Ein Stapel Foto-Bücher und Bände sitzen auf einem älteren Sessel.
18. Oktober 2015 Lesezeit: ~12 Minuten

Die 5 Fotobücher des Monats

Obwohl der Oktober erst etwas mehr als zwei Wochen alt ist, hat er es schon in sich. Nicht nur dank der Buchmesse finden sich unter den Neuerscheinungen viele „Schwergewichte“, also Fotografen mit großen Namen. Einen „Magnum-Bonus“ oder dergleichen gibt es trotzdem nicht; einige Berühmtheiten haben es noch nicht einmal in die Liste geschafft, weil es gleichzeitig so schöne Bücher von weniger bekannten Fotografen gibt, die wir Euch dringend ans Herz legen wollen.

Dieses Mal also stellen wir Euch Kindheitserlebnisse in der Wildnis vor, dann sehr unerwartete Fotos eines bekannten Straßenfotografen, jugendliche Boxer aus schwierigen sozialen Verhältnissen, drei Bücher in einem von einem Engländer in den USA und schließlich ein Wackelkandidat, der sich im Nachhinein als mein Favorit herausstellen sollte.

Und weil die Auswahl gar so groß war, habe ich dieses Mal noch einige Kurzempfehlungen angehängt, denn es wäre schade gewesen, auf die Bücher nicht zumindest kurz hinzuweisen.

 

Dieses Bild © Jesse Burke aus dem Buch Wild & Precious veröffentlich von Daylight Books im Oktober 2015, Titel: "I see a darkness"

Jesse Burke – Wild & Precious*

Ein Vater unternimmt mit seiner kleinen Tochter regelmäßig Ausflüge in die Natur. Meist wandern sie für ein paar Tage, oft einfach da, wo es auf der Landkarte grün aussieht. Eigentlich nichts Besonderes, wäre der Vater nicht ein herausragender Fotograf. Doch auch dann könnte man sich vorstellen, dass sich die Motivwahl auf schöne Landschaftsbilder mit seiner Tochter als dekorierendem Element reduziert und selbstredend wären die Bilder schön, ästhetisch und würden das Herz jedes Naturliebhabers höher schlagen lassen.

Was Jesse Burke jedoch macht, ist etwas anderes. Natürlich zeigt er uns seine Tochter, wie sie die Welt entdeckt. Aber er lässt uns auch an ihren Entdeckungen teilhaben. Und der Blick seiner Kamera fängt Dinge ein, über die ein Kind staunen kann. Steine, Baumkronen, viele kleine und große Tiere, Fundstücke, die man sich unbedingt ansehen will, wenn man durch die Wildnis wandert.

Und genau an der Stelle packt das Buch den Betrachter, weil es Jesse Burke mit sehr einfachen Mitteln gelingt, die Perspektive des Kindes mit in das Buch zu integrieren. Und so sehen wir einerseits Bilder, in denen man merkt, wie Burke versucht, seine Bildvorstellung umzusetzen, daneben aber eben auch Szenen, in denen Clover einfach nur beobachtet wird, wie sie ihre Umgebung erkundet. Clover, so heißt das Mädchen, lernt in direkter Anschauung nicht nur die Schönheit der Natur kennen, sondern auch, was sie bedroht. Sie sieht blühendes Leben, aber auch Vergänglichkeit.

Die Wanderungen mit seiner Tochter erstrecken sich über einen Zeitraum von fünf Jahren, heute ist sie neun Jahre alt. Im letzten Bild sehen wir sie Hand in Hand mit ihrer mittleren Schwester, die nun vier Jahre alt ist und die jüngste Schwester ist zwei Jahre alt. Die Fortsetzung der Wanderungen ist sicher. „Wild & Precious“ ist nicht nur ein wunderschönes Buch mit berührenden Bildern, der Titel jedes Bilds ist zudem ein Titel, den Johnny Cash entweder geschrieben oder interpretiert hat. Seine Songs haben die Wanderungen und Fahrten von Vater und Tochter immer begleitet.

Informationen zum Buch

Gebundene Ausgabe: 128 Seiten
Verlag: Daylight Books
Größe: 33,8 x 23,9 x 1,8 cm
Preis: 46,63 €

 

© Joel Meyerowitz, Courtesy Howard Greenberg Gallery, Title: "Joel Meyerowitz, Provincetown 1977"

Joel Meyerowitz – Cape Light*

Joel Meyerowitz ist eigentlich ein Straßenfotograf. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich mich mit seiner Straßenfotografie noch nicht in der Intensität beschäftigt wie mit der anderer Fotografen, sei es nun Elliott Erwitt, Gerry Winogrand oder Alex Webb. Viele seiner berühmten Bilder kenne ich dennoch und wenn ich diese in Bezug setze zu dem, was er auf seinem sehr lesenswerten Blog täglich zeigt, ergibt das alles sehr viel Sinn.

Meyerowitz ist ein sehr genauer Beobachter. Das allein wäre aber unter Straßenfotografen nichts Besonderes; was ihn jedoch auszeichnet ist, dass er in besonderen Momenten das Alltägliche wiedergibt. Oder alltäglichen Momenten etwas Besonderes entlockt. Und damit kommen wir zu „Cape Light“. Das Buch, erstmals 1978 veröffentlicht, nimmt eine Sonderstellung ein.

1976 nahm Meyerowitz aus gesundheitlichen Gründen eine Auszeit und verbrachte einige Zeit in Cape Cod, Massachusetts. Letztlich fand er hier zu einer entschleunigten Fotografie, mit einer 8×10-Großformatkamera und Farbfilm. 1976 war das ein langsames Fotografieren, weil die Filme nicht empfindlich waren. Aber genau das wollte er. Mehr Detail. Mehr Darstellen. Das Bild gewissermaßen aufsaugen.

Kennt man seine aktuellen Bilder, sind die Bilder aus Cape Cod merkwürdig vertraut. Gleichzeitig erkennt man Parallelen zu Stephen Shore, nicht nur wegen des verwendeten Werkzeugs, sondern auch in der Bildkomposition, genauso aber auch meint man, hier Gemälde von Edward Hopper zu sehen, ein Maler, auf den er sich auch explizit in einem lesenswerten Interview bezieht, das im Buch zu finden ist.

Aber auch sonst sind die Bilder unverkennbar Meyerowitz. Er findet das Besondere im Alltäglichen, oft muss man im Bild danach suchen, aber genau das findet er reizvoll, er will es dem Betrachter nicht zu einfach machen. „Cape Light“ ist ein Buch, das gekonnt Architektur, Landschaft, Portraits und Objekte zu einem stimmigen Gesamtbild komponiert. Und es ist bewegend, dass es auch nach fast 40 Jahren noch so gut funktioniert wie damals.

Informationen zum Buch

Gebundene Ausgabe: 112 Seiten
Verlag: Aperture
Größe: 25,4 x 30 x 2 cm
Preis: 41,25 €

 

Modern Kids © Jona Frank, Kehrer Verlag

Jona Frank – Modern Kids*

Jona Franks Buch endet mit einem Zitat von Joyce Carol Oates, das ich sinngemäß an den Beginn dieser Empfehlung stellen möchte: „Das Leben ist eine Metapher für das Boxen. Ein Boxkampf, der scheinbar ewig geht, eine Serie von Schlägen, von Clinchen, Runde für Runde und der Gegner ist so ebenbürtig, dass man übersieht, dass man gegen sich selbst kämpft.“

Jona Frank hat Jungen, selbst Kinder und junge Männer fotografiert. Boxer. Sie boxen in ihrer Freizeit, sie boxen für ihr Leben gern, das Boxen definiert sie. Man sieht diese jungen Menschen teils mehrfach: Komplett in Boxausrüstung oder halbnackt vor dem Training und in einer zweiten Serie nach dem Training oder gar nach einem Kampf, gezeichnet, verschwitzt, manchmal blutig. Das Vorher-Nachher, das mit den Gesichtern, dem Blick, der Körperhaltung so einiges anstellt, wird durch einen jeweils unterschiedlichen Hintergrund noch hervorgehoben.

Den Kontext zum echten Leben stellt der Mittelteil her, in der die Boxer in „Zivil“ gezeigt werden. An der Hand ihrer Frauen oder Freundinnen, in ihrer Straße, vor ihrem Haus, in Schuluniform. Die Bilder geben auf sehr symbolischer Ebene einen Einblick in die Lebensumstände in Dublin, in Liverpool und sicher auch anderswo auf den britischen Inseln.

Überhaupt besitzt das Buch neben der konkreten Ebene, mit den sehr gut gemachten Portraits dieser jungen Menschen noch eine symbolische Ebene. Wir sehen Menschen, die vom Kampf gezeichnet sind und die meisten, nicht alle, strahlen aus, dass der Kampf für sie weitergeht. Sie nehmen die Herausforderung an. Und das macht das Buch zu einem sehr positiven Werk, das Mut macht.

Informationen zum Buch

Gebundene Ausgabe: 80 Seiten
Verlag: Verlag Kehrer
Größe: 31,7 x 1,2 x 24,7 cm
Preis: 34,90 €

 

The Whiteness of the Whale by Paul Graham published by MACK, © 2015 by Paul Graham courtesy MACK

Paul Graham – The Whiteness of the Whale*

Paul Graham habe ich lange Zeit nicht verstanden, sogar abgelehnt. Was ich an Bildern von ihm kannte, war für mich nichtssagend, banal, langweilig. Mit „The Whiteness of the Whale“ hat sich das dramatisch geändert. Für mich ist das Buch eines der besten Fotobücher seit langer Zeit. Es ist unglaublich spannend, innovativ in der Herangehensweise und technisch ein Meisterstück. „The Whiteness of the Whale“ besteht, neben diversen sehr informativen Texten, aus drei Serien, die zu unterschiedlicher Zeit entstanden sind und auch schon einmal einzeln publiziert wurden: „American Night“, „A Shimmer of Possibility“ und „The Present“.

In „American Night“, der Serie, die seinen Umzug in die USA einleitete, zeigt er Bilder von amerikanischen Un-Orten, trauriges, heruntergekommenes Niemandsland, extrem überbelichtet, so dass man sich anstrengen muss, um überhaupt zu sehen, was abgebildet ist. Kontrastierend dazu Bilder von kalifornischen Eigenheimen in satten Farben. Und dazwischen Portraits von Menschen, meist Außenseiter, Randfiguren der Gesellschaft.

In „A Shimmer of Possibility“ werden Geschichten erzählt, jeweils in fünf bis zehn Bildern, Annäherungen an Menschen oder Objekte, Perspektivwechsel und dann gewinnt das Motiv wieder Distanz. Es sind Kurzfilme, erzählt in wenigen Bildern mit immer neuen Details.

In „The Present“ sehen wir durch das Auge des Fotografen, wie sich Szenen entwickeln, wie er Menschen in den Fokus nimmt und sie wieder freilässt. Auch hier bilden mehrere Bilder eine Einheit, aber es ist der Ort des Geschehens, New York, der hier die Konstante bildet, und die Akteure wandern durch diesen Ort, manche sehr scharf, andere nur verschwommen sichtbar.

Informationen zum Buch

Gebundene Ausgabe: 240 Seiten
Verlag: MACK
Größe: 36 x 3,5 x 26,5 cm
Preis: 65,00 €

 

© Stephen Shore, Reprinted from Survivors in Ukraine (Phaidon 2015), Ausschnitt: Tzal Nusymovych; Korsun, Cherkaska District

Stephen Shore – Survivors in Ukraine*

„Survivors in Ukraine“ war für mich erst ein Wackelkandidat. Stephen Shore mag ich, doch mir war erst nicht klar, worum es eigentlich ging. Dann las ich das einleitende Essay von Jane Kramer und dann musste mir noch nicht einmal mehr die Bilder ansehen, um zu wissen, wie wichtig dieses Buch ist. Doch der Reihe nach.

Stephen Shore wurde von seiner Frau Ginger dazu angehalten, dieses Projekt anzugehen. Es zeigt uns Bilder von Juden, die die systematische Tötung durch „Einsatzgruppen“ der SS seit 1941 überlebt haben. Von 2,7 Millionen Juden in der Ukraine wurden bis Kriegsende 1,5 Millionen umgebracht, direkt in ihren Dörfern. Viele Juden aus der Ukraine flüchteten nach Kasachstan, nur um 1944 bei den ersten Anzeichen, dass durch die Nazis keine Bedrohung mehr zu befürchten war, zurückzukehren. Es ist eine Geschichte von Flucht und vom unbedingten Drang nach Wiederkehr in die Heimat, die viele Parallelen mit der aktuellen Flüchtlingssituation hat.

Die Bilder, die Stephen Shore dem Leser zeigt, sind eine Mischung aus Portrait und Sozialdokumentation. Sie zeigen die Überlebenden selbst, ihre Lebensräume, den Menschen über die Jahrzehnte treu gebliebene Dinge, Gräber, Wohnungen, Landschaften. Viele Bilder sind rein dokumentarisch, Bausteine in der Beschreibung eines seiner Protagonisten. Mit anderen Bildern, die gezielt Objekte oder ganze Räume darstellen, setzt er gezielt Schwerpunkte auf Dinge, die den Menschen wichtig sind, die sie vielleicht auf der Flucht und der Wiederkehr begleitet haben. Schuhe. Alte Pässe.

In der Ukraine passieren gerade aus ganz anderen Anlässen furchtbare Dinge, die in vielerlei Hinsicht schwer einzuordnen sind. Die Geschichte, die Stephen Shore hier darstellt, ist einfacher, aber nicht weniger schrecklich. Und gleichzeitig ein Zeugnis des unüberwindbaren Überlebenswillens der „Survivors“, die ihre Heimat nicht aufgegeben haben und zurückgekehrt sind.

Informationen zum Buch

Gebundene Ausgabe: 136 Seiten
Verlag: Phaidon
Größe: 21,9 x 1,9 x 29,8 cm
Preis: 57,00 €

 

Wie versprochen hier noch zwei Bonus-Empfehlungen:

Tanja Birkner – Halbe Stunde (Sieveking Verlag)* ist eine klischeebefreite, weder romantisierende noch reißerische Studie über weibliche und männliche Prostituierte und Menschen aus diesem Umfeld in Hamburg. Nicht nur gut fotografiert, sondern auch mit lesenswerten Texten, die aus Interviews mit den Portraitierten destilliert wurden.

In Andreas Gursky (Steidl)*, erschienen anlässlich der Ausstellung im Museum Frieder Burda in Baden-Baden, bringt Steidl einen sehr guten Überblick über das Werk des berühmtesten Schülers der Becher-Schule. Sehenswerte Bilder, informative Texte.

Was sind Eure persönlichen Neuentdeckungen in diesem Monat? Lasst es uns in den Kommentaren wissen. Und übrigens: Wenn Euch dieser Artikel gefallen hat, dann freuen wir uns über eine Empfehlung in Euren Netzwerken. Dankeschön!

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