Eine Deckenmalerei mit dem Herrn Jesus Christus.
01. Juni 2016 Lesezeit: ~6 Minuten

Ein Spaziergang durch Istanbul

Ich schaue von meinem Reiseführer auf, inmitten des verwirrenden Gassengewirrs von Fatih. Ich bin unterwegs zur Chora-Kirche und prüfe, wie weit ich mich schon verlaufen habe. Die Kirche hätte ich schon längst erreichen müssen. Eine kleine Straße vor mir zweigt nach Norden ab, die andere Straße auf der linken Seite führt weiter und müsste irgendwo in Fatih an der Hauptstraße Fevzi Pasa Caddesi enden.

Meine Blicke wandern von den Straßenschildern an den Ecken auf die Karte im Reiseführer. Beide Straßen sind dort offenbar nicht eingezeichnet. Was mir allerdings auffällt, ist, dass hier, im tiefsten Fatih, längst kein solches Getümmel herrscht wie in Eminönü, wo die Hagia Sophia ist oder wie in Kadiköy, wo es die vielen Restaurants gibt – oder wie in Beyoglu, wo sich die Tram durch die Straßen schlängelt.

Straßenbahnschienen, Menschen, unscharf und Abendbeleuchtung.

Die Bahn ist selbstverständlich auch immer voll, genauso wie die berühmte Fußgängerzone Istiklal Caddesi, auf der man den Eindruck hat, die Stadt brodelt und läuft über. Eigentlich ist es überall voll – nur nicht hier in diesen Gassen, in denen mir ein sich eindeutig in eine Richtung bewegender Menschenstrom eine gewisse Orientierung geben könnte.

Zu den gut 14 Millionen Einwohnern der Stadt kommen pro Jahr noch etwa zehn Millionen Gäste. Und nicht nur auf den Gehwegen in Eminönü und in der Nähe der Galatabrücke komme ich mir vor wie in einem Ameisenhaufen, auch auf den Straßen brausen dicht an dicht Autos, Lastwagen und Busse an mir vorbei. Man muss manchmal einfach todesmutig den ersten Schritt auf die Straße setzen, um auf die andere Straßenseite zu gelangen. Das Auto, der Dolmusch oder der Bus wird mich schon sehen und rechtzeitig abbremsen. So hoffe ich es jedes Mal.

Eine schmale Straße, Kopfsteinpflaster und Fußgänger.

Hier in den Gassen von Fatih ist es ursprünglicher, es gibt kaum touristische Geschäfte und nur Westeuropäer zu sehen. Endlich entdecke ich in einiger Entfernung die Chora-Kirche – aber davor parken mehrere Reisebusse. Vorbei mit der Beschaulichkeit. Die Kirche als Welterbestätte ist kein Geheimtipp.

Allein werde ich in dieser Stadt wohl nie sein. Doch ich richte meinen Blick über die Besuchermassen aus Asien, Amerika und Europa und bekomme eine Ahnung von der früheren Pracht und Erhabenheit der Chora-Kirche. Ihr byzantinischer Wandschmuck mit Mosaiken und Fresken in den Kuppeln aus dem 12. Jahrhundert ist wunderschön und entschädigt mich für den weiten Fußmarsch durch das Gassengewirr.

Der Blick in den Innenhof eines historisches Gebäudes.

Ein altes Gebäude in Schwarzweiss.

Es gibt aber auch noch andere wunderschöne Orte, an denen man sich nicht mit anderen Besuchern auf die Füße tritt. Für ein paar wenige türkische Lira befördern mich die Fähren von Europa nach Asien und wieder zurück. Ich bin so begeistert, dass ich oft zwischen den Kontinenten hin und her fahre. Mit Blick auf das Meer genieße ich heißen Tee, den ein Kellner an Bord auf einem großen Tablett bringt. Mein Blick schweift über den Leanderturm, den Topkapi-Palast und die Türme und Kuppeln der Hagia Sophia und der Sultan-Ahmed-Moschee auf der europäischen Seite.

Blick auf das blaue Wasser und eine Stadt des Orients.

Blick auf das Wasser und ein paar Schiffe.

An der Istiklal liegt das Café Ara, das nach dem großen fotografischen Chronisten Ara Güler benannt ist. Er beobachtete in den 50er und 60er Jahren mit seiner Kamera das Leben in Istanbul, arbeitete für verschiedene türkische und internationale Zeitungen und wurde in den 60er Jahren neben Cartier-Bresson und Riboud zu einem der sieben besten Fotografen weltweit gekürt.

Während meine Begleiterin Sofia und ich auf der ersten Etage des Cafés eine Kleinigkeit essen und uns von dem Wandern durch die große Stadt ein wenig ausruhen, fällt mein Blick in den unter uns gelegenen Schankraum im Erdgeschoss. Dort am Tisch – kann das denn sein? Da sitzt doch Ara Güler! Er hat gerade einige Touristen ein Sefie mit sich knipsen lassen. Wahnsinnig gern hätte ich auch ein Bild von ihm, aber ein Selfie mit dem Handy erscheint mir wenig angebracht bei einem Großmeister der Fotografie.

Frauen in Schwarz gekleidet und verhüllt.

Fischer stehen auf einer Brücke mit ihren Angeln.

Ich werde ihn mal fragen, ob ich ein Polaroidbild von ihm machen darf, sage ich zu Sofia. Nachdem wir gezahlt haben, nehme ich all meinen Mut zusammen, gehe auf den alten Herrn zu und frage zaghaft: „Mr. Güler, would you be so kind to…“ Weiter komme ich kaum, denn als er hochschaut und uns beide vor sich sieht, unterbricht er mich kurz und knapp: „Tell her to sit here!“

Mit einem kurzen Nicken weist er auf den Platz neben sich. Sofia setzt sich ein wenig eingeschüchtert neben ihn. „Ganz alte Schule…“, denke ich mir: Widerspruch ist offensichtlich nicht geduldet und kommt uns auch gar nicht in den Sinn. Ich prüfe mit einem kurzen Blick und leicht nervös meine Einstellungen: Stimmen Zeit und Blende? Ich versuche, zu fokussieren und spreche ein kleines Stoßgebet beim Auslösen.

Anschließend ziehe ich gespannt das Polaroid aus der Mamiya. Ara Güler mustert unterdessen meine Kamera. „Thank you so much, Mr. Güler“, sage ich und bilde mir ein, dass er, kaum merklich, nickt. Vielleicht war es Verblüffung oder womöglich sogar Anerkennung, bilde ich mir gern ein. Wer fotografiert schon noch mit Polaroids?

Eine junge Frau und ein älterer Mann schauen in die Kamera.

Gespannt wie ein Turnschuh löse ich vor der Tür des Cafés das Polaroid vom Trägerpapier und die Konturen von Sofia und Ara Güler werden langsam sichtbar.

Ähnliche Artikel