24. Juni 2015 Lesezeit: ~7 Minuten

Testbericht: Zeiss Otus 85 mm f/1.4

Die Marke Zeiss steht bei Objektiven ja schon seit jeher für Prestige und Qualität. Mein 50 mm f/1.4 Planar* zaubert den meisten Fotografen sofort ein neidisches Lächeln auf das Gesicht. Der Effekt kommt natürlich unter anderem auch davon, dass die normalen Zeiss-Linsen im Preissegment einer typischen Canon-L-Linse liegen, also jenseits von 1.000 € beginnen (mal abgesehen vom oben genannten 50mm f/1.4). Vor allem bekommt man bei Zeiss aber auch einfach entsprechend gute Technik.

Während man nach wie vor bei jeder Linsen vergeblich nach einem Autofokus sucht, hat man ein wundervoll wertig gearbeitetes Stück Metall in der Hand. Einen langen und butterweichen Fokusweg und ein legendäres Bokeh.

Zeiss Ikon

1/160 s, f/1.4, ISO 800

© Christopher Wesser

Dieses hohe Ansehen war aber offenslicht noch nicht genug für Zeiss. Sie mussten noch eins draufsetzen und entwickelten mit der Otus-Reihe eine neue Linie an Festbrennweiten, die im Anwendungsbereich der Consumer-Spiegelreflexkameras ein komplett neues Preisfeld erschließt. Wer das nötige Kleingeld hat, bekommt für 3.500 € das Zeiss Otus 55 mm f/1.4* bzw. für 4.000 € das Zeiss Otus 85 mm f/1.4*.

Erst einmal sticht einem nur der Preis ins Auge. Eine maximale Blende von f/1.4 bekommt man nämlich schon für weniger Geld. Die große Frage ist also, worin sich diese neuen Premium-Schmuckstücke von den günstigeren Alternativen unterscheiden.

Ich hatte das Glück, das 85 mm Otus ein paar Wochen lang testen zu können und konnte mir selbst ein Bild des neuen Flagschiffs machen. Vom ersten Moment an fällt auf, dass die Präsentation und Verpackung des Objektivs so gestaltet wurden, dass das Auspacken zu einem fast schon emotionalen Erlebnis wird.

Herbstwald

1/160 s, f/8.0, ISO 100

Die eigentliche Box befindet sich in einem Papp-Schuber. Schiebt man die Box heraus, wird man von einem simplen Satz begrüßt: „Für diesen Moment arbeiten wir.“ Das hat gesessen. Kein Zweifel, dass in diesem Produkt ganz viel Leidenschaft, Schweiß und unzählige Entwicklungsstunden stecken. Über einen Magnetverschluss lässt sich die Box öffnen, die den Blick auf das in blauem Schaumstoff gebettete Objektiv freigibt. Es schreit förmlich nach einem Unboxing-Video für YouTube und ja: Es gibt tatsächlich welche.

Aber nun zum eigentlich Objektiv. Das Offensichtliche: Es ist groß. Es ist wahnsinnig groß. Und schwer! Man hat wohl gar nicht erst versucht, etwas Handliches zu konstruieren. Zeiss möchte, dass Ihr für Euer Geld ein Maximum an Material in der Hand haltet. In gewohnter Qualität besteht das komplette Objektiv aus Metall. Der Fokusring aus glattem Gummi bettet sich perfekt in das Objektiv ein und selbst die Gegenlichtblende führt das Design nahtlos weiter und rundet das Bild des Objektivs wundervoll ab.

Oldtimer

1/125 s, f/1.4, ISO 1000

© Christopher Wesser

Es ist ein Objektiv mir sehr klaren Linienführungen und Kurven. Ihr kennt diese Kaffeetassen, die aussehen wie Objektive? Ich hätte gern eine vom Zeiss Otus 85 mm, sie wäre der absolute Eyecatcher in meiner Wohnung. Der Fokusring lässt sich gefühlt zwei Mal komplett um das Objektiv drehen und lässt das Scharfstellen dadurch so präziese vonstattengehen, wie ich es vorher noch nie gesehen hatte.

Meine 6D hat mir fast etwas leid getan. Ist sie doch eigentlich eher kleinere und leichtere Festbrennweiten gewöhnt. Jetzt sah sie ein bisschen so aus wie die Spiegelreflexkameras, die hinter Teleskope gespannt werden.

Bildtechnisch fiel mir von Anfang an die Schärfe bei Offenblende auf. Wenn ich ehrlich bin, musste ich schon öfter mal die Nase rümpfen, wenn ich mein 50 mm f/1.4 bei Offenblende verwendete, aber das wurde in einem anderen Testbericht bereits ausgiebig behandelt. Das Otus 85 mm f/1.4 ist absolut scharf.

Portrait einer jungen Frau

1/250 s, f/2.0, ISO 400

© Christopher Wesser

Die Details bei Offenblende sehen aus wie bei anderen Objektiven, die auf Blende 11 abgeblendet sind. Diese Schärfe hat bereits beim Fotografieren einen extrem positiven Effekt: Das Fokussieren wird dadurch zu einem Kinderspiel. Die Bildschärfe des Objektivs ist selbst durch den Sucher so offensichtlich, dass sich der scharfgestellte Bereich deutlich vom Rest abhebt und Fehler beim Fokussieren nahezu ausgeschlossen sind.

Selbst einzelne Haare oder feine Strukturen „knallen“ einfach. Zeiss erreicht hier eine Schärfe, die ich so tatsächlich noch nicht gesehen habe. Selbst mir als erfahrener Festbrennweiten-Benutzer ist ein „Wow…“ rausgerutscht, als ich die Bilder das erste Mal auf meinem Rechner angesehen habe.

Äste einens Baumes

1/4000 s, f/1.4, ISO 100

Die zweite große Stärke des Objektivs: Die Unschärfe. Zeiss hat schon immer Bokeh-Fetischisten befriedigt, aber beim Anblick der malerischen Unschärfe des Otus 85 mm wird jedem Fotografen das Herz schmelzen. Vor allem bei Gegenlicht wirken die Hintergründe schon fast wie flüssige Farbe, die über das Bild läuft. Manchmal kann das aber auch etwas zu viel des Guten sein.

Vor allem, wenn man tatsächlich gar nicht mehr erkennt, ob das Bild gerade in einem Wald oder irgendwo mitten in der Milchstraße aufgenommen wurde. Etwas abgeblendet schafft das Objektiv ein wesentlich definierteres Bokeh, das trotz vieler Objekte noch eine schöne Hervorhebung des Motivs ermöglicht.

Ein gefrohrener Wasserfall

1/1000 s, f/1.4, ISO 200

Eiszapfen

Ja, man bekommt für sein Geld schon sowohl oberflächlich als auch von der Bildqualität her absolut das geboten, was man erwartet. War ich deswegen sehr wehmütig, als ich die Linse wieder zurückschicken musste?

Nein, absolut nicht. Trotz zahlreicher offensichtlicher Stärken fehlte dem Objektiv ein Feature, das für mich persönlich essentiell ist: Reisetauglichkeit. Ich verdiene mein Geld mit dem Fotografieren von Hochzeiten und in meiner Freizeit dokumentiere ich Reisen und Menschen um mich herum.

Junge Frau im Gegenlicht

1/400 s, f/1.4, ISO 200

© Christopher Wesser

Für meine Anwendungsgebiete würde ich das Otus 85 mm f/1.4 definitiv ausschließen. Das Gewicht ließ meine Arme schon nach ein paar Minuten ermüden und man kann seine Kamera damit auf keinen Fall „einfach so“ mal in einer Tasche mitnehmen. Diese Linse fordert von seinem Besitzer Platz und Muskelkraft. Es ist sehr dominant, es will sich präsentieren und ist deshalb auch nichts für Fotografen, die unbemerkt authentische Momente festhalten wollen.

Für Fotosessions, die kein langes Tragen der Kamera oder weite Wege beinhalten, ist es aber das perfekte Werkzeug. Ich würde es jederzeit für ein Werbe-Shooting, eine Studio-Session oder auch Lifestyle- bzw. Food-Fotos verwenden. Dann würde ich aber gleichzeitig auch einen Assistenten neben mir stehen haben, der die Kamera halten muss, wenn ich gerade nicht fotografiere.

Für meine Anwendungsgebiete ist das Objektiv nicht nur zu schwer, sondern auch zu schade. Es würde mir das Herz brechen, wenn ich die glatte Metalloberfläche an einem Ast zerkratzen oder auf einer Parkbank im Freien ablegen würde.

Zeiss bietet mit dem Otus 85 mm praktisch perfekte Bildqualität für Fotografen, die mit hohen Budgets arbeiten und keine Angst vor manuellem Fokussieren haben.

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