fotojournalisten eher ungebetene Gäste bzw. unkontrollierte Fotoaufnahmen nicht sonderlich erwünscht. Eine der wenigen Ausnahmen, bei denen dies offensichtlich eine kleinere Rolle spielte, war die Hogesa-Demonstration, bei der Hooligans im Oktober 2014 einen Polizeiwagen in Köln medienwirksam umwarfen und sich danach sogar noch selbst vor dem zerstörten Einsatzwagen fotografierten: Bilder als Beweise und Trophäen gewalttätiger Handlungen.

Meine Erfahrung ist jedoch auch, dass die Anwesenheit von Fotografen dazu führt, dass Gewalt zurückhaltender eingesetzt wird, da die Akteure davon ausgehen, dass sie dokumentiert werden. Ich habe dies sowohl bei Demonstranten als auch bei Polizisten erlebt. Allerdings gibt es eine weitere mögliche Folge:

Da Fotografen bzw. anwesende Kameras auch als störend empfunden werden, geraten Fotojournalisten immer wieder in den Fokus der Gewalt. Besonders in den letzten Monaten hat dies in Deutschland immer weiter zugenommen: Gewalt gegen Journalisten.

¹ Süselbeck, Jan 2013: War Sells, But Who’s Buying? Zur Emotionalisierung durch Kriegsdarstellungen in den Medien. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 2013

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