16. Dezember 2015 Lesezeit: ~6 Minuten

Das 96-Tage-Experiment

„Wer sehen kann, kann auch fotografieren. Sehen lernen kann allerdings lange dauern.“ Mit diesem Sinnspruch hat die Leica AG bereits geworben. Manche meinen, ein fotografischer Blick muss angeboren sein. Das ist wie ein Talent. Ich finde aber, man kann mit gezielten Übungen auch aktiv daran arbeiten, seine Sicht in der Fotografie auszuprägen.

Ich habe im Rahmen meines Fotografie-Seminars an der Hochschule Hof zusammen mit meinem Professor und den restlichen Studenten ein fotografisches 96-Tage-Experiment gewagt. Es zielt genau auf diesen Punkt ab: Keine neuen Techniken lernen, sondern rein den fotografischen Blick schärfen.

96-Tage-Experiment?

Ihr fragt Euch nun zu Recht, um was es überhaupt gehen soll. Genau das haben wir uns anfangs auch gefragt, als unser Professor seine Pläne offenbarte. Doch dann wurde es schnell klarer: Jeder Teilnehmer sucht sich ein Objekt, das er 96 Tage lang täglich fotografiert. Pro Tag wurde das beste Bild ausgedruckt. An nur einem Tag in der Woche durfte ein Bild fehlen.

Was soll da dahinter stecken? Lohnt sich dieser Aufwand überhaupt?

Zunächst überlegte ich, welches Objekt es sein durfte. Mit was werde ich mich die nächsten drei Monate lang auseinander setzen? Ich wählte einen alten Spiegel, da ich hier vermutete, abwechslungsreiche Bilder zu schießen. Man kann schließlich jeden Tag etwas anderes darin spiegeln.

Das Projekt begann

Es ging los: Ich fotografierte den Spiegel die ersten Tage rein als Gegenstand. Die Betonung lag hierbei immer auf „fotografisch untersuchen“. Das klingt schon gleich viel zielführender: Man hat 96 Tage Zeit, sich einem Objekt zu nähern.

Die erste Woche verging. Ich versuchte schon jetzt zu untersuchen, wie es wirkt, Gegenstände in eine völlig andere Umgebung zu spiegeln. Denkt man sich die spiegelnde Fläche des Spiegels weg, so sieht er durch seine Bauart eigentlich aus wie eine Art Holztablett.

So baute ich zum Beispiel eine Lampe auf einem Tablett, das auf dem Teppich liegt. Eine Straßenlaterne auf dem Tablett auf dem Asphalt serviert. Man sieht schon, mit genug Kreativität entstehen hier mit simplen Mitteln spannende Konzepte. Und das alles, weil man sich tagtäglich mit demselben Objekt auseinander setzt. Mal mehr, mal weniger.

Ein Spiegel in dem sich etwas spiegelt.

Ein Spiegel in dem sich etwas spiegelt.

Zwischenzeitlich entstanden so auch oft Bilder, auf denen es rein um Farben und Formen ging: Der Spiegel als abstraktes Gebilde. Ich konzentrierte mich nicht Woche für Woche auf ein Thema, sondern war jeden Tag völlig frei.

Ein Wald, umgedreht.

Bäume, oben und unten.

Die Spiegelung einer Spiegelung im Spiegel?

Nachdem das Projekt weiter fortgeschritten war, wagte ich mich auch öfter daran, den Spiegel mit Personen zu kombinieren. Da ich bisher meistens Portraits geschossen habe, war das auch eine völlig neue Erfahrung: Während es bisher so gut wie immer um die Person auf dem Bild ging, trat diese ab jetzt in den Hintergrund. Es ging nur noch um den Spiegel.

Zwei Menschen, zwei Spiegel und ein Wald.

Es geht um den Spiegel und seine Umgebung. Zur Umgebung zählt hierbei die Person. Natürlich sind auch ein paar klassische Portraits entstanden, auf denen der Spiegel als Requisite in den Hintergrund trat. Meistens jedoch habe ich vermehrt auf die Komposition geachtet. Der Spiegel war das Wichtigste an der ganzen Szenerie. Der Mensch hat meist nur mitgeholfen, diesen in Szene zu setzen.

Ein Mann in einem Spiegel macht ein anderes Gesicht.

Ein Feld, Sonnenuntergang, eine Person trägt einen Spiegel.

Ein Mann, versteckt, hält einen Spiegel vor sich.

Eine Frau hält einen Spiegel hoch.

Die nächste Zeit verlief so, dass ich den Spiegel immer im Kofferraum dabei hatte. Es stand ja jeden Tag auf dem Programm: Spiegel fotografieren. Auf diese Weise ist der Spiegel auch sehr oft „rumgekommen“: Er war an vielen Orten. Auch das hat das Projekt in seiner Vielseitigkeit bereichert. Nicht nur die Personen, sondern auch die Umgebung war somit stetig im Wandel.

Steht ein Spiegel im Wald...

Ein Spiegel hängt zwischen zwei Bäumen und trägt den Himmel in sich.

Kurz vor Projektende kamen dann doch noch zwei Anweisungen seitens Professor Frieder Wolfram: Wir sollten uns einen zweiten Gegenstand suchen, mit dem wir unser Objekt kombinieren würden. Für eine Woche. Ich sah mich erneut im Second-Hand-Laden meines Vaters um. Hier habe ich auch schon den ersten Spiegel entdeckt. Ich holte mir noch einen zweiten und begann zu experimentieren.

Ein Spiegel im Spiegel im Spiegel.

Die Woche darauf sollten Fotos mit „studioähnlichen“ Bedingungen entstehen. Diese Phase hat mich sehr an den Anfang des Projekts erinnert, als ich auch den Spiegel als Gegenstand oder auf Farben und Formen untersucht habe. Durch das Weiß (oder Schwarz) des Studiohintergrunds war der Spiegel aus seinem bisherigen Umgebungskontext gerissen. Auch wirkt der Spiegel ganz anders, da er nun mehr als Rahmen erscheint, nicht mehr als Spiegel.

Ein Spiegel liegt da und macht nichts.

Ein Spiegel und sein Rahmen.

Am Ende des Projekts hatte nun jeder Teilnehmer an die 96 Bilder. Doch was passiert nun mit all diesem Material? Wir entschieden uns dazu, dass jeder eine individuelle Broschüre erstellt. Es gab dabei eigentlich keine Vorgaben, nur die, dass man auch Bilder weglassen darf.

Die Vorderseite der Broschüre

Die Überschrift: Spiegelverkehrt

Die eigentliche Herausforderung bestand nun darin, all diese Bilder neu zu kombinieren und in Szene zu setzen. Welches Bild funktioniert neben welchem? Viele Gedanken verbrauchte ich auf die Anordnung der einzelnen Bilder. Am Ende kam eine Broschüre heraus, die dann aber viele Besucher auf der „Designblick“, unserer halbjährlichen Ausstellung, begeistern konnte.

Aufgeklappt sieht man einen Spiegel und Lichter.

5 Bilder eines Spiegels

Ein Mann vom Spiegel erschlagen mit Ästen als Kopf.

Insgesamt war das Projekt eine bereichernde Erfahrung. Man nimmt seine Umgebung etwas aufmerksamer wahr und wagt viele neue Sachen. Man ist einfach frei und kann alle Regeln, die man bisher immer „brav“ befolgt hat, über Bord werfen. Es geht um niemanden, nur um den Spiegel. Man kann alle Regeln brechen.

Eine aufgeklappte Broschüre und Menschen.

Aufgeklappt mit Bild und Schrift.

Spiegel in sich selbst.

Wenn Dir der Artikel gefallen hat, dann schau doch auch auf meinem Journal vorbei. Hier schreibe ich öfter über Erfahrungen in dieser Richtung. Ich denke, dass ich dort demnächst auch noch alle entstandenen Bilder des Projekts in einem Blogpost zeigen werde.

Ich hoffe, ich konnte mit diesem Artikel motivieren, dass nun auch Du aus gewohnten Mustern ausbrichst. Das geht am besten, wenn man sich einem fotografischen Projekt widmet, das man länger als einen Monat betreibt. Oder hast Du bereits ähnliche fotografische Projekte durchgeführt? Lasst es mich in den Kommentaren wissen!

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