27. Juni 2015 Lesezeit: ~6 Minuten

Gestrandet

Wie eine Fotoserie mir geholfen hat, als ich körperlich am Ende war

Eine Welle der Erschöpfung hat mich kürzlich überrollt. Völlig unerwartet und ohne Ankündigung. Vielleicht war ich unaufmerksam und hätte die Anzeichen bemerken können. Ich weiß es nicht. Sie überrollte mich mit einer Wucht, die ich vorher nicht kannte, hat mir buchstäblich den Boden unter den Füßen weggerissen, meine Sinne verwirbelt und mich wieder ausgespuckt.

Glücklicherweise hatten alle für meinen Zustand Verständnis: meine Familie, meine Freunde, meine Kunden. „Ruh dich aus. Erhol dich!“ Das klang fast wie ein Imperativ. Und dem folgte ich gern, es blieb mir auch nichts anderes übrig. Ich habe viel geschlafen, fühlte mich gestrandet und wartete auf Sonne, die mich wärmt. Für mehr hatte ich keine Kraft, nicht einmal für ein Lächeln. Meine Familie hat das verstanden und ich danke ihr von Herzen dafür.

Eine verschwommene Frau bedeckt mit dem Arm ihr Gesicht

Was ich aber plötzlich hatte, war Zeit, die mir im Alltag fehlt, wenn ich in all meinen Rollen aufgehe und funktioniere. Plötzlich hatte ich Zeit, stundenlang auf ein leeres Blatt zu starren und meine Gedanken und Sinne zu sammeln. Und ich habe festgestellt: Wenn ich wirklich erschöpft bin und mich auf meine Sinne konzentriere, kann ich bis auf den Grund meiner Seele schauen.

Klingt pathetisch, oder? Genau so hat es sich angefühlt. Ich habe in dieser Zeit viele Dinge hinterfragt und Neues über mich erfahren. Das war ein positiver Aspekt dieser erzwungenen Auszeit. (Ja, ich sehe und betone gern das Gute in den Dingen. Ich glaube nämlich, dass das auf uns abfärbt.)

Ich fing also an, Tagebuch zu schreiben. Beim Schreiben kam das Bild des Gestrandetseins immer wieder zutage. Und so habe ich am vierten oder fünften Tag ein Foto davon gemacht. Es war der Versuch, meinen entkräfteten Zustand auszudrücken. In der Bearbeitung habe ich die Körnung maximal hoch gesetzt und auf hell umgekehrt. Das habe ich vorher noch nie getan. Es hatte den Effekt, dass das Bild kreidig und zerbrechlich wirkte. Eine düstere Stimmung hätte für mich nicht gepasst.

Eine verschwommene Frau

Als das Bild fertig war, habe ich geweint und beschlossen, jeden weiteren Tag ein Foto zu machen, bis ich wieder auf den Beinen bin. Daraus ist die Serie „Gestrandet“ entstanden, die insgesamt acht Farben enthält. Dass jeder Tag eine eigene Farbe bekommen hat, hat sich im Laufe der Serie ergeben.

Das erste Bild in Mauve war Zufall: Ich trug ein mauvefarbenes Schlafkleid, nahm eine Decke und legte mich damit in die Badewanne. Das farbliche Ergebnis der Nachbearbeitung hat mich fasziniert, das Bild erinnerte mich an zarten Kreidestrich, den ich bei jedem folgenden Bild herausgearbeitet habe. Der zweite Tag bzw. die zweite Farbe war kein Zufall mehr. Ich wollte den Kontrast zum ersten Bild durch eine möglichst komplementäre Farbe.

Eine verschwommene Frau mit Haaren über dem Gesicht.

Auch mein allgemeiner Zustand und meine Stimmung spielten bei der Entscheidung eine Rolle und so habe ich nicht nur eigene Kleidung verwendet, sondern auch Kleidung meiner Kinder und meines Mannes. An einem Tag habe ich einen Ausreißer zugelassen und zwei Farben getragen: Rot und Blau. Da Rot jedoch eine so starke und symbolische Farbe ist, hat es das Bild nicht in die Serie geschafft.

Mir war wichtig, dass ich erkennbar und doch nicht unmittelbar erkennbar bin. Deshalb spielen Hände und Haare eine wichtige Rolle. Sie schützen meine verletzliche Seite und anonymisieren mich. Ich glaube, dass der Betrachter dadurch einen leichteren Zugang zu den Bildern hat und sich, wenn er diesen Zustand kennt, darin wiederfinden kann. Die lange Belichtungszeit und die nachgezogene Bewegung tragen ebenfalls zur Anonymisierung bei und machen deutlich, dass ein Gefühlszustand nie ein einziger Augenblick ist.

Eine verschwommene Frau in Blau

Am dramatischsten war für mich der blaue Tag. An diesem Tag hatte ich einen emotionalen Einbruch, weil ich mich gegen die Erschöpfung wehren wollte, aber nicht konnte. Ich fühlte mich blue, im Sinne von trügsinnig. Eine Freundin, der ich die Bilder gezeigt habe, fühlte sich vom blauen Bild an Ophelia erinnert. Ich möchte mit den Bildern niemanden traurig machen. Sie unterscheiden sich sehr von den Bildern, die ich sonst so mache. Aber auch das ist eine Seite von mir. Und ich habe sie erst kürzlich kennengelernt.

Die Serie hat mir geholfen, in diesen Tagen eine Struktur zu finden. Jeden Tag habe ich mich auf das Foto gefreut, habe mich mit dem Gefühl und der Farbigkeit meiner Stimmung auseinandergesetzt und dann das Bild aufgenommen. Danach war ich jedes Mal wie beflügelt. Die Beschäftigung mit der Fotoserie hat mir Kraft gegeben – so, als würde ich etwas in mich hineinschöpfen. Ich möchte mit den Bildern andere ermutigen, den Zustand von Schwäche anzunehmen und zum Besten zu wenden, wenn die Kraft es zulässt.

Eine verschwommene Frau.

Für mich persönlich ist die Serie eine Erinnerung: Sie zeigt mir, dass ich schöpferisch sein kann (im Sinne von create), auch wenn ich erschöpft bin. Und sie erinnert mich daran, dass ich noch mehr in mich hineinhorchen muss. Denn im Rückblick ist es nicht verwunderlich, dass ich von einer Erschöpfungswelle überrollt wurde: Ich hatte über einen längeren Zeitraum eine Doppelbelastung, die ich zwar als solche wahr-, aber nicht ausreichend ernstgenommen habe.

Solche Zeiten gibt es bei jedem – sei es durch Krankheit, Kitastreik, Arbeitsbelastung oder sonst etwas. Der Lerneffekt für mich ist, dass ich meine Grenzen noch mehr respektiere. Und dass ich mich mit Leidenschaft und Ernst der Fotografie widme. Denn Leidenschaft ist ein Ladekabel und schenkt Kraft, wenn der Akku alle ist.