03. März 2016 Lesezeit: ~3 Minuten

Heute im Ausverkauf: Revolution

Rund 4.000 Demonstranten zogen Anfang Februar durch den Berliner Stadtteil Friedrichshain, um gegen die voranschreitende Gentrifizierung und gegen die Räumung linker Hausprojekte zu demonstrieren. Eine ihrer Forderungen: „M99 Bleibt!“ Das Kürzel steht für den „Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf“ in der Manteuffelstraße 99 in Kreuzberg.

Der kleine, dunkle Laden war und ist Anlaufstelle für die linke Szene in Berlin – und das seit nunmehr fast 30 Jahren. Neben Schlagstöcken, ausrangierten Polizeihelmen und linker Literatur gibt es hier politisch (in)korrekte Sticker und Pullis und das, was Springer-Medien „Vermummungsmaterial“ nennen.

Geführt wird der außergewöhnliche Laden seit Beginn von Hans Georg Lindenau alias HG, dessen Schlafzimmer keine fünf Meter entfernt an den Laden angrenzt. „Ich gehe mit dem Gewerbe eine Symbiose ein. Der Laden gibt mir die Möglichkeit, zu überleben“, betont der 56-Jährige, der seit einem Unfall im Rollstuhl sitzt: „Der Laden ist eine einzigartige Chance, weiter in der Zweibeinerwelt intrigiert zu sein.“

Ein Mann schaut durch eine Lupe

Ein Mann im Rollstuhl und ein Mädchen auf einem Roller wühlen in Kisten

Wie wichtig ihm sein Gemischtwarenladen ist, lässt sich erahnen, wenn HG von seinem bisherigen Kampf für den Erhalt des Ladens erzählt: Über 50 polizeiliche Hausdurchsuchungen hat er hinter sich, einige Male fiel sein Laden (vermutlich rechtsradikalen) Brandanschlägen zum Opfer und immer wieder haben wechselnde Hauseigentümer ihn und die anderen Hausbewohner*innen, die noch von alten billigen Mietverträgen profitieren, los werden wollen.

Während HG stolz ist, schon sieben vorherige Eigentümer überlebt zu haben, machen ihm die Machenschaften des aktuellen Besitzers zu schaffen: unangekündigte Bauarbeiten, ausbleibende Reparaturen und Lärmbelästigung des angrenzenden Technoclubs. Vielen Bewohner*innen war das schon zu viel. „Sie sind gegangen worden“, sprachwitzelt HG. Er selbst ist trotz aller Schikanen geblieben. Auch als er für über ein Jahr im Flur schlafen musste, weil der Zugang zu seinem Schlafzimmer verriegelt war. „Ich hatte nur die Außentoilette als Ort zum Waschen“, erinnert er sich an die menschenunwürdigen Bedingungen.

Ein Mann kippt Buttons aus einem Eimer

Ein Mann im Rollstuhl fährt an einem Geschäft vorbei

„Ich brauche unbedingt einen ‚Hier wurde ein Nazisticker überklebt‘-Sticker“, sagt ein Ladenbesucher. – „Wie viele?“, fragt der Gemischtwarenhändler. – „Einer reicht sogar schon“, antwortet der Kaufinteressierte. Neben solchem linken Stammpublikum kommen auch viele Tourist*innen in den Laden. Denn HG und sein M99 werden in einigen alternativen Reiseführern erwähnt.

Seit Kurzem gibt es sogar einen Wikipedia-Artikel über den Laden, dessen Relevanz aber von einigen Nutzer*innen der Community in Frage gestellt wird. „Ich bin auf der Suche nach Inspiration für ein Geburtstagsgeschenk“, schaut sich eine weitere Ladenbesucherin fragend um. „Wie wäre es mit dem Buch ‚Die kleine Geschichte des Anarchismus‘ und einer schwarzen Regenjacke?“, berät HG.

Ein enges Ladenlokal

Ein lachender Mann

Den institutionalisierten Häuserkampf vor den Gerichten hat HG verloren. Er erwartet die Ankündigung der Räumung, die ihm drei Wochen zuvor zugesendet werden muss. Schon jetzt mobilisieren Sympathisant*innen mit Plakaten für diesen Tag X. Und auch HG will – wieder einmal – für seinen Revolutionsladen kämpfen und dafür, dass alles so bleibt, wie es seit dreißig Jahren in der Manteuffelstraße 99 ist.

Dabei ruft er ausdrücklich zur „strategischen Gewaltfreiheit“ auf, um sich im Berliner Kommunalwahlkampf nicht in einer Sicherheitsdebatte instrumentalisieren zu lassen.

Verhindert werden könnte der Tag X noch durch Verhandlungen an einem runden Tisch, zu dem sich kürzlich auch die Eigentümerseite bereit erklärt hat. Vielleicht passiert doch noch so etwas wie eine Revolution.

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