20. Juli 2015 Lesezeit: ~8 Minuten

Perfekte Illusionen

Eigentlich war dieser Text nur als Wachrütteln an mich selbst gedacht, aber vielleicht gibt es ja auch andere, die ein bisschen Wachrütteln brauchen können. Die meisten von uns nutzen es täglich, manche sogar stündlich. Wir lieben es, wir genießen es und wir ziehen nicht selten großen Nutzen daraus. Auch ich liebe das Internet.

Ohne hätte ich viele der Menschen, die mir am meisten bedeuten, nie kennengelernt. Ohne hätte ich viele tolle Chancen nicht erhalten. Ohne hätte ich mich weit weniger in die Fotografie verliebt. Ohne würde eine große Quelle der Inspiration verschwinden. Ohne wäre es so viel schwerer, mit Freunden in Kontakt zu bleiben, die weit weg wohnen. Und es gibt so viele weitere Ohne-Sätze, die ich aufzählen könnte.

Aber wie so oft im Leben gibt es auch hier ein Aber. Und wenn ich ehrlich bin, ist es ein angsteinflößend großes Aber. Jeden Morgen wachen wir auf und die sozialen Netzwerke erwarten uns mit einer Flut von Erfolgsgeschichten, von glücklichen Urlaubsbildern, von öffentlichen Liebeserklärungen, von Menschen, die scheinbar mit dem perfekten Gesicht und Körper gesegnet sind, von Menschen, die den großen Traum leben, die das Leben leben, das wir gern leben würden.

Jeder scheint für Monate und Jahre die Welt zu bereisen. Jeder scheint trotz überraschend jungem Alter schon die große Liebe gefunden zu haben. Jeder scheint ganz leichtfüßig die eigenen Lebensträume wahr werden lassen zu können. Jeder scheint mit einem makellosen Körper am Strand zu liegen. Jeder scheint bis zum Morgengrauen auf Dachterrassen über New York und Paris zu feiern.

Tagtäglich prasseln diese Eindrücke auf uns ein und lassen uns schnell denken, wir seien weniger schön, weniger erfolgreich, weniger geliebt, weniger liebend, weniger liebenswert, weniger abenteuerlustig und weniger glücklich. Es verleitet uns, zu glauben, unser Leben wäre weniger toll als das der anderen.

Es ist nicht so, dass wir die Armut und das Leiden auf der Erde nicht sehen. Es ist nicht so, dass wir nicht wissen, dass Millionen von Menschen auf diesem Planeten ein Leben führen, gegen das wir unseres niemals eintauschen würden. Doch irgendetwas in unserem Kopf bringt uns dazu, unser Leben mit den perfekten Momenten zu vergleichen, die wir bei denen sehen, die den Traum leben.

Wenn wir ehrlich sind, wissen wir, dass dem letzte Satz etwas fehlt. Er müsste lauten: „… die den Traum scheinbar leben.“ So läuft das eben auf Facebook, Twitter, Instagram und Co. Wir teilen sehr selektiv nur die guten Momente. Oft sind die Worte und Bilder von den guten Momenten besser als der Moment eigentlich war, weil man durch die Wahl der Perspektive ganz bewusst einen unerwünschten Teil der Realität weggelassen hat.

Wir sehen nicht, wie das scheinbar perfekt Paar sich streitet, denn wer fotografiert schon einen Streit? Wir sehen nicht die verregneten Tage des scheinbar perfekten Traumurlaubs. Wir sehen nicht, wie viel Schweiß und Verzicht hinter dem scheinbar perfekten Körper stecken und wir sehen auch nicht, dass die Person selbst gar nicht zufrieden ist, weil sie sich selbst viel kritischer betrachtet, als wir es tun.

Wir sehen nicht, wie viel Arbeit hinter dem scheinbar einfach zugeflogenen Erfolg einer Person steckt. Noch viel weniger sehen wir, dass vielleicht ein geliebter Mensch dieser Person an einer schlimmen Krankheit leidet und die Person ihren Erfolg ohne mit der Wimper zu zucken für das Genesen des geliebten Menschen eintauschen würde. Wir sehen nicht, dass der Mensch, der die Welt bereist, vielleicht in der Schule gemobbt wurde oder andere Probleme mit sich selbst hat.

Weil all diese Dinge für uns verborgen bleiben. Weil jeder nur die besten Momente teilt und die dann meist auch noch besser aussehen als sie wirklich waren. Wir alle wissen, dass jeder nur die guten Momente zeigt und wir wissen, dass Fotos und Texte die Macht haben, Dinge weit besser darzustellen als sie eigentlich sind. Tief in uns wissen wir, dass alle anderen auch Probleme haben.

Aber wir tricksen uns selbst aus, wir verschließen die Augen vor diesem Wissen und glauben den perfekten Illusionen, die wir jeden Tag zu Gesicht bekommen. Wir vergleichen unser Leben mit ihnen und selbstverständlich hat unser Leben keine Chance, mit einer Collage aus perfekten Illusionen mitzuhalten.

Unsere Generation wächst mit dem Gedanke auf, dass alles möglich ist, dass man nur viele Follower und Likes sammeln muss, um die Welt zu bereisen und nie arbeiten zu müssen. Und jeder wird uns lieben und wir werden glücklich sein. Für immer.

Selbstredend ist das nicht die Realität – und eigentlich wissen wir das auch. Die meisten müssen sehr hart dafür arbeiten, ihre Ziele zu erreichen und selbst eine neunstellige Follower-Zahl macht nicht automatisch glücklich. Selbst eine Reise zur anderen Seite der Welt macht nicht automatisch glücklich.

Ich habe das getestet. Vor Kurzem war ich für zwei Monate auf einem Roadtrip durch die USA. Wir haben in einem Van gelebt und jeden Tag wunderschöne Orte gesehen. Ich habe Bilder auf Facebook und Instagram geteilt und bekam unzählige Nachrichten von jungen Menschen, die mir erzählten, wie neidisch sie seien, dass ich diesen Traum leben darf.

Versteht mich nicht falsch: Es waren zwei der besten Monate meines Lebens und ich schätze mich sehr glücklich, diese Chance bekommen zu haben, aber es gibt so vieles, das man von außen nicht sieht. Niemand sieht, wie ich hinter den Fotos von schönen Orten und schönen Momenten manchmal auch unglücklich war, weil ich unglaublich unzufrieden mit den in dieser Zeit entstandenen Fotos war. Keiner sieht die Streits, die eben passieren, wenn man zwei Monate lang jede Minute zusammen auf engstem Raum verbringt. Keiner sieht, dass so eine Reise plötzlich ganz viel Zeit und Raum im Kopf für Zukunftsängste und Selbstzweifel lässt.

Tatsächlich waren die glücklichsten Momente die ganz kleinen. Die, für die man gar nicht unbedingt zur anderen Seite der Welt reisen muss. Ich denke daran, wie ein Freund mich auf einer Schaukel angeschubst hat. Wie wir morgens auf einem kleinen Campingkocher Pfannkuchen gemacht haben. Wie wir uns an den Händen gehalten haben. Wie ich ein tolles Gespräch mit einem Freund hatte, während wir beide in Schaukelstühlen schaukelten. Wie wir zusammen Musik gemacht haben. Wie wir die Welt aus einem Baumhaus heraus betrachtet haben.

Mir wurde auf dieser Reise klar, dass diese Menschen, die immer sagen „Es sind die kleinen Dinge…“ tatsächlich recht haben. Letztendlich will ich wohl nur sagen, dass wir aufhören sollten, unser Leben mit perfekten Illusionen zu vergleichen. Am besten wäre es wohl, gar nicht zu vergleichen – manche mögen das können – doch für die meisten von uns ist das ein eher unmögliches Unterfangen.

Also sollten wir für den Anfang versuchen, uns daran zu erinnern, dass sich hinter den perfekten Illusionen auch Probleme verstecken. Wir sollten uns klarmachen, dass perfekte Illusionen eben doch nur Illusionen sind. Wir sollten nach den kleinen Dingen suchen, statt dem großen, strahlendem Perfekt hinterher zu laufen.

Denn perfekt gibt es nicht! Ich behaupte nicht, dass es einfach wird. Aber ich denke, es ist einen Versuch wert, weil es uns ziemlich sicher sehr viel zufriedener machen wird.